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Conor Oberst im Jahre 2014
„Wenn ich drei Wochen lang keine Interviews geben muss, habe ich drei Wochen mehr Zeit, ein neues Album zu machen“ sagt Conor Oberst. Er entschlackte sein Leben hör- und sichtbar und präsentiert mit „Ruminations“ nun ein tief gründendes Folkalbum, das mehr auf Authentizität und Charakter setzt als auf modischen Chic und sorgsam polierte Oberflächen.

Conor Oberst Ruminations – CD der Woche 41/2016

LowBeats Autor Christof Hammer hat Auge und Ohren in allen Musik-Genres und stellt bei uns jede Woche ein besonders hörenswertes Album vor. Die LowBeats CD der Woche 41 kommt von Conor Oberst, dem Ehrenvorsitzenden der Americana-Bewegung. Conor Oberst Ruminations ist ein vollendet „Dylan-eskes“ Folkalbum, das den seichten und seelenzerstörenden Zeitgeist des @-Zeitalters mit beachtlichem Tiefgang kontert.

Schon witzig: Da bekommt Bob Dylan dieser Tage den Literatur-Nobelpreis; aus Sicht der Popkultur ein Meilenstein; aus Sicht mancher Literaturexperten, die sich eher „klassischen“ literarischen Kriterien verpflichtet sehen, ein Fehlurteil (recht haben auf ihre jeweils eigene Weise übrigens beide Lager: Die Entscheidung bleibt eine Frage der Perspektive und der individuellen Wahrheit, und davon gibt es bekanntlich mehrere) – und plötzlich ist sie wieder da, die Frage nach dem „nächsten Dylan“.

Akut ist dieses Thema zwar nicht; das Original ist schließlich noch recht rüstig und, wie zuletzt mit seinen Annäherungen an die Lieder des Great American Songbook bewiesen, für allerlei überraschende Perspektiven und individuelle Wahrheiten gut. Zudem herrscht an Männern mit Gitarre derzeit ja wahrlich kein Mangel.

Conor Oberst im Jahre 2014
Lange Jahre lebte Conor Oberst im Big Apple und äußerlich wie innerlich sozusagen im „New York State of Mind“. Aber …

Allerdings: Der Unterschied zwischen dem originalen Sound der frühen 1960er Jahre und dem clever gestylten Neo-Folk Baujahr 2000ff ist halt ähnlich groß wie der zwischen dem wirklich alten Interieur aus vergangenen Zeiten und jenen nachgebauten Vintage-Möbeln, mit denen die „Landlust“-Fraktion derzeit so gerne ihre Chalets bestückt.

Die Farben, die Gerüche, die Geräusche, die alten Stühlen, Schränken, Tischen, Sofas innewohnen: So riecht und klingt der „real stuff“ – da braucht das auf Retro getrimmte Zeug von Mirabeau & Co. noch ein, zwei Jahrhunderte, bis es dieses Charisma intus hat.

„Real stuff“ kommt nun auch von einem guten Bekannten, der mit etlichen seiner vielen Bandprojekte – man denke an Bright Eyes und die Mystic Valley Band – schon bislang einige profunde Kapitel im Almanach der Americana-Musik geschrieben hat.

Und nebenher mit seiner Neopunk-Band Desaparecidos und dem 2015er-Album Payola ein kerniges Politrock-Statement, wie geschaffen für Anti-TTIP-Demos und das nächste Meeting der örtlichen „Occupy“-Gruppe.

Das neue Soloalbum von Conor Oberst Ruminations ist in Schlagdistanz zum Stil von „His Bobness“, schon lange hat niemand mehr musiziert wie der Barde aus Nebraska. Die typische Mundharmonika, eine leicht skurril gezupfte Akustikgitarre – alle Basiszutaten des zu seinen frühen Zeiten ja nicht allzu komplexen Zimmermann’schen Musikkosmos sind vorhanden auf Ruminations.

Auch in punkto Gesang liegen zwischen Obersts nicht übermäßig ausdifferenziertem Gesang und Dylans markantem Mecker-Timbre keine Welten. Wenn es um die Frage Belcanto contra Ausdruck geht, dürfte klar sein, wie die Sache läuft.

Conor Oberst Ruminations (auf Deutsch in etwa: Grübeleien, der Prozess der Nachdenklichkeit) fügt aber noch ein klein wenig mehr hinzu, allem voran ein wunderbar altertümliches, leicht besoffen klingendes Klavier, das ungefähr so viele Jahre auf dem Buckel haben dürfte wie Bob Dylan selbst – kein mondäner Luxusflügel, sondern, siehe oben, „real old stuff“.

Entstanden ist Ruminations in Omaha/Nebraska, Obersts Heimatort, in den er – gestresst und ein Stück weit auch gelangweilt von seinem langjährigen Aufenthalt in New York – vergangenes Jahr zurückgezogen ist.

