Mit den mal tief melancholischen, mal überbordend fröhlichen Songs seines neuen Albums feiert das Tex-Mex-/Americana-Ensemble zum dritten Mal in Folge ein LowBeats Album der Woche. Vorhang auf für einen eindrucksvollen musikalischen Hattrick – und für einen stimmungsvollen Songkosmos, so bunt und vielschichtig und unberechenbar wie das Leben selbst: Calexico „El Mirador“
Ja, haben die denn ein Abonnement auf die CD der Woche? – mögen sich Stammleser von LowBeats.de fragen. Und es stimmt ja auch: Seit dieses Portal vor über sieben Jahren online ging, gehören Schlagzeuger John Convertino und Gitarrist/Sänger Joey Burns zu den großen Musiklieblingen des Hauses und erobern dank „El Mirador“ mit dem dritten Album in Folge den Titel der „CD der Woche“. Und immer noch scheint der musikalische Kosmos von Calexico von Platte zu Platte nochmals bunter, vielfältiger zu werden. Auch auf Album Nummer 10 bilden Tex-Mex-Klänge, Latin-Music und Americana-Stimmungen die Basis für den gerne als „Desert Rock“ bezeichneten Bandsound. Doch dieses Etikett wollte aus zweierlei Gründen noch nie so recht taugen – zum einen denkt man dabei eher an Stoner-Rocker wie Kyuss, die Stone Temple Pilots oder Queens Of The Stone Age; zum anderen erinnert der Calexico-Sound weniger an eine Wüste, sondern vielmehr an eine Oase inmitten derselben – und erblüht auch auf „El „Mirador“ in grandiosem Klangfarbenreichtum.
Wie so ziemlich alle Platten der Produktionsjahrgänge 2020 und 2021 entstand auch dieses Werk zu Corona-Zeiten, ohne indes auch nur eine Sekunde als Krisenalbum oder Vereinsamungsmusik daherzukommen. Vielmehr schöpfte die im Kern zweiköpfige, in der Praxis ein gutes halbes Dutzend Musiker starke Calexico-Crew aus dieser Situation Optimismus und Zuversicht für Neues und begann, das Potenzial von Musik als Kreativkraft wie auch das eigene Bandpotenzial neu wertzuschätzen, noch bewusster auszuschöpfen. „Die Pandemie hat uns auf schmerzhafte Art all die Ebenen aufgezeigt, auf denen wir einander brauchen“, erklärt Joey Burns. „Musik ist mein Weg, Brücken zu bauen, Inklusion zu ermöglichen und positive Gefühle zu vermitteln. Das ist zwar bei uns oft auch mit Wehmut und Melancholie verbunden, aber Musik hat für mich immer noch die Kraft, Veränderung und Bewegung auszulösen.“
Die Highlights von Calexico “El Mirador”
Und so wirkt dieses Dutzend Songs wie eine Reise von der Dunkelheit ins Licht. Oder wie eine Sammlung tief empfundener Kurzgeschichten unter der Überschrift „Das Leben ist ein Leiden, das Leben ist ein Fest“. Der Titelsong mit der guatemaltekischen Singer-Songwriterin Gaby Moreno als Gaststimme klingt zum Auftakt noch wie eine südamerikanische Antwort auf den mittlerweile 41 Jahre alten The-Specials-Hit „Ghost Town“, schleicht und shuffelt mit Akkordeon, schrägen Streichern, ebensolchen Saitensounds und gespenstischen Bläsern 3:39 düster, beklemmend und unberechenbar voran, und zu keiner Sekunde scheint sicher, was vor oder hinter dem wehenden Vorhang des Covermotivs auf den Hörer wartet. Und so steht „El Mirador“ (deutsch: der Erker, der Balkon, die Veranda) als Pforte zwischen drinnen und draußen, eröffnet gleichermaßen einen Rückzugsraum ins Private wie es auch ins Leben hinausführt
„Harness The Wind“ dreht die Atmosphäre dann (unterstützt vom langjährigen Freund und Kumpel Sam Beam alias Iron & Wine) mit einer wehmütigen Melodie und perlenden steel-guitar-Linien hin in Richtung sanfter Melancholie, und péu-a-péu verschieben sich die Akzente immer stärker von angloamerikanischen hin zu südamerikanischen Stimmungen.
Dann schwelgen (etwa in „Cumbia De Pulvo“) die Bläser zwischen Mariachi-Seligkeit und Tex-Mex-Stimmungen, Perkussion, Congas und Schlagzeug schieben Rhythmen zwischen Rumba und Rock voran, die Arrangements kombinieren wie in „Cumbia Peninsula“ einen schön stolpernden Groove mit den strahlend hellen Trompeten von Jacob Valenzuela, Martin Wenk und Rick Peron oder geben mal einer schön kratzigen Fiddle Platz.
Dramaturgisch geschickt platziert, sorgt zwischendrin „Then You Might See“ mit Cello, Kontrabass und einem flotten, fast atemlos-gehetzt wirkenden Beat für zwielichtige Alternative-Rock-Stimmungen. Das ebenfalls doppelbödige „El Paso“ an Position 6 wäre dann auch auf dem Soundtrack eines Quentin-Tarrantino-Streifens eine gute Figur ab, während der „El Burro Song“ wie geschaffen ist für eine bunte Fiesta in einem mexikanischen Hinterhof.
Aufgenommen und produziert wurde dieses Dutzend übrigens sowohl in standesgemäßer Umgebung als auch in einer adäquaten Klangsprache: In den Silverbell Studios in Tucson/Arizona, auf halbem Weg zwischen den US-Südstaaten und ihren Nachbarn am Golf von Mexiko und in der Karibik, sorgte das Duo Burns & Convertino zusammen mit Sergio Mendoza (als Keyboarder, Gitarrist, Akkordeonspieler und Perkussionist eine langjährige Calexico-Stammkraft sowie Leader des ebenfalls in Tucson ansässigen Latin-Music-Ensembles Orkesta Mendoza), für einen authentischen, erdigen, aber gut aufgelösten und livehaftig lebendigen Sound. Wie vielseitig die Calexico-Crew auch die Zwischenwelten, die Nischen dieser beiden Sphären bespielen, zeigt auch das Schlussdrittel von „El Mirador“ mit Latin-Music-Schunklern wie „Liberada“, dem Afrocuban-Instrumental „Turquoise“ mit schön verwehter Jazztrompete oder dem finalen Song-Trio „Constellation“, „Rancho Azul“ und „Caldera“, in dem Americana-Klänge, Folkrock und südamerikanische Folklore einander mal temperamentvoll, mal eher kontemplativ umtanzen.
Calexico live in Deutschland
Mit großer Kapelle, Klassikern aus 25 Karrierejahren und Highlights ihres aktuellen Albums „El Mirador“ laden John Convertino, Joey Burns & Co. aktuell auch auf deutschen Bühnen zum Tanz in den Mai. Die Termine:
1. 5. Leipzig (Felsenkeller)
5. 5. Dortmund (Konzerthaus)
6. 5. Berlin (Tempodrom)
7. 5. Köln (E-Werk)
8. 5. Hamburg (Fabrik)
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