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Depeche Mode
Martin Gore (links) und Dave Gahan machen das Beste aus einem Leben ohne den langjährigen Freund und Keyboarder: „Memento mori“ ist unser Album der Woche (Foto: A. Corbijn)

Depeche Mode „Memento Mori“ – das Album der Woche

Auch ohne das Sounddesign von Andrew Fletcher vom ersten Ton an als lupenreines Depeche-Mode-Album erkennbar: Martin Gore und Dave Gahan schreiben ein neues Kapitel in der Geschichte der wichtigsten Synthiepop-Band der vergangenen vierzig Jahre und setzen die Erfolgsstory von Depeche Mode nahtlos fort – einen wichtigen Unterschied zur Vergangenheit gibt es dennoch. Depeche Mode „Memento Mori“ ist unser Album der Woche.

And then they were two: Rund 45 Jahre, nachdem ein paar Teenager aus Basildon (Essex) erstmals ihre Synthesizer unter Strom setzten und zu einer einzigartigen Weltkarriere starteten, sind Dave Gahan und Martin Gore nun die einzig Verbliebenen. Hinterbliebene der einst fünfköpfigen, nach dem frühen Ausstieg von Vince Clarke klassisch vierköpfigen Depeche-Mode-Familie. Und es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was diese Konstellation, dieses durch den Tod von Andrew Fletcher im Mai 2022 auf sich selbst Zurückgeworfensein mit Dave Gahan und Martin Gore gemacht hat – zumal „Fletch“ nicht nur als Mastermind in Sachen Sounddesign eine maßgebliche Rolle spielte, sondern (unisono sowohl von Martin Gore als auch von Dave Gahan bestätigt) auch als Fels in der Brandung und als integratives und ausgleichendes Element eine nahezu unersetzliche Position im Bandkosmos eingenommen hatte.

Depeche Mode
Weitermachen – was auch sonst: Mit „Memento Mori“ verneigen sich und Martin Gore (links) und Dave Gahan auch vor dem 2022 verstorbenen Andrew Fletcher (Foto: A. Corbijn)

Die Antwort auf diese Gemengelage aus Verlust, Tod und dem zunehmenden Wissen um die eigene Sterblichkeit geben Gore & Gahan schon im Titel des mittlerweile fünfzehnten DM-Albums: „Memento Mori“ – „bedenke, dass du sterblich bist“ heißt das Leitmotiv für das Dutzend neuer Songs der Synthiepop-Götter. Die Trauer über den Verlust von Andrew Fletcher ist dabei natürlich maßgebend, doch weder Dave Gahan noch Martin Gore bestreiten, dass auch das Erleben des eigenen Älterwerdens eine gewichtige Rolle spielt. Mit 60 (Gahan) beziehungsweise 61 Jahren (Gore) spürt man die Endlichkeit des eigenen Daseins eben doch ein wenig mehr als in Teenager-Jahren.

Musikalisch steht „Memento Mori“ für eine Synthese aus Rückbesinnung auf Geleistetes und der Gewissheit um die Tragfähigkeit von Bewährtem. Gravierende Neuigkeiten oder Veränderungen im Soundkonzept finden kaum statt, aber dass man Neuland betreten, musikalische Entwicklungen vorwegnehmen, popmusikalische Standards definieren kann: Das haben Depeche Mode schließlich schon mehrfach und hinreichend bewiesen. Und längst sitzt der „signature sound“ von Depeche Mode so perfekt wie ein zentimetergenau angepasster Maßanzug aus einer Schneiderwerkstatt der Londoner Saville Row.

Nun, nach knapp 50, von James Ford (der schon beim Vorgänger „Spirit“ an den Reglern saß und zudem Acts wie den Artic Monkeys, Florence + The Machine oder The Last Shadow Puppets zu Ruhm und Ehre verhalf) dynamisch und trickreich produzierten Minuten und dem ersten Album ohne Fletch lautet das Fazit: Ja, der unverkennbare DM-Sound funktioniert auch ohne den langjährigen Freund und Keyboarder – und wie Memento Mori wohl mit Fletcher geklungen hätte, bleibt eine Frage, die nicht weiter gestellt werden muss. Produziert wurde außer in Martins Gores Heimstudio auch bei Rick Rubin in Malibu nahe Los Angeles. Co-produziert sowie in New York und London final abgemischt wurde das Material von der italienischen Produzentin und Toningenieurin Marta Salogni, die auch einige Loops und Reverbsounds beisteuerte – etwa beim Opener „My Cosmos Is Mine“.

