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Atoll-IN300-Evolution Front
Jahrelang war der Atoll IN300 unser Maßstab für die Vollverstärker-Oberklasse um 3.000 Euro. Der neue „Evolution“ ist kaum teurer, aber nochmal besser geworden (Foto: Atoll)

Test Vollverstärker Atoll IN 300 Evolution: Gradlinigkeit in der 2. Generation

Alles so laufen lassen? Das schafft irgendwann Probleme bei den Zulieferern und den stetig wandelnden digitalen Formaten. Mit dem modularen Vollverstärker IN 300 im neuen „Evolution“-Upgrade legt Atoll die Messlatte für Universalität in der Oberklasse enorm hoch. Mal wieder.

„Gib mir doch mal kurz den Inbus-Schlüssel – ich will wissen, was in dieser schönen Kiste ist.“ Ich hebe die Haube des neuen Atoll IN 300 Evolution an und staune erneut. Der Aufbau, die Signalführung folgt der ursprünglichen Schönheit.Ich sehe den Unterschied zum Standardmodell IN 300 (eben ohne „Evolution) – nicht sofort. Folgen wir dem Strom und der puren Größe: Zwei gewaltige Ringkerntrafos nebeneinander – da fabulieren wir gern einmal von „überdimensioniert“.

Atoll-IN300-Evolution-Aufbau
Randvoll bis unter die Haube: Feinste AB-Technik, konsequent umgesetzt mit je einem fetten Ringkern-Trafo pro Kanal. Vorn der Block aus zwölf 6800-µF-Kondensatoren, die das Netzteil stabilisieren (Foto: H. Biermann)

Aber die Kraftmeierei macht Sinn. Denn an der Seite des Verstärkergehäuses liegen sechs MOSFETs, verschraubt an ebenfalls recht groß geratenen, individuellen Kühlrippen. Wohlgemerkt pro Kanal. Alles, wirklich alles an diesem schönen Franzosen ist in doppeltem Mono gehalten.

Atoll IN 300 Evolution: die technische Basis

Nur ein Bauteil schert aus. Im Rücken liegt über den „gemeinen“ Cinch-Eingängen ein Board für die Zufuhr digitaler Datenströme. Zweimal Coax, zweimal optisch und ein USB-Port für den direkten Anschluss an Mac oder PC dazu. Da muss man nicht lange interpretieren: Das ist nicht nur ein potenter MOSFET-Amp mit 150 Watt an acht Ohm, das ist auch ein amtlicher Digital/Analog-Wandler. Hinter der Schutzkappe daneben verbirgt sich ein Bluetooth-Empfänger. Alles auf der Front auswählbar. Wenn man halt das Upgrade-plus-Modul bestellt hat. Denn das Digital-Board gehört nicht zum Lieferumfang, es kann beim Kauf oder später nachgerüstet werden. Drei Versionen gibt es – mit oder ohne Bluetooth, mit oder ohne USB. Das weiß alles der Händler. Was er auch wissen sollte: Atoll bietet ebenfalls zwei Phono-Steckplatinen für den neuen Amp an, pur für MM oder mit MC zusätzlich.

Atoll-IN300-Evolution-Anschluss
Bei den Anschlüssen zählen wir 5 x analog mit RCA und 1 x mit XLR. Die fünf Digital-Eingänge oben sind optional (Foto: H. Biermann)

Das schmeichelt meinem Sinn von Nachhaltig- und Erweiterbarkeit – und dem Lebensgefühl, alles unter einer Haube zu haben. Lässt sich schnell einpacken, falls man in diesen Zeiten überhastet nach Neuseeland auswandern muss. Im Ernst: Einen praktischeren, audiophilen Lebensbegleiter habe ich lange nicht gesehen. Jetzt der Haken: Die Basis des IN 300 EVO liegt bei 2.850 Euro, die Vollausstattung bei 3385 Euro. Das ist fair. Zumal die Franzosen mit noch tieferen Klangwerten zu verführen wissen: Die Endstufe folgt, natürlich, den Class A/B Spielregeln, die Vorstufe hingegen wurde in reinstem, schönsten, diskreten Class A gehalten. Dazu das offizielle Versprechen, dass dieser Amp nicht nur in Frankreich erdacht, sondern auch umfänglich gefertigt wurde. Das hebt das Gefühl zum Preis in eine andere Werterelation.

