Heute heißen sie Alexandre Tharaud, Bertrand Chamayou oder Eric Le Sage. Die junge französische Pianisten-Elite hat sich inzwischen einen festen Platz im internationalen Musikgeschäft erobert. Wer aber waren ihre Vorgänger? Christoph Vratz wagt einen Rückblick auf Frankreichs legendäre Pianisten Alfred Cortot, Yves Nat und Samson François.
Mäuschenspielen macht Freude. Auch im Hörsaal. Erst Recht, wenn wir Zugang zu Dokumenten erhalten, die aus der Vor-Youtube-Zeit stammen, als der Weg ins Archiv noch mühsam und nicht immer erfolgreich war. So galten beispielsweise die Pariser Meisterklassen des Pianisten Alfred Cortot lange Zeit als legendär, doch wie drankommen? Zwischen 1954 und 1960 hielt er sie an der von ihm gegründeten École Normale de Musique ab. Wer aber hätte Genaueres darüber zu sagen gewusst?
Zum Glück wurden einige dieser Kurse mitgeschnitten, und zum Glück kamen sie über seinen Sohn Jean und den Klavierkollegen Murray Perahia in ausgewerteter Form an die Öffentlichkeit. Mehr als 30 Stunden Material, reduziert auf drei CDs, immerhin. “Unschätzbar” seien diese Mitschnitte, sagt Perahia. “Sie zeigen, wie einer der größten Musiker des 20. Jahrhunderts seine Schüler mit den Gedanken über die Musik, die er spielt, vertraut macht, ohne im klassischen Sinne zu unterrichten.” Cortot erläutert manche Werke, die er niemals öffentlich gespielt hat. Mozarts c-Moll-Fantasie etwa betrachtet er aus dem Geiste des Don Giovanni, als Konflikt zwischen Bedrohung und Zärtlichkeit. Cortot doziert nicht, er setzt auf die Kraft von Bildern, er erläutert Stimmungen.
Alfred Cortot: klare Melodieführung
In einem kleinen französischen Dorf, in Le Villars in der Region Burgund, liegt Cortot inzwischen begraben. Auf seiner Grabplatte steht – bewusst schlicht – seine
Berufsbezeichnung: “Musicien”. Musiker, und nicht etwa Pianist! Er wollte seinem Publikum Musik als ganzheitliche Erfahrung nahebringen. Sprechen über Musik und Musik-Machen bildeten für ihn eine Einheit; das Poetische sah Cortot immer mit dem Praktischen verbunden. So wird die Beschreibung von Musik zum organischen Bestandteil der Musik selbst. Noten sind für Alfred Cortot vor allem musikalische Ausdrucks-Charaktere, die hörbar gemacht werden sollen; sonst bleiben sie ein Muster ohne Wert.
Cortot, als Sohn einer Schweizer Mutter und eines französischen Vaters 1877 in Nyon geboren, verpatzte beim ersten Versuch seine Aufnahmeprüfung am Conservatoire de Paris. Erst im zweiten Anlauf wurde er angenommen – Ironie des Schicksals! Der Schallplatte (bzw. anfangs der Klavierrolle) stand er zunächst skeptisch gegenüber. Ab den 1920er Jahren änderte sich das. Cortot ist mit zahlreichen Solowerken – Schumann, Chopin, Debussy – und auch mit Kammermusik dokumentiert. Mit Pablo Casals hat er Beethovens Cellosonaten aufgenommen, und im Trio mit Jacques Thibaud haben sie gemeinsam Haydn, Beethoven und viel Romantisches festgehalten. Sucht man nach etwas Unverwechselbarem, dann ist es sein Faible für eine klare Melodieführung. Cortot war ein Meister geschmackvoller Freiheiten, die er sich erlaubte, um zum Wesen der von ihm ausgewählten Musik vorzudringen. Er verstand sich als Botschafter, nicht als Pedant. So hat er beispielsweise jedes der 24 Préludes von Chopin mit einem “poetischen” Titel versehen. Es gab wohl kaum einen Pianisten von Weltrang, der das Bild vom donnernden Virtuosen weniger erfüllt hat als Cortot. Gleichzeitig distanzierte er sich von jener Form von “clarté”, wie sie für die (vor allem komponierenden) Franzosen im 20. Jahrhundert so wichtig war. In seinem freien Geist war und blieb Cortot ein Erbe des 19. Jahrhunderts.
