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Hanna Leess Dirty Mouth Sweet Heart
Musik wie von Joni Mitchell oder Edie Brickell: Hanna Leess mischt mit "Dirty Mouth Sweet Heart" die Folk-Szene auf

Hanna Leess Dirty Mouth Sweet Heart – CD der Woche 37/16

LowBeats Autor Christof Hammer stellt bei uns jede Woche besonders hörenswerte Alben vor. Die LowBeats CD der 37. Kalenderwoche ist Hanna Leess Dirty Mouth Sweet Heart.

Die Singer-Songwriterin von der Nordostküste wuchs mit amerikanischer „roots music“ von Folk bis Blues auf – und mit den Beatles natürlich. Derzeit lebt sie in Berlin und inhaliert die urbane Atmosphäre der Hauptstadtszene.

All diese Einflüsse addieren sich zu einem eindrucksvollen Debütalbum. Hanna Leess Dirty Mouth Sweet Heart bringt Folkrock 2.0 – so authentisch wie möglich, so durchproduziert wie nötig.

Authentizität, dieses Zauberwort für die Gegenbewegung zur immer virtuelleren „Realität“ unserer Zeit: Was steckt dahinter, was ist es wert? Was ist heute noch wirklich authentisch, wirklich „echt“ und wahrhaftig?

Im Windschatten des immer stärker sich beschleunigenden Digitalismus wächst die Sehnsucht nach Dingen mit Wurzeln statt mit Touchscreens eigentlich permanent – doch wer sich auf die Suche danach begibt, bekommt eine Warenwelt vorgesetzt, in der von den Jeans bis zur Wohnzimmereinrichtung so ziemlich jedes Lifestyle-Produkt künstlich gealtert wird, eine vermeintlich authentische Vintage-Patina übergebraten bekommt.

Auch und gerade im Popbusiness ist Authentizität quasi ein Ding der Unmöglichkeit: Von der Fotosession bis zum Soundmix wird hier meist jeder Schritt des Produktionsprozesses akribisch auf einen genau definierten Zweck hin geplant.

Es sei denn, man geht die Sache so an wie Hanna Leess. Länger als ein gutes Viertelstündchen genehmigt sich diese amerikanische Musikerin nur selten für das Verfassen eines Songs.

„Ich bin eine sehr intuitive Person“, erläutert die Singer/Songwriterin aus Norwalk, Connecticut. „Allein durch die Limitierungen, die mich beim Musizieren oft umgeben, entsteht eine Notwendigkeit, rein aus dem Bauch heraus zu arbeiten. Ich mag diese Beschränkung, denn sie führt mich zum Kern meines künstlerischen Wesens“.

Spontaneität ist bei Hanna Leess dabei genauso Mittel zum Zweck künstlerischer Direktheit wie auch Lebensprinzip. Derzeit lebt sie in Berlin, und die Art, wie sie dort hinkam, erzählt viel über sie.

„Mein Freund bekam einen Job auf einem Schiff in der Antarktis“, erzählt sie, „und für eine Abenteurerin wie mich klang das natürlich großartig. Das Schiff und der Job endeten dann in Island, und weil wir doch schon mal in der Nähe waren, hängten wir eine Europareise dran: sehr basic, mit Rucksack und privaten Übernachtungen“.

Bei einem Zwischenstopp in Berlin bekam sie das Angebot, vier Shows in der Hauptstadt zu spielen, „und am vierten Abend war es so voll und das Publikum war so begeistert, dass ich spontan entschied, zu bleiben. Ernsthaft: Ich hatte keine Ahnung, was ich da tue, und ich kann noch nicht einmal genau sagen, was genau mich an Berlin so berührt hat. Es fühlte sich einfach nur richtig an.“

Hanna Lees Dirty Mouth Sweet Heart  –  Ohne künstliche Aromastoffe

Diese Direktheit atmet nun auch Leess’ bemerkenswertes Debütalbum. Entstanden istHanna Lees Dirty Mouth Sweet Heart zu weiten Teilen im Proberaum eines ihrer Musiker sowie in einer Berliner Privatwohnung, aufgenommen wurde mit mobilem Equipment, abgemischt in den Golden Retriever Studios, einer Location, die man schon alleine ihres Namens wegen lieben muss.