Atoll-IN300-Evolution-Transistoren
Sechs Transistoren pro Kanal sorgen im Zusammenspiel mit dem stattlichen Netzteil für über 250 Watt (4 Ohm) pro Kanal (Foto: H. Biermann)

Wer sich jetzt unbedingt kasteien will, stellt sich die Frage: Nehme ich nun den normalen oder den Evolution des IN 300? Die Frage kann man sich ersparen. Der IN 300 Normalo ist seit Frühlingsanfang aus dem Katalog entschwunden: Das Bessere ist nun einmal des Guten Feind. Zumal es ja auch noch die 100er, die 200er und die 400er Serie gibt, wenn Portemonnaie und Produkt zusammenfinden sollen.

Der wirtschaftliche Vorteil innerhalb des Hauses: Atoll hat die Lieferketten geändert, zwar die alten Mitstreiter bei den Zulieferern beibehalten, aber klar bei den Bauteilen aufgestockt. Die neue EVO-Version verwendet zwölf 6800-µF-Kondensatoren, die speziell für Atoll gefertigt werden. Das neue OLED-Display liegt im Kontrast deutlich über dem früheren LC-Display und bietet eine deutlich erkennbar Ablesbarkeit. ​Bei den Lautsprecheranschlüssen nutzt die EVO-Version eigens für Atoll gefertigte Schraubkontakte aus Tellur-Kupfer; die wirken robuster, edler und sollen vor allem eine verbesserte Leitfähigkeit mitbringen.

Die Software und der Steuerungsprozessor wurden komplett neu programmiert und aufgewertet. Die EVO-Version ermöglicht nun die Umbenennung von Eingängen und die Speicherung von Balance-Einstellungen. Sehr praktisch in unterschiedlichen Einsatzszenarien. Auch ökologisch wird der Fußabdruck kleiner: Nun gibt es die Möglichkeit, zwischen einem energiesparenden Stand-by-Modus (\<0,5 Watt) und einem Vorheizmodus (27 Watt) zu wählen. Wieder ein praktischer Aspekt, je nach Ambition und Nutzung.

Das sind eher die kleinen, feinen Umdrehungen an der Tuning-Schraube. Deutlich hebt Atoll das Klangniveau bei den Digitaleingängen. ​Die EVO-Version mit dem Digitalboard DA200 bietet jetzt die Unterstützung für PCM bis zu 32 Bit/768 kHz über USB sowie DSD bis 5,6 MHz. Das reicht weit in die Zukunft. Wichtig: Das Digitalboard ist bei der Evolution-Generation mit eigenem Netzteil ausgestattet. Das reduziert die Einflüsse auf die analoge Schaltung.

Atoll-IN300-Evolution-Gehäuse
Typisch Atoll: Die 8 Millimeter starke Front ist an den Ecken gerundet (Foto: H. Biermann)

Letztendlich sind beim Blick unter die Haube keine dramatischen Unterschiede sehen – man bleibt sich treu. Auch beim Außendesign. Hier wird eben nicht fett „Evolution“ neben dem Schriftzug des IN 300 eingraviert, sondern dezent. Eine neue Generation düpiert nicht die ältere.

Hörtest

Jetzt kommt es auf den Klangeindruck an. Sind wir wirklich in eine neue Welt gestartet? Jein, auch audiophil bleibt man bei Atoll nachhaltig. Der Klangcharakter ist verwandt, aber ich höre den Extra-Kick. Bei der Erstversion war ich emotional angefasst: „Der Atoll IN 300 hat im besten Sinne etwas Unerbittliches. Er ist straight gebaut und klingt ebenso – nirgends Speck oder verschenkte Energie“. Der EVO führt den Zauber fast linear aufsteigend fort. Ich habe mehr feindynamische Informationen, alles gelingt noch leichter – aber er schwimmt nicht im Trend der Über-Analyse. Das ist kein Messgerät, sondern ein echter Musikbotschafter.

Atoll-IN300-Evolution-mit-Dynaudio
Der IN300 Evolution im Zusammenspiel mit den bestens harmonierenden Dynaudio-Modellen Heritage Special und Contour 20 Black Edition (Foto: H. Biermann)

„A Study of Losses“ heißt das neue Album von Beirut. Vor wenigen Tagen veröffentlicht – und schon Nummer eins der Downloads bei Qobuz. Das muss etwas Besonderes sein. Weil hier so gar nichts nach den Spielregeln des Erfolgs bei Pop-Alben läuft. Schon die Schublade passt nicht. „A Study of Losses“ umfasst 18 Tracks, darunter elf Songs mit Gesang und sieben instrumentale Stücke. Da ist der charakteristische Indie-Folk-Stil mit neuen elektronischen Elementen.

