Der sommerliche August ist für Musikredakteure meist ein dürrer Monat: Nur wenige, wirklich interessante Neuerscheinungen kommen im Hochsommer auf den Markt, weil die Labels für die Veröffentlichung lieber die verkaufsträchtigen Herbstmonate anvisieren. Und dennoch haben es auch die die musikalischen Highlights des Monats August 2024 ganz schön in sich.
So entlockt David Gilmour seiner Gitarre auf dem neuen Solowerk „Luck And Strange“ magische Momente wie bei Pink Floyd. Dabei: Tochter Romany mit Vocals und Harfe (!).
Enrico Pieranunzi, Marc Johnson & Joey Baron brillieren auf „Hindsight: Live At La Seine Musicale“ als formidables Trio im Spannungsfeld zwischen Jazz, Klassik und Folk – ein Fest!
Galliano lassen als britische Acid-Jazz-Pioniere nach 27 Jahren ihren eigenständigen Sound mit sprühenden Vibes wieder aufleben.
Denver Cuss wandelt mit ihrem Debütalbum „Leaving Me“ gekonnt auf den Spuren von Sarah Vaughan oder Aretha Franklin – ein soulig-nostalgisches R&B-Happening.
Die musikalischen Highlights des Monats August 2024 im Einzelnen:
Starten wir mit David Gilmour und seinem neuen Solowerk „Luck And Strange“. Mit dabei: Tochter Romany mit Vocals und Harfe, die ihrem Papa auf „Between Two Points“ immerhin den Song-Ausklang mit seiner E-Gitarre zuteilt. Sie intoniert das zart besaitete Stück der Dream-Popper Montgolfier Brothers überzeugend anrührend (siehe Video-Link unten). Bleiben wir noch kurz bei den softeren Stücken des neuen Gilmour-Werks – „Yes I Have Ghosts“ geht auf das Buch „A Theatre For Dreamers“ seiner Frau Polly zurück, das auf der griechischen Insel Hydra spielt. Übrigens genau die Insel, auf der einst der von David Gilmour sehr verehrte Leonard Cohen seine Liebe zur Norwegerin Marianne Ihlen fand. Das war 1960.
Und Gilmour lässt sich Zeit. 2024 packt der 78-Jährige sein erstes Soloalbum seit „Rattle That Lock“ von 2015 aus. Partnerin Polly schrieb zu „Luck And Strange“ die meisten Texte: „Es geht um Sterblichkeit, darum, wie du die Welt betrachtest, wenn du älter wirst…“. Der Brite selbst gilt bereits seit Pink-Floyd-Zeiten als „Best Fender Guitar Player Ever“ (so das „Guitarist Magazine“). Bei den Psychedelic-Rockern von der Insel und solo bewies er stets bravourös sein Handwerk. Bereits sein Debüt von 1978 und der stärkere Nachfolger „About Face“ (1984) belegen das ebenso eindrucksvoll. Andere Studioalben wirken da, sagen wir, etwas uninspirierter. Sagenhaft packend reihte sich dagegen „Live In Pompeii“ 2017 in die Gilmour-Historie ein.
Und nun hören wir eine mitreißende Liaison aus Oldschool-Blues-Rock („Dark And Velvet Nights“), psychedelisch durchtränktem Folk-Rock („The Piper’s Call“) sowie akustisch geprägtem Folk wie mit dem erwähnten „Yes, I have Ghosts“. Als Co-Produzent stand Charlie Andrew (Alt-J, Marika Hackman) parat, ein Wunschkandidat. „Wir haben Charlie eingeladen und er hörte sich ein paar Demos an, die er dann ungefähr so kommentierte: ‚Muss da wirklich ein Gitarrensolo hin?‘ oder ‚werden alle Songs ausgefadet? Wie wär’s mit einem richtigen Ende?‘. Es ist wunderbar, dass er kaum etwas von meiner Vergangenheit weiß und auch keinen Respekt vor ihr hat. Er ist sehr direkt und erstarrt nicht in Ehrfurcht – das gefällt mir unglaublich gut. Was du am wenigsten brauchen kannst, sind Leute, die dir nach dem Mund reden“, so David.
