Wie kann das denn sein? In ihrer Heimat ist die französische Band Indochine im Superstar-Status unterwegs, in Deutschland hingegen wird das Quintett aus Paris auch nach vierzig Karrierejahren allenfalls als Geheimtipp gehandelt. Mit ihrem neuen Album Indochine „Babel Babel“ sollte sich das ändern lassen – trotz mitreißendem Synthiepop gibt es da allerdings noch immer die eine oder andere Hürde zu überwinden.
Es gibt in Europa wohl kaum eine Musikszene, die so autark, so selbstbestimmt agiert wie die französische. Beweise? Gerne doch: Kaum bei Brumath oder Strasbourg auf französischem Boden angelangt und 40, 50 Kilometer weiter westwärts der Reichweite von Dödelpop-Sendern à la Marke SWR3 entkommen, klingt es aus dem Autoradio nämlich völlig anders als hierzulande. Sicher, auch Französinnen und Franzosen lieben The Cure oder Coldplay. Und doch hat sich zwischen Ärmelkanal und Mittelmeer auch in Sachen Popmusik eine ganz eigene Identität herausgebildet: hörbar in der Chansontradition des Landes verwurzelt und allenfalls äußerst minimal von den derzeit angesagten euroamerikanischen Sound- und Rhythmusmustern infiziert – permanente Autotune-Effekte oder dürres 0815-R&B-Geklapper stehen bei französischen Produktionen jedenfalls kaum auf der Agenda. Und gesungen wird (mais oui!) quasi durchgehend im heimischen Idiom.
Alles très française also, und kein bisschen „international“? Das nun auch wieder nicht, wie Frankreichs erfolgreichste Band seit über 40 Jahren beweist. 1981 in Punk-Gefilden gestartet, spielte sich das inzwischen mehrfach umbesetzte Ensemble um Sänger Nicola Sirkis seither mit lupenreinen New-Wave-Sounds zur französischen Supergroup empor. Bei einer Erstbegegnung mit Indochine dürfte das Gros der deutschen Popfans die Band denn auch flugs als Frankreichs Antwort auf Depeche Mode und die Pet Shop Boys klassifizieren. Das stimmt natürlich – und doch auch wieder nicht: Zwar legt der stark synthielastige Sound derlei Vergleiche nahe, doch längst bewegen sich Indochine mit kernigen Bratzgitarren auch im Umfeld von europäischen Indierock-Größen wie Placebo.
Aber dann ist da eben noch jener unüberhörbare Chanson-Einfluss, ohne den in Frankreichs Popmusik fast nichts geht. Speziell Letzteres erfordert hierzulande unter Umständen ein gewisses Einhören, bisweilen gar ein Umdenken: Wie Sirkis zwischen Bel Canto und Heldentenor wechselt, ist momentan hierzulande und auch in den meisten anderen europäischen/angelsächsischen Ländern als Gesangsart so kaum vorstellbar. Es gilt also: Indochine – das ist zuallererst Musik von Franzosen für Franzosen und Französinnen, und was der Rest von Europa oder der Welt davon hält, interessiert erst einmal nicht. Natürlich: Sollten man plötzlich in England oder Deutschland die Charts stürmen, würden alle Beteiligten das selbstverständlich als hübschen Beifang mitnehmen. Sich deswegen irgendeinem Markt anzubiedern oder sich von verpeilten Managern zu Kooperationen mit koreanischen Boygroups oder amerikanischen HipHop-Hanseln nötigen zu lassen: All das käme der Band um Sänger Nikola Sirkis zu keiner Sekunde in den Sinn.
Die Musik von Indochine „Babel Babel“
Lieber richten Indochine den Blick auf „richtige“ Qualitätsmusik. Zum Auftakt ihres neuen Doppel-Albums „Babel Babel“ zitiert der programmatisch „Showtime“ betitelte Opener jedenfalls genüsslich den Refrain des Blur-Klassikers „Girls And Boys“ und stellt mit straightem four-to-the-floor-Beat die Weichen Richtung Dancefloor. Und bevor hier jemand beim Stichwort „Doppelalbum“ zusammenzuckt: Obwohl „Babel Babel“ stolze 17 Songs umfasst, kennt diese Set keinerlei Längen oder Durchhänger. Dafür schreiben Indochine viel zu viele starke Melodien, etwa im beinahe unverschämt poppigen Midtempo-Schunkler „L’amour fou“. Danach werden erstmal die Saiten warm gespielt: „Ma vie est à toi“ kombiniert satte Rhythmus- mit warmen Akustikgitarren, unterlegt diesen Mix aber wie so oft bei Indochine mit weitläufigen Synthiesounds und einem immens zupackenden Groove. Noch waviger geriet „Victoria“ mit New-Romantic-artigen Keyboard-Kaskaden im Stil von OMD oder eben den eingangs erwähnten Herren Tennant & Lowe.