So entstand ein elf Songs starkes musikalisches Tagebuch voller Folk, Blues und Soul: so direkt und authentisch wie möglich, so modelliert und ausgestaltet wie nötig.

Früh entdeckte sie die Beatles für sich, später kamen Jazz- und Soulcracks wie Chet Baker, Nina Simone und Marvin Gaye hinzu. Dieses Flair der Sixties und Seventies verklebt Hanna Leess mit dem Indietum der Gegenwart – ein reines „flower power kid“ ist sie nämlich keineswegs.

In „Punk Love“ dürfen dezent ein paar bratzige Gitarren dengeln, sparsame Elektronik sorgt in „Know How To Run“ für eine entrückt-chansoneske Stimmung mit leichtem Twin-Peaks-Flair, und „My God Knows How To Cry“ klingt so, wie eine Amy Winehouse vielleicht den Folk gesungen hätte, wäre sie nicht vom Schicksal zur ersten großen Soulstimme der 2000er-Jahre vorbestimmt gewesen.

Fixstern in diesem musikalisch so homogenen wie in den Details wunderbar abwechslungsreichen Klangkosmos: Hannas Stimme, brüchig, herb, extrovertiert – ein Organ mit Kanten und Charisma.

„Als ich jünger war, hieß es immer, dass meine Stimme entsetzlich klänge – und sie war zugegeben auch nicht richtig schön“, erinnert sich Hanna.

„Ich hatte schon immer dieses etwas dunkle, rauchige Timbre, nur klang es früher eher brüchig, trocken und wenig feminin. Ich denke, das ist der eigentliche Grund, warum ich bereits als Kind ununterbrochen gesungen habe: Ich wollte einfach so lange und viel singen, bis meine Stimme irgendwann schön klingt.“

Okay, Belcanto singt sie auch heute noch nicht. Wer Vergleiche braucht, darf an den Neuseeländer Graham Candy denken, der den Alle-Farben-Song „She Moves (Far Away)“ zum Sommerhit des Jahres 2014 machte.

Ansonsten erinnert Dirty Mouth Sweet Heart ein wenig an Folk-Ladies wie Edie Brickell und Joni Mitchell, rumpelt mit Kontrabass und E-Gitarre schön (haupt-)städtisch erdig und wird zugleich ganz subtil von leisem Laurel-Canyon-Feeling umweht – dem Lebensgefühl jener Schlucht nahe San Francisco, die in den 1970er-Jahren Musikern wie Carole King, Jim Morrison und Eric Burdon den Freiraum für eine Künstlerexistenz jenseits amerikanischer Bürgerlichkeit bot.

Der Klang dazu? Mal eher eng wie in „Rainbows“ mit feinem Fingerpicking auf der Akustikgitarre, mal schön räumlich wie in „Know How To Run“ – aber immer ohne künstliche Aromastoffe und Geschmacksverstärker.

Hanna Leess Dirty Mouth Sweet Heart
„Ich bin wirklich kein Fan von Musik, der man anhört, dass sie in einem teuren Studio hochproduziert wurde“, sagt Hanna Leess. „Ich möchte, dass man die Echtheit jedes Songs unmittelbar spürt, dass es so organisch klingt wie in dem Moment, wo der Song entstand.“ Mit dieser Haltung macht sie ihr Albumdebüt zu einem feinen Stück Authentizität in zunehmend virtuellen Zeiten. Und sehr ordentlich klingt Hanna Leess Dirty Mouth Sweet Heart obendrein (Foto: H. Caspar)

Hanna Leess Dirty Mouth Sweet Heart erscheint bei cntct/PIAS (Vertrieb: Rough Trade) und ist erhältlich als Audio-CD, Vinyl LP+CD-Set sowie als MP3-Download.

Hanna Leess Dirty Mouth Sweet Heart
2016/09
Test-Ergebnis: 4,0
SEHR GUT
Bewertung
Musik
Klang
Repertoirerwert

Gesamt

Autor: Holger Biermann

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Chefredakteur mit Faible für feinste Lautsprecher- und Verstärkertechnik, guten Wein und Reisen: aus seiner Feder stammen auch die meisten Messe- und Händler-Reports.