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Berliner Philharmoniker
Die Berliner Philharmoniker haben Bruckers 7. Symphonie eingespielt und daraus eine einzigartige DirectToDisc Doppel-LP gemacht (Foto: BPDTDP)

DirectToDisc: die einzigartigen LPs der Berliner Philharmoniker

Die Berliner Philharmoniker haben ein neues Geschäftsmodell entdeckt: die Berliner Philharmoniker Recordings. Sie verkaufen LPs. Aber nicht irgendwelche, sondern Direct-Cuts. Von vier Mikrofonen geht es direkt aus dem Aufnahmeraum in die Schallplatten-Rille. Keine digitale Parallel-Aufnahme, kein doppelter Boden – aber ein großartige Inszenierung in der limitierten Box. Wer schlau ist, kauft. Trotz des gehobenen Preises. Wir nahmen eine Hörprobe der DirectToDisc Scheiben – in Form von Bruckners 7. Symphonie unter Haitink.

Was macht eine Schallplatte wertvoll? Wäre ich sentimental – und ich bin sentimental –, dann würde ich sagen, es ist ein geheimes Band. Die erste Platte, die ich mir vom Munde und vom Taschengeld abgespart habe. Die erste Platte, die mein Leben philosophisch verändert hat. Alles irgendwann in den 70er oder 80er Jahren geschehen. Doch was lockt mich heute hinter dem Ofen hervor? Auf dem Flohmarkt bekommt man die meisten Scheiben für rund zwei Euro, perfekt erhalten. Wer das Besondere sucht, geht zum Vinyl-Händler um die Ecke und zahlt 15 Euro. Doch 200 Euro für ein ganz frisches Doppelalbum? Da streuben sich Verstand und Nackenhaare.

Und dennoch gibt es diese Wunderscheibe. Und alles, was hier an Fakten und Fetisch gesammelt wurde, sagt uns, dass die beiden schwarzen Scheiben auch genau diesen Preis wert sind.

So entstehen DirectToDisc Scheiben

Denn sie sind in der Philharmonie in Berlin entstanden. Als Livemitschnitt. Der aber nicht auf Festplatte oder Magnetband konserviert wurde. Nein, die Musik wurde ohne Umwege direkt in die analoge, plane Masterscheibe geritzt. „DirectToDisc“ nennen es die Berliner. Bedeutet für die Klangfetischisten unter uns: Es könnte schöner und direkter nicht sein – keine Schnitte, kein verfälschender Mix. Als ob wir live dabei gewesen wären.

Wobei eigentlich? Zum Beispiel bei einem legendären Konzert der Berliner Philharmoniker im Mai 2019. Bernard Haitink dirigiert die siebte Symphonie von Anton Bruckner. Ein Koloss. Geleitet von einem Ausnahmedirigenten. Der Holländer Haitink hat alle großen Orchester der Welt dirigiert, Chicago, lange Jahre in Amsterdam, Wien, Berlin, Dresden, er war sogar Opernchef in London. Ein Charakterkopf, aber kein Despot. Er liebt die Musik, alles webt, alles ist an seinem Platz, nichts wirkt aufgesetzt. Das sind Hochämter. Vor allem angesichts dessen, dass Haitink bei der Aufnahme 90 Jahre alt war. Nochmals in Worten: neunzig.

Berliner Philharmoniker Haitink
Großer Mann, großer Meister: Bernard Haitink hat sich entschlossen, seinen Beruf aufzugeben. Mit über 90 Jahren. Diese LPs dokumentieren das letzte Konzert des Dirigenten mit den Berliner Philharmonikern (Foto: BPHR/Stephan Rabold)

Hört man der Aufnahme das Alter des Dirigenten an? Nein. Ja. Das klingt in keinem Takt altbacken, oder gar anämisch. Aber man hört die Reife, die Verklärung. Das nimmt insbesondere im langsamen Satz die Größe eines Gottesdienstes, eines philosophischen Exkurses an. Wundervoll.