Doch es kommt noch besser: „Le chant des cygnes“ („Der Gesang der Schwäne“) ist schlicht eine zum Niederknien großartige Synthiepop-Hymne mit Gänsehaut-Charakter. Da steppt der Bär und fliegt die Kuh, denn bis zum letzten Takt ist dieser 5:41 lange musikalische Glücklichmacher geradezu vollgepumpt mit rassigen Beats, epischen Synthies und breit angeschlagener Akustikgitarre, mit Feierlichkeit und ganz großen Gefühlen. Diesbezüglich kennt die Grande Nation bekanntlich keine Berührungsängste – und gerne dürfen sich die vielen Griesgrame hierzulande von unseren Nachbarn eine Scheibe an Lebensfreude und „savoir vivre“ abschneiden: Ja, man kann auch freudvoll, mit Zuversicht und dem Glauben an das Schöne und Gute durchs Leben gehen, anstatt in permanenter Kleingeisterei und endlosem Negativismus zu versinken.
Bei Gassenhauern wie diesen wird auch klar, warum Indochine in ihrer Heimat problemlos 70.000er-Stadien im ganzen Land füllen oder zum Abschluss ihrer 2022-Tournee im Pariser Stade de France mit sage und schreibe 97.000 völlig ausrastenden Fans eine Party für die Ewigkeit feierten.
Auch im weiteren Verlauf agieren Sirkis & Co. im typisch opulenten, zwischen Feierlichkeit und Melancholie changierenden Indochine-Stil und bringen dabei aber durchaus Abwechslung ins Spiel: „La vie et à nous“ mischt einen Schuss Tropical House ins Arangement, in „Le garçon qui rêve“ verbreitet ein locker vierzig Köpfe starkes Orchester großes Musicalflair; der Titelsong „Babel Babel“ zielt mit scharfem Tempo direkt auf die Tanzfläche, „Les nouveaux soleils“ avanciert mit kernigen Bratzgitarren zum Headbanger für Indierock-Fans und im Reggae-lastigen „La belle et le bête“ sowie in „Annabelle Lee“ sorgt ein mit Trompeten und Posaunen überaus fett bestückten Bläsersatz für Stimmung.
Und stets singt sich Nicola Sirkis, Franzose mit moldawischen Wurzeln, quasi die Seele aus dem Leib: Dieser Humanist am Mikrofon ist mindestens so sehr beherzter Kämpfer für eine bessere Welt wie ein hoffnungsloser Optimist. Nur durch die rosa Brille sieht Sirkis die Welt allerdings keineswegs. Neben Hoffnung und einem ab und an religiösen, gerne auch mit Fantasy-Motiven durchwirktem Optimismus sind auch der Tod und viele selbsterlebte Verluste enger Freunde und Verwandter seine Themen, und eine Gesellschaft, die immer mehr im Geisterfahrer-Modus unterwegs ist, sowieso. Das ganze Paket, von den Songtexten über den Albumtitel bis zum Covermotiv (übrigens eine Grafik des berühmten amerikanischen Fotografen David LaChapelle) verweist natürlich auf das biblische Motiv des Turmbaus zu Babel – jenes quasi finalen Akts des menschlichen Größenwahns.
„Seul au paradis“ schließt den Vorhang dann mit einem lupenreinen Stück frankophiler Musizierkunst: Zu Grand Piano und Streichorchester zeigt sich Sirkis hier als Chansonnier alter Schule, ehe ein aus der Folklore herübergeholtes Trommlerensemble, Glockenspiel und Bachtrompeten für ganz großes Emotionskino sorgt.
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