Der Herbstwind weht uns viele musikalische Wiederveröffentlichungen und Box-Sets auf Plattenteller und Streaming-Set. Das ist gut so, denn die staade Zeit naht und damit viel Muse-Potenzial fürs Reflektieren oder um hier und da ein bisschen in der früher-war-alles schöner-Vergangenheit zu kramen. Oder gar darin zu schwelgen. Zum Beispiel mit diesen klasse Alben von:
1.) Nena mit ihrer kecken NDW-Stimme. „Nena Remastered & Selected Works“ beamt uns zurück in die gefühlt bunte Zeit der Neuen Deutschen Welle – das Debüt triggert in der aktuellen, erweiterten Jubiläums-Edition die Nostalgie-Ader.
2.) Half Waif aus New York kreieren mit ihrem sechsten Album „See You At The Maypole“ ein wunderbar vielfältig arrangiertes Alternative-Folk-Pop-Album.
3.) Jimi Hendrix dreht sich hoffentlich vor Freude im Grab um: Denn im Boxset „Electric Lady Studios: A Jimi Hendrix Vision“ bringen die Nachlassverwalter – unter anderem seine Schwester Janie – durchaus ein paar Schätzchen ans Tageslicht.
4.) P. P. Arnold gilt als eine der großen britischen Soul-Ikonen. Mick Jagger, Rod Stewart, Eric Clapton, Barry Gibb, Peter Gabriel, Roger Waters und und und … stehen auf ihrer über fünf Dekaden umspannenden Team-Liste. 2019 gab sie ein überwältigendes Solokonzert – „Live In Liverpool“ demonstriert mit Orchester und Background-Chor ihre musikalische Strahlkraft.
Monatsrückblick: die besten Alben des Monats Oktober 2024
Nena wird 40! Nein, nicht die 1960 in Hagen geborene Gabriele Kerner mit dem frech-kecken Sing-along-Song-Appeal der 1980er Jahre – das Debüt-Album ist gemeint. Eigentlich wird das ja sogar 41, denn „Nena“ kam 1983 „heraus“. Heute ist Gabriele Kerna aka Nena 64. Und das Album-Debüt, entstanden in der sanft auslaufenden Neue-Deutsche-Welle-Gischt, besitzt erstaunlicherweise auch nach vier Jahrzehnten, eine charmante Viel-Volt-Powerzelle an alternativer deutscher Popkunst wie „Nena Remastered & Selected Works“ zeigt.
Doch zurück zu „Nena“ und Songs wie „Kino“, „Vollmond“ oder „Nur Geträumt“. Und „99 Luftballons“ – ein irgendwie-vielleicht-doch-oder-wieder-nicht-wirklich-Antikriegslied. Das fand man sogar jenseits des großen Teichs und in Großbritannienn cool: Die Luftballons schwebten bis auf Platz eins und zwei der Brit- und US-Charts hoch. Im Jubiläums-Package finden sich Leckerlis wie ein 24-seitiges Booklet mit Songtexten, Archivfotos, sowie eine persönliche Notiz Nenas an Gitarrist und Songwriter Carlo Karges, der bereits 2002 verstarb. „Die Vision für den Song hatte unser Gitarrist Carlo, als wir 1982 mit der Band bei einem Rolling Stones-Konzert in Berlin waren. Am Ende der Show ließen die Stones Luftballons steigen, die der Wind in Richtung Mauer und DDR trug. Beim Anblick dieses kraftvollen Bildes fragte sich Carlo, was passieren könnte, wenn jemand es missversteht. Er schrieb den Text noch in derselben Nacht und zeigte ihn mir am nächsten Tag im Proberaum. Allein das Lesen der Zeilen ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen und ich wollte ihn sofort singen.“ Hat sie ja denn auch gemacht.
Den Hook-Song „Nur geträumt“ mit seinem Zappel-Sound hat der Autor dieser Zeilen übrigens zuerst als Taxi-Nebenjobber gehört. Via Stereoradio (!) im beigen Mercedes 240D mit 72 PS und gefühlten zweimal 5 Watt. Und war entzückt. So viel Charme, so viel scheinbar nichts sagende Texte – oder doch…? Das war schon eher NDW 2.0, anders als Hubert Kah oder Geier Sturzflug oder die fantastische beinahe avantgardistisch anmutende Berliner Band Ideal – die im Rückblick letztendlich die coolsten Alben der Ära raushaute.