Cover - „A Study of Losses“ - Beirut
Alles ist erlaubt, keine Denkgrenzen, keine Instrumentation kann seltsam genug sein. „A Study of Losses“ von Beirut hat einen skurrilen Hintergrund: Die Chefin eines Zirkus fragte an. Klingt, als hätte Tom Waits eine alkoholfreie, aber sehr mutige Phase (Cover: Amazon)

Stücke wie „Ghost Train“ und „Guericke’s Unicorn“ zeigen eine stärkere Hinwendung zu Synthesizer-Klängen, während Titel wie “Villa Sacchetti“ und „Tuanaki Atoll“ an frühere Werke erinnern. ​Die kompositorische Raffinesse wird noch von den audiophilen Ansprüchen überboten. Zach Condon hat das Album größtenteils in seinem eigenen Studio in Berlin aufgenommen – einem Raum, der viel analoge Wärme einbringt. Dazu das Ausreizen des vollen Stereo-Panoramas – nicht nur in der Trennung, sondern von erstaunlicher Weite und Beweglichkeit.

Der Atoll liebt diesen Mix. Und dieser Mix liebt den Atoll. Weil der IN 300 EVO das ganz weite Panorama mit hunderten Impulsen füllen kann. Man sollte sich anschnallen. Nicht, weil es laut wird. Im Gegenteil, da blitzt eine Ukulele von rechts auf, unterdessen wird von links ein Klavier in Low-Fi als Effekt eingesetzt. Toll über feine Zweiwegler, auch und gerade im Nahfeld. Oder per Kopfhörer – noch ein Benefit: Der Atoll IN 300 EVO reckt uns an der Front einen wirklich sehr guten Kopfhörerausgang für 6,3er-Klinken entgegen.

Mumford & Sons sind wieder da. „Rushmere“ beginnt mit poetischem Bardengesang – sind das senkrecht angekratzte Gitarren-Saiten? Toller Effekt, es wird voller, lauter, dann „outen“ sich die Gitarren. Gute Schwingungen, trotz einer tendenziell molligen, düsteren Atmosphäre. Diese Körperlichkeit, diese Wärme ohne Nuscheln – das bringt der Atoll atemberaubend gut an die Lautsprecher.

Es gibt sie noch: Mumford & Sons legen „Rushmere“ vor und steigen weit in den Charts nach oben. Zurecht. Da gibt es die alten Songschreiber-Geniestreiche, das Direkte, die überbordenden Gitarren. Nur alles etwas düsterer. Wie das Cover: schwarz und weiß halt (Cover: Amazon)

Der Cambridge Audio EXA100 ist mit 2.200 Euro ein ganz großer Fressfeind. Auch hier fahren die Ingenieure aus Great Britain die Class-A-Schaltung so weit es geht. Im direkten Vergleich legen sich Mumford & Sons etwas weiter aus der Stereo-Achse Richtung Hörsofa. Aber in Sachen Eleganz ist der Atoll näher an meinem Klangideal. Gerade bei den schrammelnden Gitarren hat man den größeren, geschlosseneren Eindruck einer Klangwand. Beim Cambridge werden zu viele Einzelerlebnisse daraus. Aber der Brite zockt bei höheren Pegeln das schönere Rock-Live-Gefühl heraus. Kein Gleichstand, eher Facetten, aber mit kleinen Punkten mehr für den Atoll.

Keine Klassik unter den Top 20 bei Qobuz? Natürlich, für sehr, sehr lange Hörabende – 19 Stunden, 26 Minuten, 50 Sekunden: Alle symphonischen Werke Dimitri Schostakowitschs unter Andris Nelsons. Die Deutsche Grammophon hat den nun vollendeten Zyklus mit dem Boston Symphony Orchestra zu einer gewaltigen Playlist vereint – in 24 Bit und 96 Kilohertz. Anspieltipp: Der letzte Satz der 10. Symphonie. Schostakowitsch rechnet ab – mit Stalin, unter dem er gelitten hatte und nun mit allen Pauken und Trompeten den Trotz entgegenschreit. Es wird laut, sehr laut, wenn alle Blechbläser das Thema schmettern. Vier Töne. Vergisst man nie. Nimmt man nachts in den Traum mit: D, ES, C, H – das ist das musikalische Signet des Komponisten: D. SCH.