„New York ist spannend, einzigartig, und ich werde diese Stadt immer lieben“, erzählt der inzwischen 36-jährige Singer-Songwriter. „Aber meine Frau und ich sprachen schon seit längerem darüber, einmal von dort wegzugehen. Es ist einfach lächerlich, welche Mietpreise man mittlerweile für ein halbwegs angenehmes Appartement zahlen muss, erst Recht, wenn man als Musiker ohnehin das halbe Jahr nicht zu Hause ist.
Und die Freude darüber, dass man sich jeden Abend locker ein Dutzend interessante Shows ansehen könnte, verliert auch irgendwann ihren Reiz. Stattdessen saß ich immer häufiger daheim und fragte mich: Warum bist du hier? Warum versuchst du ausgerechnet an einem der stressigsten Orte der Welt die Ruhe und Konzentration zu finden, die du für deine Arbeit brauchst? Als dann eben offensichtlich wurde, dass ich es mit dem Stress ganz grundlegend übertrieben hatte, fiel die Entscheidung nicht mehr schwer, auch Grundsätzliches an meinem Leben zu verändern“, erklärt er seine Rückkehr nach Omaha; mit 400.000 Einwohnern zwar auch nicht gerade eine kuschelige Kleinstadt, aber immer noch um den Faktor 20 kleiner als eben der Big Apple.

Dort erwartete ihn ein bemerkenswert kalter Winter, der erst einmal eine kapitale Schreibblockade bewirkte, ehe dann – man ist schließlich Musiker – doch noch der kreative Funke übersprang und zu den zehn Songs von Conor Oberst Ruminations führte: aufgenommen binnen gerade mal zwei Tagen in authentischem, bisweilen fast rudimentärem Klang.

„In dem Moment, wo ich begonnen hätte, mir Gedanken über Instrumentierung, Sound und Produktion dieser Songs zu machen, hätte ich sie in ein Konzept gepresst und mit bewussten Entscheidungen verwässert oder gar ruiniert“, kommentiert Oberst. „Darum fand ich, dass die Musik so archaisch und ursprünglich bleiben und klingen sollte, wie sie entstanden ist. Das Schöne an Omaha ist, dass ich hier mein eigenes Studio hinten im Garten habe. Also ging ich eines Nachts rüber, mikrofonierte Piano und Gitarre und spielte alle Songs der Platte innerhalb von 48 Stunden ein.“

Conor Oberst Ruminations  – im Wesentlichen ein Krisenalbum

Herausgekommen ist dabei viel mehr als nur ein „Stadtflucht-Album“ – nämlich ein Album, das in der Tradition von Springsteens Nebraksa auf leise, intime Machart einen expliziten Kontrapunkt zum „Way of Life“ des Digitalismus setzt. Obersts nackte, reduziert dylaneske, so private wie hochpolitische Lieder passen definitiv nicht in die „@-Gesellschaft“ unserer Tage – und berühren gerade deshalb fast ebenso stark wie die frühen Dylan-Werke aus den Sixties.

Dass Conor Oberst Ruminations (man bedenke den Albumtitel) in wesentlichen Teilen ein Krisenalbum ist, ein grüblerisches, bisweilen selbsttherapeutisches Werk eines Mannes, der eine schwierige Phase in der Mitte seines Lebens durchlebt, rückt diese Disc dann auf einer ganz anderen Ebene an den Hörer heran.

Wer in den 1970er-Jahren oder davor geboren ist, wird vielleicht relativ genau wissen, wie es sich anfühlt, wenn man glaubt, aus der Welt, aus der Zeit zu fallen, die Zentren seines Lebens zu verlieren, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein und Zweifel an der eigenen Stärke und dem letzten Quäntchen Grundvernunft dieser Welt zu empfinden.

Conor Oberst vertont diese Gefühle hier so direkt wie möglich, so reflektiert wie nötig – nach einem harten Winter und vielen Wintern zuvor, in denen sich derlei Gedanken und Emotionen mit langsamem Anlauf an seine Seele herangeschlichen haben.

Jeder, der dergleichen noch nicht erleben musste, darf dieses Album gerne als antiquiert, oldfashioned empfinden und sich davon in seiner momentanen Lebenssituation wenig bis kaum angesprochen fühlen. Und wird Ruminations zu gegebener Zeit aber als ein Songbook entdecken, das wärmt wie ein Lagerfeuer in einem langen dunklen Winter.

Conor Oberst Ruminations – das Cover
Conor Oberst Ruminations (Cover: Amazon)

Conor Oberst Ruminations gibt es als Audio-CD, Vinyl LP und MP3-Download. Label: Nonesuch / Warner Music

Conor Oberst Ruminations
2016/10
Test-Ergebnis: 3,5
 GUT
Bewertung
Musik
Klang
Repertoirerwert

Gesamt

Autor: Holger Biermann

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Chefredakteur mit Faible für feinste Lautsprecher- und Verstärkertechnik, guten Wein und Reisen: aus seiner Feder stammen auch die meisten Messe- und Händler-Reports.