Hören wir also mal rein bei „Nena“. Der Klang war damals bereits recht gut, die Remaster-Kur bringt noch mehr Glanz und Ausgewogenheit ins Spiel… Und zum Original-Album gesellt sich vor allem eine flotte Rotte an Bonussongs – B-Seiten, Live-Takes aus Berlin, Offenbach oder Köln. Darunter – charmant, charmant „Amour Candide v2“, die rare französische Version von „Nur geträumt“… Dazu auch die englische Ausgabe mit „Just A Dream“. Schön: „Vollmond“ lässt als Schwofer-Song die Nachtschwärmer wach werden, „Tanz auf dem Vulkan“ peppt zackig im Soundgewand von Spliff, „Leuchtturm“ strahlt und „Ich Bleib Im Bett“ empfangen die Ohren als frankophil angehauchte Reggae-Heiterkeit. Bei „Kino“ live kochen die einstigen Rotzlöffel und heutigen Baby-Boomer in Berlin mächtig hoch, atmosphärisch klanglich schön homogen eingefangen.
Hach ja, die gute alte Zeit …
Videoclip „Nur Geträumt“ von einst im „Musikladen“
Half Waif mit Band-Chefin Anando Rose „Nandi“ Plunkett schrieb die vergangenen Jahre ein paar, sagen wir, düster angehauchte Alben. Für ihr aktuelles, sechstes Werk zog sie den emotionalen Horizont wieder höher auf, mit hellerem Musikmaterial und gleich 17 Songs (!) auf „See You At The Maypole“.

Dennoch zog es die New Yorkerin zu ernsten Themen wie Krankheit in der Familie, ihre eigene Fehlgeburt oder diversen gesellschaftlichen Traumata. Aber: sie schafft es, ihre neuen Stücke frisch, kraftvoll und energisch umzusetzen – mit einer gehörigen Portion Finesse und Abwechslung in ihren Alternative-Pop-Rock-Arrangements. Psychedelische Phasen schmusen mit avantgardistisch anmutenden Kompositionen, die an eine Laurie Anderson erinnern („Heartwood“).
Andere Stücke beeindrucken mit sphärischer Atmosphäre und ihren klaren, professionell ausgebildeten Vocals, was wiederum an die Kanadierin Leslie Feist denken lässt. Dazu leuchtet der Melodienhimmel auch mal hymnisch oder beschwingt. In Partnerschafts mit Piano und toller Singer-Songwriter-Manier bilden die 17 Songs ein facettenreiches Album, das in Teilen sogar ein bisschen in audiophile Gefilde vordringt („The Museum“).
Videos zum Album „See You At The Maypole“
Jimi Hendrix verstarb am 18. September 1970 mit nur 27 Jahren in London – kurz davor spielte der Kult-Gitarrist in seinem New Yorker „Electric-Lady-Studio“ von Juni bis August desselben Jahres diverse Songs ein. Material, das aus seinem kuratierten Nachlass auf klasse Alben wie „The Cry Of Love“ oder die Soundtracks „Rainbow Bridge“ und „Experience“ Eingang fand.
Das Box-Set „Electric Lady Studios: A Jimi Hendrix Vision“ greift viele der Stücke auf und gibt Einblicke in die Studio-Sessions, teilweise in spannenden Varianten oder Demo-Versionen mit Billy Cox am Bass und Mitch Mitchell am Schlagzeug. „Mein Bruder hatte eine Vision“, so Janie Hendrix, „und mit diesem Boxset stellen wir nicht nur Jimis Musik in den Fokus, sondern auch die Electric Lady Studios. Er wollte hier eine Homebase schaffen, wo er jederzeit die Songs aufnehmen konnte, die ihm in den Sinn kamen. Auch wenn sein Leben nur kurz war – innerhalb der magischen Wände an der 8th Street leben andere talentierte Musiker bis heute ihre Kreativität aus.”