Cover - Dimitri Schostakowitsch - Nelsons
Endlich vollendet: Andris Nelsons hat mit „seinem“ Boston Symphonie Orchestra alle Symphonien, die Konzerte und die Oper „Lady Macbeth von Mtsensk“ eingespielt. Live – der Konzertsaal bebt. Virtuosen an allen Pulten – und den Reglern der Deutschen Grammophon. Am besten in 24/96 beschaffen (Cover: Amazon)

Erstaunlich, wie viel Atem und pure Kraft der Atoll auch an große Standboxen mit kritischem Wirkungsgrad wuchtet. Hundert Mann Orchester im Hörraum, in den letzten Live-Takten möchte man in Boston dabei gewesen sein. Toll die Staffelung und immer wieder diese Analyse ohne Erbsenzählerei, Musik wie von einem Musiker, schnörkellos. Darauf ein Wasserglas Wodka auf den großen Schostakowitsch und ein kleineres Weinglas auf die Brüder Dubreuil…

Fazit Atoll N 300 Evolution sein

Mal so richtig tief in die Basskiste greifen, die Sau durch das Orchester treiben – wunderbar grob können die Franzosen von Atoll bei der Neuauflage ihres IN 300 Evolution sein. Auch bei hohen Pegeln schreit mich dieser Verstärker nicht an. Standboxen werden ebenso entfacht wie feine Kompakte. Vielleicht sogar noch der edlere Effekt: Zwei Zweiwegler, der Atoll IN 300 EVO in der Mitte, in Vollbestückung: mit D/A-Board und großer Phonostufe.

Gemessen am Vorgänger In300 klingt der „Evolution“ moderater, man könnte sagen: „audiophiler“ und ist im Aufbau gereift und damit für die neuen Anforderungen besser gewappnet. Und das zum gleichen Prei von 2.800 Euro? Nicht ganz. Beim ersten IN300 war das Digitalboard fest installiert, bei Evolution muss man es mit 385 Euro extra bezahlen. Macht nichts: Das ist immer noch sehr fair. Der IN300 war für uns lange Zeit ein Gradmesser der Vollverstärker-Oberklasse. Der „Evolution” ist es wieder – auch, weil die hohe Leistung von über 250 Watt pro Kanal in dieser Klasse alles andere als normal ist.

Atoll IN 300
Evolution
2025/05
Test-Ergebnis: 4,5
ÜBERRAGEND
Bewertungen
Klang
Praxis
Verarbeitung

Gesamt

Die Bewertung bezieht sich immer auf die jeweilige Preisklasse.
Ausgewogen-kraftvoller, direkt-feindynamischer Klang
Hohe Leistungsreserven
Vielfältige Erweiterungen über Steckplätze für Module
Solide Verarbeitung

Vertrieb:
AUDIUM / Visonik
Catostr. 7b
12109 Berlin
www.audium.com

Preis (Hersteller-Empfehlung):
Atoll IN300 Evolution 2.800 Euro
DA200, D/A-Wandler: 385 Euro
P100, Phono MM/MC: 150 Euro

Technische Daten

Atoll IN 300 Evolution
Konzept:Transistor-Vollverstärker in klassischer AB-Technik
Leistung (4 Ohm / 8 Ohm):2 x 260 / 2 x 150 Watt, Musikleistung: 2 x 300 Watt
Eingänge:Analog: 5 x RCA, 1 x XLR, 1 x Bypass (RCA)
Digital-Modul (optinional):2 x Coax, 2 x optisch, 1 x USB
Ausgänge:Analog: 1 x Pre-Out (RCA), Kopfhörer, Lautsprecher (1 Paar)
Besonderheiten:Trigger-Ausgang
Farben:
Silber und Schwarz
Abmessungen (H x B x T):44,0 x 10,3 x 36,5 cm
Gewicht:16,2 Kilogramm
Alle technischen Daten
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Autor: Andreas Günther

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Der begeisterte Operngänger und Vinyl-Hörer ist so etwas wie die Allzweckwaffe von LowBeats. Er widmet sich allen Gerätearten, recherchiert aber fast noch lieber im Bereich hochwertiger Musikaufnahmen.