Und genau diese Momente wären verlorengegangen, hätten sich die Berliner Philharmoniker nicht zu dieser Aufnahme entschlossen. Aber: Es bleibt ein Dokument für die Insider, für die Wohlhabenden, für die Connaisseure. Denn wie gesagt: Das Master ist eine Schallplatte. Es gibt keinen Fallschirm, kein Backup in Hochbit. Nie wird eine SACD oder BluRay dieses Moments erscheinen.

Folgen wir dem Signalfluss. Wie ihn Rainer Maillard von den Emil-Berliner-Studios installiert hat. Maillard ist ein Meister. Er hat als junger Mann den Wechsel vom Band zur Festplatte erlebt, er belauschte die Luxusorchester unter Bernstein und Karajan. Eine kleine, feine Sammlung an Grammys schmückt ein Regal in seinem Tonstudio, nahe dem Potsdamer Platz. So lässt sich leben. Zumal Maillard etliche Devotionalien der Tonaufnahme-Geschichte gesammelt hat. Er musste sie nur in einen kleinen Transporter laden und auf die wenigen Kilometer bis zur Philharmonie schicken.

DirectToDisc Rainer Maillard
Der Meister und Produzent: Rainer Maillard hat mehrere Grammys im Regal stehen und erfüllt sich mit dem Direktschnitt einen Traum jenseits der sonst üblichen Produktionsformen (Foto: BPHR/Stephan Rabold)

Das Herzstück ist eine Schneide-Maschine von Neumann mit dem Kürzel VMS 80. Ein Klassiker. Unfassbar viele Masterscheiben sind hierauf entstanden. Alles rein analog, alles ohne die möglich kritischen Einflüsse des Direct Metall Mastering. Sehr klassisch.

DirectToDisc Schneidemaschine
Der besondere Moment: Der Stichel senkt sich auf den Rohling der Plattenschneidemaschine Neumann VMS 80 (Foto: BPHR)

So auch die Mikrophonierung. Hingen bei Karajan fast 40 Mikrophone über den Philharmonikern, so waren es hier bei Bruckners Siebter nur fünf der legendären Josephson Mikros: Ein C700S, zwei C722s, zwei C617 – alles nach der Philosophie von Josephson. Das ist eine Welt für sich. Die aber spannend-reduziert den perfekten Stereo-Aufbau verspricht.

DirectToDisc Mikros
Weniger ist mehr: Das Konzept einer Mikrofonierung nach Josephson wurde wiederbelebt – ein Quintett mit einem C700S, zwei C722s und zwei C617 (Foto: BPHR/Stephan Rabold)

Die Company residiert in Santa Cruz und fertigt auch dort alle ihre Mikrofone höchstselbst. Am Gesamtkonzept hat ein weiterer großer Name mitgearbeitet: Jürg Jecklin. Wie muss man sich das Endergebnis vorstellen? Erstaunlich nüchtern. Da hängt kein Wald von Mikrofonen über dem Orchester, sondern ein reduziertes Arrangement direkt davor. Nach vorn wird das reale Stereopanorama aufgenommen, nach hinten ein Aspekt für den Raumklang gesetzt. So haben dereinst die Urväter der Stereophonie aufgenommen. Der legendäre Decca-Tree ist ein naher Verwandter.

Das Josephson C700S (Foto: BPHR/Stephan Rabold)

Also ein Schritt rückwärts? Mitnichten. Die frühen Decca-Stereos sind heute Legenden der Klangqualität. Weil mit bewusst reduzierten Mitteln ein Maximum von Definition und Erotik möglich war. Erotik? Ein seltsames Wort im Kontext zu Tonaufnahmen. Und dennoch stimmt der Begriff – es geht um den Fetisch, den Drive, die Einmaligkeit, die Erregung vor und hinter den Mikrofonen. Ein dionysisches Prinzip.