Yves Nat: ausuferndes Temperament
Zu den heute fast vergessenen Pianisten zählt, obwohl er als einer der Pioniere der Beethoven Diskographie gelten darf, der 1890 im südfranzösischen Béziers geborene Yves Nat. Als Sohn eines Schumachers bekam er seinen ersten Unterricht von einem Organisten, bevor, durch Presseberichte aufmerksam geworden, Gabriel Fauré und Camille SaintSaëns den Elfjährigen nach Paris ans Conservatoire lockten. Auch Claude Debussy zählte zu seinen Förderern. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere brach Nat 1934 seine Konzerttätigkeit plötzlich ab, um sich dem Komponieren zu widmen. Erst mit über 60 Jahren kehrte er aufs Podium zurück und begann eine Reihe größerer Schallplatten-Projekte. Bereits Mitte der 1950er Jahre hatte Nat einen Beethoven-Zyklus aufgenommen. Es war zugleich die erste französische Gesamteinspielung der 32 Sonaten. Zeitlebens stand Nat im Schatten von Cortot – zu Unrecht, wie einige Pianisten Kollegen gelegentlich äußern.
Auch Nat war, wie Cortot, ein leidenschaftlicher Kammermusiker; auch er hat mit Thibaud gespielt und ist mit Eugène Ysaÿe auf Konzertreisen gegangen. Zu Nats musikalischen Markenzeichen zählt sein ausuferndes Temperament. Nat liebt ein Musizieren mit enormer Spannkraft, geprägt von einem steten Vorwärtsdrängen, das für romantisierende Rubati keinen Raum lässt. Sein Spiel zeugt oft von einer Direktheit und Unmittelbarkeit, als wolle er sich durch nichts und niemanden aufhalten lassen. Das zeigt sich besonders in einigen Sätzen der Beethoven-Sonaten, gerade dort, wo ein “con brio” gefordert ist, wie am Beginn der Es-Dur-Sonate op. 7. Der pochende Rhythmus in der linken Hand klingt anfangs noch verhalten, deutet aber bereits eine Unerbittlichkeit an, die spätestens beim ersten Forte hörbar wird. Beethoven stellte für Nat eine Art Forschungsreise voller Risiken dar. Künstliches Verweilen, Versüßlichung oder jede Form von Verweichlichung waren ihm zutiefst fremd. Dafür nahm er einige manuelle Fehlgriffe in Kauf.
Schubert, Schumann und Brahms – Nat hat auch Komponisten gespielt, die im Frankreich der 1920er Jahren noch als schwerblütig, als unelegant galten. Dabei machen gerade seine Schumann-Aufnahmen heute noch Freude. Die individuelle Qualität zeigt sich etwa am Beginn von “Grille” aus den Fantasiestücken: Den oft nur majestätisch gedeuteten Beginn nimmt Nat so schnell, dass Pathos sich erst gar nicht breitmachen kann. Bei ihm wirken dieses Stücke wie vorbeihuschende Fantasien.
Samson François: Fähigkeit des Verdüsterns
Der Dritte im Bunde, der das französische Klavierspiel im 20. Jahrhundert geprägt hat, ist Samson François, geboren 1924 in Frankfurt, wo sein Vater im französischen Konsulat arbeitete. Das unstete Berufsleben des Vaters verhinderte eine geordnete Ausbildung. Cortot wird zwar sein Förderer, aber nie sein Lehrer. Dafür wird François 1935 in Cortots École aufgenommen. Außerdem studiert er Komposition bei Nadia Boulanger. Ab den 1940er Jahren ist er international bekannt, er reist viel und führt abseits der Tasten ein Leben zwischen intensivem Zigarettenqualm und harten Drinks. 1970 zahlt er dafür mit einem tödlichen Infarkt.
Seine Plattenkarriere beginnt 1947. Vor allem Chopins Klavierwerke liegen ihm am Herzen. Er war lange Zeit der einzige Franzose, der sich neben Cortot vehement für Chopin eingesetzt hat. Was sein Spiel auszeichnet, ist eine klangstarke Mittellage. Sein differenzierter Anschlag erlaubt ihm eine spezielle Fähigkeit des Verdüsterns, auch des Verschleierns. Er folgt stets einem sehr persönlichen Stil, mit Tendenz zum Improvisatorischen. Seine Rubati, diese kleinen Verzögerungen, die nirgends im Notentext stehen, sind bei Samson François Zeichen eines frei erzählenden, rhapsodischen Stils.
Mit François haben wir einen dritten legendären Pianisten, dem die Musik Robert Schumanns viel bedeutet hat. Außerdem hat er etliches von Debussy gespielt. Seine 1968/1969 entstandene Einspielung der Préludes steht in einer Traditionslinie, die von einer reichen Klang substanz lebt, auch wenn François stellenweise herber agiert als Cortot, der seinen Debussy mit atmenderen, sprechenderen Tonlinien ausstattet.