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Jede Menge große Egos, aber ein gemeinsames Ziel: Bei der Band Broken Social Scene musizieren bedeutende Teile der kanadischen Indierock-Szene wider den Hass, für ein positives „get together“ und eine Welt, in der es sich zu leben lohnt. Und klingen dabei so ganz anders als Coldplay & Co (Foto: M. Barnes / City Slang)

Broken Social Scene Hug Of Thunder – CD der KW 27

Ein fast zwei Fußballteams starker Haufen von musikalischen Alphatieren ergibt nicht zwangsläufig eine funktionierende Rockband. Im Falle der Broken Social Scene geschieht dieses kleine Wunder allerdings in staunenswerter Regelmäßigkeit. Nach sieben Jahren Pause hat es diese von Kevin Drew beaufsichtigte Supergroup der kanadischen Indierockszene wieder getan, sich auf einen erstaunlich großen musikalischen Nenner geeinigt und beachtliche kreative Reibungskräfte entfesselt. Entstanden ist mit Broken Social Scene Hug Of Thunder ein Album, das sich aus verschiedenerlei Gründen als Soundtrack für das nächste Anti-G-20-Happening eignet – und die LowBeats CD der KW 27.

Knapp 20 Jahre schon gibt es dieses Musikerkollektiv, dessen Rang als Keimzelle der kanadischen Indierock-Szene außer Frage steht. Ob Leslie Feist, die Bands Stars oder Metric, ob deren Frontfrauen Amy Millan und Emily Haines oder Countryrock-Charismatiker wie Jason Collett: Mit Broken Social Scene (BSS) kam seither so ziemlich jeder in Kontakt, der in der kanadischen Musikszene Rang und Namen hat.

Einzig die Ausnahmegruppe Arcade Fire erreicht (bzw. übertrifft) noch die Bedeutung der von Kevin Drew und Brendan Canning geleiteten Truppe mit Stammsitz in Toronto – beide Formationen liefern sich einen musikalischen Wettstreit quasi auf Augenhöhe, wenn auch in durchaus unterschiedlichen Gangart.

Während die Band von Win Butler sehr straight und schlüssig Schritt für Schritt Richtung Superstar-Status strebt (als nächstes mit dem für Ende Juli angekündigten neuen Album Everything Now), gestaltet sich die Gefechtslage bei BSS etwas unübersichtlicher.

Das bis dato letzte Werk Forgiveness Rock Record liegt schon sieben Jahre zurück, und wahrscheinlich weiß nicht einmal Kevin Drew selbst, ob seine Band gerade zwölf, 17 oder 19 Mitglieder zählt. Und wer sonst so alles auftauchen wird, wenn Drew als eine Art Herbergsvater dieses Kollektivs ein Studio für ein neues BSS-Album bucht.

Umso erstaunlicher aber ist es, wie problemlos sich dieser heterogene Haufen an gestandenen, aber stilistisch höchst unterschiedlich disponierten Musikerpersönlichkeiten immer wieder in eine Band der Extraklasse verwandelt.

Broken Social Scene Hug Of Thunder  – Protestmusik fern jeder Sozialromantik

15 MusikerInnen sind es nach offizieller Zählung geworden, die im Bathouse Studio an den Ufern des Lake Ontario aufeinandertrafen, und auch auf Hug Of Thunder spielt dieses fast zwei Fußballmannschaften starke Ensemble wie aus einem Guss, macht ein wahres Fass an unterschiedlichen Klangfarben und Stilen auf.

Die Gitarren donnern, das Schlagzeug poltert, Chöre wechseln mit Bläsern, die Damen flöten charmant ihre jeweiligen Soloparts oder bündeln ihre Stimmen zu süßen Sirenengesängen, die Elektronik funkt kryptische Morsezeichen in die Arrangements.

Doch so verschieden die Sounds und Stimmungen – von Girlie-Pop bis Post-Rock, von Euphorie bis Melancholie –, so einig ist die BSS in ihrem systemkritischen Wertekanon und in ihrer Vision einer positiven Protestmusik.

Fern jeder Sozialromantik musizieren bei Broken Social Scene Hug Of Thunder Persönlichkeiten, die sich Gedanken darüber machen, wie diese Welt zu retten ist und zu einem besseren Ort gemacht werden kann – und die wissen, dass die Lösung nicht darin liegen kann, sie als erstes wahllos zu zerstören.

So sehr an die politischen und ökonomischen Eliten der größten Nationen (und Zerstörer) dieser Welt klare Protestsignale gesendet werden müssen, so traurig und wütend macht es, wenn ein mit kalter Berechnung und zügellosem Hass agierender Mob in Hamburg den G-20-Gipfel nutzt, um rücksichtslos einer ganzen Gesellschaft den Krieg zu erklären und in seiner Zerstörungswut auch das Büdchen um die Ecke plündert und den kleinen Dritte-Welt-Laden nebenan abfackelt.

Ja, es ist bedeutend mühsamer, eine Gesellschaft zu renovieren, sie umzubauen, als sie bloß in Schutt und Asche zu legen.

BSS wissen darum und liefern in den stärksten Momenten von Broken Social Scene Hug Of Thunder den Soundtrack für ein Statement zu Zusammenhalt und Protest und einer Absage an Hass und Hetzertum.

Mit „Halfway Home“ hat man die passende Hymne für einen Auftritt beim nächsten Anti-G-20-Happening jedenfalls schon mal im Gepäck – hier klingt diese Truppe wie eine Art E Street Band 4.0.

Das nachfolgende Anfangsdrittel von Broken Social Scene Hug Of Thunder wechselt zwischen dezent hippieesk („Skyline“) und moderat poppig („Protest Song“, „Stay Happy“), ehe die zweite Albumhälfte die Akzente hin zu sphärischeren Tracks mit Ambient- und Psychedelic-Elementen („Victim Lover“) sowie weiträumig angelegtem Artrock voller pochender Beats und minimalistisch-kühler Gitarren verschiebt („Towers And Mansons“, „Hug Of Thunder“).

Eine feine Dramaturgie für ein Album, das 52:23 gekonnt und empathisch „den Donner umarmt“.

Cover Art Broken Social Scene Hug Of Thunder
Broken Social Scene Hug Of Thunder (Cover: Amazon)

Broken Social Scene Hug Of Thunder erscheint bei City Slang im Vertrieb von Universal Music und ist erhältlich als Audio-CD, Vinyl LP, MP3-Download und in verschiedenen Fan-Editionen als CD-/LP-+T-Shirt-Sets.

Broken Social Scene Hug Of Thunder
2017/07
Test-Ergebnis: 4,0
 sehr gut
Bewertungen
Musik
Klang
Repertoirewert

Gesamt

Autor: Christof Hammer

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Seit vielen Jahrzehnten Musikredakteur mit dem Näschen für das Besondere, aber mit dem ausgewiesenen Schwerpunkt Elektro-Pop.