Guy Pratt zupft den Bass – das ist der Schwiegersohn des verstorbenen Pink-Floyd-Keyboarders Richard Wright – der im Titeltrack posthum mit einem Session-Take von 2007 aus Davids Scheune zu hören ist … Dem An- und Vortrieb David Gilmours scheint weiterhin kaum Grenzen gesetzt – angeblich will der Jahrhundert-Gitarrist nahtlos am nächsten Solo-Album arbeiten.
Video zu „Between Two Points“ (zum Abspielen einfach aufs Bild klicken)
Ein Fest für offene Sinne:
Enrico Pieranunzi, Marc Johnson & Joey Baron kennen und schätzen sich schon lange. Gut 40 Jahre, genauer gesagt. Ein gerütteltes Maß an Zeit und Spielfreude, in denen der Pianist Erico Pieranunzi, Kontrabassist Marc Johnson und Schlagzeuger Joey Baron viele profunde Stücke aufführen konnten.
Den italienischen, 74-jährigen Tasten-Spezialisten schätzen Musikfreunde und Kritiker für seine klassisch beeinflusste Spieltechnik – elegant und harmonisch im Universum des Jazz eingefühlt. Bill Evans steht als Pate auf der Vorbilderliste. Selbst hat Pieranunzi bereits für Chet Baker, Lee Konitz oder Phil Woods die Tasten bedient. Zudem unterrichtet er als Professor am „Conservatorio di Musica“ in Frosinone südöstlich von Rom, was ihn nochmal mehr zu einem der großen italienischen Jazzer macht. Auch Auszeichnungen wie der „Echo Jazz“ oder „Bester Europäischer Jazz Musiker“ ehren den gebürtigen Römer.
Der 70-jährige US-Amerikaner Marc Johnson steht unter anderem für sein Supergroup-Bass-Spiel zusammen mit John Scofield und Bill Frisell. Joey Baron wiederum schwang die Sticks beispielsweise für Marianne Faithfull, Stan Getz oder John Zorn. Im Trio-Flow Pieranunzi-Johnson-Baron blüht sein gefühlvolles Trommel-Spiel wunderbar facettenreich auf.
Die Live-Einspielung in Paris generiert ein weiches Federn, einen hinreißenden Flow, ein in sich verschmolzenes Wechsel- und Zuspiel der Protagonisten, die in passender Passage selbstbewusst ab- und aufschwingende Akzente setzen können. Ein heiter-pointiertes Miteinander, spannend und kurzweilig. Das treibende „Everything I Love“ begeistert so mit vehementem Drum-Einsatz und energischen Flügel-Läufen. Oder das zart besaitete „Je Ne Sais Quoi“ mit eher getupften Piano-Tasten und tänzelnden Rhythmen – beinahe wie das Glitzern von Sonnenstrahlen auf der Seine. Bezaubernd hin- und mitreißend: „Castle Of Solitude“ mit rollenden Drums und körperhaften Pianoläufen.
Das Kulturzentrum (im Südwesten von Paris auf einer Seine-Insel gelegen) steht seit nunmehr sieben Jahren für erstklassige Events – eingeweiht am 21. April 2017 von keinem Geringeren als Bob Dylan. Der optische Clou an dem opulent ausgelegten Areal: Die mit Glas verkleidete kugelförmige Fassade und ein Fotovoltaik-Segel, das sich nach dem Lauf der Sonne ausrichtet. Früher baute dort Renault Autos, etwa den legendären Renault 4. Die große Halle „La Grande Seine“ bietet Platz für bis zu 6000 Gäste – und macht auch akustisch was her: Der Klang verleiht dem Jazz-Souflee des Trios Plastizität, eingebettet in schönes Raumambiente, bei toller Feindynamik und schöner Auflösung – eine klasse Live-Einspielung.