So weit, so gut. Die Sache mit posthumer künstlerischer Nachlassverwaltung ist ein Thema für sich. Da sollte sich jeder, auch die Fans, fragen, ob eine gerne wiederkehrende Sesam-Öffne-dich-Manier von Archiven wirklich das zu bieten hat, wofür man häufig erkleckliche Euronen auf den Tisch des Hauses blättern muss.
Hier dürfen wir uns jedenfalls erstmal über 38 rare (Session-)Tracks freuen, die durchaus das Blut zum Wallen bringen: „Ezy Ryder rockt zackig, wie auch das spacigere „Room Full Of Mirrors“ oder „The Long Medley“ mit „Astro Man, Beginnings …“
Der Klang: recht prima, auf Blu-ray gibt’s 20 5.1-Mixes und die knapp 90-minütige Doku über die Entstehung des Studios, darin Interviews mit Steve Winwood (der soll bei der ersten Studiosession dabei gewesen sein), dann sind Billy Cox, der Bassist, sowie Leutchen des Electric Lady Staff zu hören. For Fans only? Naja, eher schon, doch. Aber davon soll es ja einige geben.
Videoclip: Trailer zum Film über die Electric Ladyland Studios
P. P. Arnold gab als eine der großen britischen Soul-Ikonen ein abendfüllendes Konzert in Liverpool. Das war bereits 2019. Das Album dazu mit über 70 Minuten Show erscheint erst jetzt, warum auch immer. Denn die Aufzeichnung „Live In Liverpool“ beeindruckt dank ihrer musikalischen Strahlkraft, begleitet von klassischem Orchester und Background-Chor.
Michael Philip „Mick“ Jagger, Rod Stewart, Barry Gibb, Peter Gabriel, Roger Waters und und und … stehen auf ihrer über knapp 60-jährigen Team-Liste. Doch Patricia Ann Cole alias P.P. Arnold startete bereits in der „Ike & Tina Turner Revue“ Mitte der 1960er Jahre. Sie wuchs in einer Gospel-beseelten Familie auf, und mit vier Jahren sang sie bereits solo.
Mick Jagger gilt als einer ihrer späteren Mentoren, der sie zu einer (Solo)-Karriere ermutigte.
Sie prägte zudem das Kult-Musical „Jesus Christ Superstar“ mit, ebenso wie Nick Drake’s „Poor Boy“. Weiter auf ihrer Liste stehen Graham Nash, Eric Burdon oder Eric Clapton, mit dem sie tourte. Und so ging es weiter. Anfang des Millenniums ging sie mit Roger Waters auf Tour, um „In The Flesh“ und mit „Dark Side of The Moon Live“ zu brillieren. 2019 brachte sie dann ihr viertes Solo-Album heraus, „The New Adventures Of … P.P. Arnold“, produziert vom prominenten Brit-Soul-Popper Paul Weller. Und dann kam die Tour, die sie eben im Oktober 2019 zum Finale nach Liverpool führte, dort in die altehrwürdige „Grand Central Hall“.

Gewitzt: Bereits 1967 sang P. P. Arnold im legendären deutschen Beatclub „The First Cut Is The Deepest“ (siehe kultiges Video in mono und schwarzweiß, den Link dazu gibt’s unten), im Original von Cat Stevens. Ein Jahr später stimmte sie dort „Angel Of The Morning“ an. Die beiden Songs führte sie auch in Liverpool auf – den Stevens-Song moderierte sie auf der Bühne so an „… ein weiterer großartiger britischer Künstler und Songwriter, Mister Cat Stevens schrieb einen wunderbaren Song und gab ihn mir…“.
Bewertungen
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Ihre energetische Stimme, die Arrangements mit Streichern, Bläsern und klasse Background-Chor verzücken auf eine eigenständige Weise – und bilden beinahe ein historisches Dokument der heute 78-Jährigen. „Das Konzert in der Grand Central Hall war genauso magisch wie die schöne Architektur des Gebäudes. Ich war überglücklich … die Band war brillant, die Mädels klangen wie Engel und ich fühlte mich so gut, so froh, dass alles so gut geklappt hatte.“ So hört sich’s auch an. Der Live-Klang punktet zudem mit schöner Durchhörbarkeit, Auflösung und Raumaufteilung.
Kultiges Video vom deutschen „Beatclub“ 1967 und „The First Cut Is The Deepest“:
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