Die Welt wie wir sie kannten? Vergessen wir’s – und trinken ein letztes Glas auf das, was einmal war. Den Soundtrack dazu liefern The Cure auf ihrem ersten neuen Album seit 2008: Mit The Cure „Songs Of A Lost World“ gelingt Robert Smith & Co ein bewegendes, unter die Haut gehendes Requiem auf die Vergänglichkeit alles Irdischen und den Abschied von alten Gewohnheiten.
Sechzehn Jahre und acht Tage: So lange musste man bis zu einem neuen Album von The Cure ausharren – und nochmals weitere drei Minuten und einundzwanzig Sekunden Geduld benötigt der geneigte Fans, ehe Robert Smiths Stimme in „Alone“, dem Auftakt von „Songs Of A Lost World“, denn auch tatsächlich erstmals erklingt. Bis dahin bereiten Bassist Simon Gallup, Schlagzeuger und Perkussionist Jason Cooper, Keyboarder Rodger O’Donnell und Gitarrist Reeves Gabrels das Terrain für den Sound dieser acht neuen Kompositionen. Diese stehen in der Tradition von Früh- und Spätachtzigerwerken wie „Pornography“ oder des legendären 1989er-Kultalbums „Disintegration“. Keyboards und Gitarren umkreisen einander in inniger Verbundenheit, träumen sich in semiabstrakte Klangschleier hinein, um sich dann zu repetitiven Mustern zu verdichten, auf die schließlich Schicht für Schicht weitere Elemente getürmt werden: hier ein zweites Saitenthema, da ein kleines Piano-Intermezzo, dort ein paar geloopte Synthesizerklänge – so lange, bis sich aus allem kleine Symphonien des Dark-Wave oder, ganz nach Belieben, des Gothic-Rock herausschälen: musikalische Nachrufe auf Vergangenes und Verstorbenes.
Den Tod von langjährigen Weggfährten und Freunden besingt und meint Robert Smith, die große Nachteule der angelsächsischen Popkultur, dabei ebenso wie eine Welt, die unwiederbringlich verloren gegangen ist, seit The Cure sich 2008 mit „4:13 Dream“ letztmals zu Wort meldeten.
Und tatsächlich ist die Gesellschaft, wie man sie noch von damals kannte, inzwischen Geschichte: verbrannt im Fegefeuer der Moderne, dahingerafft vom Gift der digitalen Welt. Denn die Geister von X, TikTok, Instagram & Co. bekommt keiner je wieder in die Flasche zurück. Und das Thema KI, die neueste Kreation/Kreatur aus den Hexenküchen des Silicon Valley, befindet sich gerade mal in seiner präpubertären Flegelphase – man wird sich diesbezüglich noch wundern.
Auch „It’s The End Of The World As We Know It“ wäre somit ein hübscher Titel für dieses Requiem zwischen Gothic-, Post-, und Indie-Rock geworden, doch dieser Slogan ist ja schon seit 1987 an R.E.M. vergeben. Übrigens ist „Songs Of A Lost World“, kleiner fun fact, das nach „4:13 Dream“ erst zweite Album der Band , das tatsächlich im Herbst erscheint – merkwürdig eigentlich, waren doch Cure-Songs seit jeher oftmals lupenreine November-Musik. (Okay: Ab und an standen die Zeichen auch auf allerschönsten Pop – etwa, als Robert Smith einst das Glück entdeckte und wir Cure-Fans in den Endorphinen von „Friday I’m In Love“ oder „Inbetween Days“ badeten.)
Die Musik von The Cure „Songs Of A Lost World“
Knapp 50 Minuten umfasst nun das neue Programm – radiotaugliche Dreieinhalbminüter sucht das Ohr folgerichtig vergeblich. Stattdessen gibt es im Schnitt rund sechs Minuten lange Kompositionen, die sinistre Themen auf’s Schönste mit romantischen, aber zupackenden Arrangements in Einklang bringen – Tristesse deluxe sozusagen oder auch Melancholie mit Muskeln. Doch der Grundtenor ist eindeutig: „Hopes and dreams are gone with the end of every song / and it all stops and we will always show that we will never change / that we will stay the same“, singt Robert Smith in der ersten Strophe von „Alone“. Hoffnungen und Träume, zerborsten und gecrasht im Mahlstrom der Geschichte – und wir Menschen, wir ändern uns immer noch nicht und bleiben, wie wir immer waren: klammern uns krampfhaft an Altbewährtes, das dahinschmilzt wie das Eis an den Polkappen, wo doch längst Veränderungen und der Abschied von antiquierten Gewohnheiten und überkommenen Bequemlichkeiten das Zeichen der Stunde wären.