Kommt es bei Haitink und der Berliner Philharmonikern im Jahre 2019 an? Eher nicht. Hier wird apollinisch musiziert. Ein großer Geist denkt, achtzig Musiker folgen. Haitink webt nicht den großen Rausch, sondern die Analyse, aber auch das Wunder hinter den Noten. Wirklich ein Treffen der Großmeister. Ein legendärer Dirigent gibt den Takt für großartige Musiker vor, jeder davon ein Solist. Und Rainer Maillard ist ein Großmeister der Tonaufzeichnung.
Das könnte man alles in einem netten Doppelalbum mit großem Foto auf dem Cover verpacken.

Berliner Philharmoniker Aufnahmesaal
Die Berliner Philharmoniker während der Aufnahmen zu Bruckners 7. Symphonie (Foto: BPHR/Stephan Rabold)

Doch die Berliner Philharmoniker haben sich zu einem nie wiederkehrenden Auftritt entschlossen. Zwei Schallplatten mit 180 Gramm liegen in einer leinenbespannten Box. Darin auch die Kopie einer Eintrittskarte und das offizielle Programmheft zum Konzert. Den Luxus gibt es über grandiose Fotos aus dem lebendigen Musizieren – auch diese, nebenbei, rein analog eingefangen. Der Produzent hat jedes Beiheft persönlich unterschieben und Haitink hat zugestimmt, dass ausgewählte Seiten seiner Dirigentenpartitur veröffentlicht werden. Zusammengenommen ergibt das einen Gral, einen kleinen Schrein der Anbetung. Die Berliner Philharmoniker sind hier sehr clever in ihrer Selbstvermarktung.

DirectToDisc Unterschriften
Herrenrunde: Die vierte Seite der Doppel-LP trägt keine Tonspur. Doch sie ist gefüllt: mit den Unterschriften der Musiker (Foto: BPHR/Stephan Rabold)

Noch ein Wunder als Zugabe: Rainer Maillard hat die DirectToDisc Aufnahme so getaktet, dass die Symphonie drei Spielseiten der Schallplatten einnimmt. Die vierte Seite ist frei und ohne Inhalt. Ohne hörbaren Inhalt. Aber hier haben die Musiker live und kurz nach dem Konzert unterschieben. Stimmt der Preis? Hm. 200 Euro sind eine Menge Geld.

DirectToDisc Bruckers 7. Symphonie Inhalt
Edler geht es nimmer: Die limitierte DirectToDisc Doppel-LP wird von einer Leinenbox umschlossen. Darinnen: Natürlich die LPs, aber ebenso das Programmheft zum Konzert und ein Nachdruck einer Eintrittskarte. Dazu ein Zertifikat des Produzenten, persönlich unterschrieben (Foto: BPHR/Stephan Rabold)

Aber das Außergewöhnliche stimmt. Hier gibt es ein modernes Wunder der Klangaufzeichnung. Eine digitale Veröffentlichung ist unmöglich. Wer schlau ist und einen Plattenspieler besitzt, wird dem Genuss frönen. Wer schlau ist und keinen Plattenspieler besitzt, wird die Box original verschweißt lassen und in Alufolie einwickeln. In zwanzig Jahren ist sie garantiert das Zehnfache wert.

DirectToDisc Bruckers 7. Symphonie Cover
DirectToDisc Bruckers 7. Symphonie ist erschienen bei den Berliner Philharmoniker Recordings

Weitere Informationen unter www.berliner-philharmoniker-recordings.com

Berliner Philharmoniker/Haitink
Bruckner /Symphonie  – DirectToDisc
2020/07
Test-Ergebnis: 4,5
Überragend
Bewertungen
Musik
Klang
Repertoirewert
Ausstattung

Gesamt

Autor: Andreas Günther

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Der begeisterte Operngänger und Vinyl-Hörer ist so etwas wie die Allzweckwaffe von LowBeats. Er widmet sich allen Gerätearten, recherchiert aber fast noch lieber im Bereich hochwertiger Musikaufnahmen.