Die Musik von Depeche Mode „Memento Mori“

„My Cosmos Is Mine“, als letzter Song für dieses Album von Martin Gore unter dem Eindruck des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine geschrieben, eröffnet mit Düsternis pur: Pochende Synthiebässe, diffuse Maschinensounds, eisige Keyboards im Background und die trauerumflorten Vocals von Dave Gahan beschwören eine beklemmend-intensive, unter die Haut gehende Atmosphäre.

Mit „Wagging Tongue“ weicht die Düsternis einem – moderat – freundlicheren, helleren Ton, ehe Gore & Gahan mit „Ghosts Again“ endgültig in poppigen Gefilden landen. Mit lieblichen Keyboards im Background funktioniert diese erste Single als retroesker Rückgriff auf den Sound der mittelfrühen Anfangstage, doch klingt das Drumherum natürlich deutlich erwachsener, melancholischer als zu Zeiten von „New Life“ oder „Just Can’t Get Enough“.

„Don’t Say You Love Me“ (wie drei weitere Songs von Martin Gore komponiert zusammen mit Richard Butler von den Psychedelic Furs) verzaubert dann auf leise, zurückhaltende Art mit schwelgerischen Streichern, einem langsamen, verschleppten Walzer-Rhythmus: ein balladesker Höhepunkt und eines der Glanzlichter auf „Memento Mori“ wie auch im jüngeren Depeche-Mode-Katalog insgesamt.

Mit „My Favourite Stranger“ folgt der stilistische Gegenpol auf dem Fuß: Mit pluckernder Beatbox, tieffrequenten Synthies und effektvoll gecrashten Saitensounds wird hier geradezu eine alptraumhaft dystopische Soundkulisse geschaffen, die mächtig an den Nerven zerrt. „Soul With Me“ mit Martin Gore am Mikrofon überzeugt als romantisch-kühle, ab 2:45 sich dramatisch verdichtende, dann elegisch ausklingende Ballade, ehe sich „People Are Good“ mit mächtigem Beat, Kraftwerk-artigen Kling-Klang-Keyboards und nachdrücklich als nächste Singleauskopplung bewirbt.

Minimalistische, nach und nach um einen unnachgiebigen Syn-Drum-Beat angereicherte Elektronik dominiert dann in „Caroline’s Monkey“, und es dürfte alles andere als Zufall sein, dass Gore & Gahan den Refrain dieser dunklen Reflexion über die zerstörerische Wirkung von Drogen gemeinsam singen. „Always You“ läutet dann als digitale, zutiefst melancholische Nachtmusik und als Kombination aus Maschinen-Sounds und „echten“ Streichern das Schlussviertel des Programms ein, in dem „Never Let Me Go“ noch einmal Richtung Tanzfläche lockt, ehe „Speak To Me“ einen balladesken, morbide-romantischen Schlusspunkt setzt.

Depeche-Mode Memento Mori Albumcover
Depeche Mode „Memento Mori“ erscheint bei Columbia im Vertrieb von Sony Music und ist erhältlich als CD, als Doppel-LP auf 180-Gramm-Vinyl, als Stream, Download sowie in limitierten 2-LP-Sets in durchsichtigem und in rotem Vinyl (Cover: Qobuz)

Und nicht zuletzt bringt „Memento Mori“ – dem Thema angemessen und der jahrzehntelangen Linie von Depeche Mode folgend – nicht nur viele musikalische Gänsehaut-Momente, sondern auch jede Menge ins Existenzialistische ausgreifende Texte. Doch wie Martin Gore und Dave Gahan auf „Memento Mori“ mit Gefühlen von Melancholie über Verletzlichkeit bis Trauer umgehen, lässt vermuten, dass sie ihre inneren Dämonen trotz der Tragik der jüngsten Vergangenheit derzeit unter Kontrolle zu haben scheinen – und das war in der Geschichte von Depeche Mode bekanntlich nicht immer der Fall.

Bewertung:

Depeche Mode „Memento Mori“
2023/03
Test-Ergebnis: 4,5
ÜBERRAGEND

 

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Autor: Christof Hammer

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Seit vielen Jahrzehnten Musikredakteur mit dem Näschen für das Besondere, aber mit dem ausgewiesenen Schwerpunkt Elektro-Pop.