„Promise you’ll will be with me in the end“; versprich, dass du bei mir bist, wenn das Ende naht, barmt Smith dann in „And Nothing Is Forever“ in finaler literarischer Zuspitzung – und kleidet seine todesnahe Lyrik in pure, rauschhafte Schönheit. Schon bei den Konzerten der grandiosen 2022er-Tournee war (im konkreten Fall in der Stuttgarter Schleyerhalle) zu beobachten, welch exponierte Rolle in diesem Zusammenhang insbesondere Jason Cooper spielen darf. Und auch bei den aktuellen Aufnahmen in den walisischen Rockfield Studios gestanden Smith & Co. ihrem Drummer ein breites Spektrum an bemerkenswert offensiven Rhythmen zu, mit denen Cooper die melancholische Aura dieser Musik spannungsvoll konterkariert. Aber mehr noch: Cooper darf eine derartige Fülle an Fills und additional Beats aus den Fellen seines Drumsets klöppeln, dass er hier quasi auf den Spuren von Who-Legende Keith Moon wandelt, dem vielleicht musikalischsten aller Rock-Schlagzeuger der vergangenen fünfzig Jahre.
Und auch die Bandkollegen lassen sich in Sachen Klangfarbenreichtum nicht lumpen. So steuert Rodger O’Donnell immer wieder zärtliche Pianoklänge bei – in „A Fragile Thing“ etwa oder in „And Nothing Is Forever“, das zusätzlich von einem klassischen Streichquartett eröffnet wird. Reeves Gabrels mischt griffige Rhythmus- mit opulenten Leadgitarrensounds, und Simon Gallups Basslinien verkörpern schlicht die Quintessenz aus Simplizität und Intensität.
„Warsong“ leitet dann einen Stimmungswechsel hin zu musikalischem Exorzismus ein: Wo eben noch dunkle Romantik dominierte, geben nun breitbeinige bis metallische Riffs den Ton an. Noch brachialer zerrt anschließend „Drone:Nodrone“ an den Nerven, ein Klanggewitter aus furioser Rhythmik und scharfkantigen Noise-Rock-Elementen, bei dem Reeves Gabrels Gitarre förmlich Amok läuft. „All I Ever Was“ mischt dann hymnische Harmonien mit flotten Tempi und würde sich, obwohl mit 5:21 keineswegs im typischen Airplay-Format abgefasst, am ehesten dazu eignen, um „Songs Of A Lost World“ im Radio anzuteasern.
Mal eben fast das Doppelte, nämlich sage und schreibe 10:23 nehmen sich The Cure dann für ihr endgültiges Finale Zeit, und tatsächlich lohnt sich jede einzelne der 623 Sekunden dieses „Endsong“ betitelten Schlussakkords: Jason Cooper verprügelt sein Drumset zwar äußerst strukturiert, aber so rabiat, als gelte es, Galeerensklaven zum Rudern anzutreiben, Reeves Gabrels fieselt ein Feuerwerk an psychedelisch irrlichternden Riffs aus den Saiten, Roger O’Donnell flutet das Szenario mit epischen Keyboardkaskaden – und Robert Smith begutachtet derweil das Älterwerden und die eigene Existenz mit der kühlen Distanz eines Außerirdischen.
Ja, das alles ist in seiner Summe ein Hörtrip von beklemmender, beinahe kathartischer Intensität und dürfte an krisengefährdete und psychisch instabile Hörer eigentlich nur mit einem Warnhinweis ausgeliefert werden. Und von April bis September stehen diese „Songs Of A Lost World“ auch bei mir eher nicht auf der Playlist. Doch zum passenden Zeitpunkt aufgelegt, läuft dieses Opus Magnum im Cure-Katalog bis auf Weiteres auf heavy rotation – und bietet jede Sekunde einen Klangrausch par excellence.
Bewertung
Bewertungen
MusikKlangRepertoirewertGesamt |