Video/Animation mit Fotos („Hindsight“)
Galliano…
…lassen als britische Acid-Jazz-Pioniere nach 27 Jahren ihren eigenständigen Sound mit sprühenden Vibes wieder aufleben. Wer ein paar Jährchen auf dem Buckel, respektive ein paar weiße Härchen auf dem Haupte hat und in den 1990er Jahren aktiv den Musiktrends gelauscht hat, dürfte sich noch gut und gern an die Band erinnern – allen voran dank ihres fantastischen Stücks „Prince Of Peace“ ihres 92er Albums „A Joyful Noise Unto The Creator“. Damals verzauberten uns neben Galliano auch Bands wie The Brand New Heavies, Massive Attack und die Fugees.
In dieser aufregenden Zeit unterschrieben Galliano als die ersten auf dem legendären Acid-Jazz-Label „Talkin’ Loud“ und rockten die Londoner Underground-Clubs als Pioniere des Genres. Nach dem Studio-Album „:4“ und dem Live-Album „… At The Liquid Rooms“ (1997) hörte man so gut wie nichts mehr von ihnen.
Bis jetzt. Gründer Rob Gallagher und die fantastische Sängerin Valerie Etienne plus Mitglieder der Ur-Band inszenieren eine anmutige Stil-Liaison – aus Acid- und Soul-Jazz, TripHop und Reggae. Eine souverän abgekartete Sache: Funk jagt soulige Grooves, psychedelische Passagen und anmutige Vokalsätze erinnern hier und da an Massive Attack, Field Recordings und Spoken Words lockern zwischen den Songs auf.
Videoclip: „In The Breaks“
Allerdings – kein Veto gegen Mehrstimmigkeit – dass jedoch Frontmann Rob Gallagher seiner Partnerin Valerie Etienne nicht stärker den vokalen Vortritt gelassen hat, ist schade – denn sie betört mit einer deutlich charmanteren Stimme. Dafür punktet die Tontechnik mit sattem Druck und feiner Auflösung.
Welcome to the Sixties:
Ob sich da ein Trend zusammenbraut, bleibt abzuwarten. Jedenfalls verbeugen sich einige junge MusikerInnen in den USA und Großbritannien vor den Genre-Ikonen des R&B und Soul des vorigen Jahrhunderts, darunter der 38-jährige Kalifornier Nick Waterhouse oder auch PM Warson in UK. Und bei dem konnte Denver Cuss Bühnen- und Vokalerfahrung sammeln, anderem als Background-Sängerin. Naheliegend, dass der R&B-Newcomer auch beim Songschreiben kooperierte, zum Beispiel auf „I Can’t Dance“ mit seinen stolpernden Beats, „I’ve Come Home“ mit Orgel-Flimmern und packendem Rhythmus sowie beim Titeltrack, der Bläser von E-Gitarren bezirzen lässt. Zudem beschrieb Gitarrist Kit Warren die Notenblätter für das neunteilige Album im Team mit Denver Cuss.
In puncto Aufnahmetechnik hatten Denver Cuss und Gitarrist/Co-Autor Kit Warren eine gewitzte Idee: Nämlich unterschiedliche Londoner Studios für die Instrumente zu nutzen – um jeweils den besten, maßgeschneiderten Sound herauszuholen. Mit dabei waren die „Hackney Road Studios“ für die Lead Vocals, andere zeichnen für das Schlagwerk oder Hammond, Wurlitzer und die Background-Vocals verantwortlich. Zudem brummt natürlich der Bass, tönen Tenor- und Bariton-Saxofon sowie Trompete und E-Gitarre.
Die insgesamt zwölf MusikerInnen schufen so ein anrührendes Album, versüßt mit Doo-Wop- und Chicago-/Detroit-Soul-Crème. Übrigens versucht die Band auch tontechnisch die guten alten Zeiten aufleben zu lassen: Die mehrstimmigen Background-Vocals sind teils im Links-rechts-Modus abgemischt, der Sweet Spot des Band-Outputs fokussiert teils gewollt mittig. Sehr nett, zumal das Klangbild insgesamt homogen und stimmig wirkt.
Videoclip „Leaving Me“
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