Neue Musik von Pulp? Gab es seit 2001 quasi nicht (damals erschien mit „We Love Life“ das bislang letzte Album des Quartetts). Und wie sehr man als Fan von gleichermaßen zupackendem wie distinguiertem britischem Pop die Kultband aus Sheffield seither vermisst hat: Das zeigen Jarvis Cocker & Co. nun mit ihrer achten Platte Pulp „More“, dem neuen LowBeats Album der Woche.
Liegt das letzte Werk einer Band satte vierundzwanzig Jahre zurück, dann kann man schon mal fragen, was deren Leader in diesem knappen Vierteljahrhundert eigentlich getrieben hat. Wohlan: Was also hat Jarvis Cocker seit 2001 so alles (nicht) gemacht?
Bei genauerer Betrachtung liest sich die Bilanz des Pulp-Chefs allerdings keineswegs so mager wie man angesichts der Funkstille von Pulp annehmen könnte. So hat Cocker nicht nur fünf Soloalben veröffentlicht, ein weiteres Soloprojekt initiiert (JARV IS) oder Kanadas hinreißendem Piano-Alleskönner Chilly Gonzales bei dessen Albumprojekt „Room 29“ (gewidmet der am Sunset Boulevard gelegenen, von Dutzenden Musikern, Filmstars, Literaten und Künstlern zur Legende emporgewohnten Hollywood-Herberge Chateau Marmont) assistiert. Oder 2005 einen Auftritt als Sänger der „Zauberer-Rockband“ Weird Sisters in „Harry Potter und der Feuerkelch“ absolviert (und deren insgesamt drei Soundtrack-Songs komponiert), 2011 eine hochwillkommene Band-Reunion angeschoben oder den Tod von Pulp-Bassist Steve Mackey im Jahr 2023 erlebt und verarbeitet. Oder Radioshows im britischen Rundfunk moderiert. Vergangenes Jahr geheiratet. Und, absolutes Highlight, 2022 mit „Good Pop, Bad Pop“ ein Art Autobiografie geschrieben, die allerdings weit mehr ist als nur das – sondern eines der klügsten, gewitztesten und kurzweilig erzählten Bücher, das je über (britische) Popkultur der Gegenwart verfasst wurde. Und grafisch herausragend ediert wurde das Ganze obendrein. Wer’s noch nicht kennt: LowBeats erteilt hiermit eine unbedingte Lese-/Kaufempfehlung!
Ein neues Pulp-Album – das freilich war bei alledem eben nicht dabei. Dass die Band nun, 24 Jahre nach „We Love Life“, mit einem neuen, ihrem achten Album „More“ um die Ecke kommt, ist auch für Cocker ein noch nicht abschließend ergründetes Mysterium. „Ich versuche noch immer zu verstehen, warum genau wir beschlossen, dass es die richtige Idee sei, eine Platte zu machen“, kommentiert der Sheffield bewährt. „Es hatte zum Teil sicher mit Steves Tod zu tun.“ Ungefähr zur selben Zeit fand sich Cocker zudem in einer Phase wieder, „in der ich mich fragte, was ich hier eigentlich mache.“ Kreiste sein Songwriting zuvor meist um Gedanken, um Ideen und Konzepte, so bemerkte er zunehmend die Abwesenheit eines eigentlich substanziellen, aber mit der Zeit verloren gegangenen Seelenzustands. „Schreiben, komponieren ohne Gefühle ist eine ziemlich öde Sache, es steckt kein Leben darin“, erzählt Jarvis Cocker. „Und mit dieser Erkenntnis kam die allmähliche Konfrontation mit einer lang gemiedenen Wahrheit und dem Beginn meiner Auseinandersetzung mit … Gefühlen.“
Der Anstoß zu den elf neuen Kompositionen war also gegeben, und nach gemeinsamen Arbeiten aller Bandmitglieder am Songmaterial startete mit James Ford (Arctic Monkeys, Fontaines D.C.) der finale Produktionsprozess – für Cocker die nächste Hürde, die es zu überwinden galt. „Ich hatte wirklich Sorge davor, ins Studio zu gehen, denn bei ‘This Is Hardcore’ zog sich das alles in die Ewigkeit“, beichtet der Pop-Nerd. „Das war wohl auch der Grund, Pulp irgendwann aufzugeben. Es dauerte einfach zu lang, Dinge fertigzustellen. Und das lag zu großen Teilen an mir selbst. Also dachte ich damals irgendwann, lasst es uns einfach stoppen. Es ist für alle eine Qual, ständig darauf zu warten, bis ich meinen Kram beisammenhabe.“
Die Musik von Pulp „More“

Stilistisch bespielt „More“ ein breit gefächertes, aber klar angelsächsisch getöntes Song-Spektrum zwischen griffigem Indie-Rock, mal dezent („Slow Jam“, „Farmers Market“), mal opulent („The Hymn Of The North“) arrangiertem Orchester-Pop und anfangs scheinbar simpel abgefassten, dann aber von vielen hübschen Breaks und Verzierungen geschmückten Midtempo-Songs wie „Grown Ups“. Rhythmisch herausragend: das Entrée mit „Spike Island“, bei dem ein minimalistisches, aber monströses Bass-Riff die Hauptrolle spielt, oder das rasant getaktete, von Disco-Strings ausgeleuchtete „Got To Have Love“. Hier wie dort teilen sich Keyboards, Gitarren und Streicher die Arrangements ohne jedes Hauen und Stechen, auch wenn es immer mal wieder die Streicher sind, die ganz groß aufspielen dürfen – etwa im schwelgerisch-melancholischen „Background Noise“ oder in „Tina“, einem cinemascopisch opulenten Liebesdrama. „Man muss einander zuhören. Und verstehen, dass es die Kombination ebendieser Leute ist, die Pulp zu dem macht, was es ist“, fasst Cocker die spezielle Chemie des Band-Sounds zusammen – selbstverständlich inklusive der doch ziemlich einzigartigen Performance von Cocker himself als dessen zentraler Bestandteil: Halb Philosoph, halb Pop-Nerd, umkreist Cocker Themen wie den Tod, Sex, Himmel und Hölle des Elternseins oder das Entstehen und Vergehen von Beziehungen – und die vielen kleinen, großen Momente, die alle zusammen jenes seltsame Ding namens Leben ergeben: nackte Füße im Moos, das Nachmittagslicht im Haar einer geliebten Person, das Zurückgeworfen sein auf sich selbst angesichts der übermächtigen Präsens der Natur.
So reiht sich „More“ nahtlos ein in den Reigen zeitlos guter Alben wie sie von Kollegen wie den Last Shadow Puppets, den Arctic Monkeys oder Blur & Co. produziert wurde: Beweisstücke, wie gut Brit-Pop und -Rock jenseits einer jugendlichen Sturm-und-Drang-Phase funktionieren – wenn ein ausgeprägtes Gespür für musikalisches Handwerk und Kreativität auf das nötige Maß an Gefühlen trifft und veredelt wird durch eine über Jahrzehnte herangereifte Kunst zur Selbstreflexion.
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