50 Jahre nach seinem Tod ist Fritz Wunderlich in Medien und auf Tonträger so präsent wie zu seinen Lebzeiten. Das Jubiläum bietet die Gelegenheit, wieder einmal zurückzublicken auf den wohl größten Tenor Deutschlands. LowBeats Autor Lothar Brandt blickt sehr weit zurück und gibt dem Leser auch gleich noch die wichtigsten Aufnahmen und Zusammenstellungen des Ausnahmesängers an die Hand.
Die Szenerie ähnelt sich. Sitzt man mit Kritiker-Kollegen, klassischen Künstlern oder sonstigen Sangesfreunden zusammen, wird natürlich gerne gefachsimpelt. Man schwärmt von einmaligen Aufführungen (die man selbstverständlich nur allein erlebt hat), frotzelt über Bildungslücken („waaaas, Du kennst die XYZ mit ZYX nicht?), streitet über Superlative („Also der war doch wirklich der schwärzeste Bassist“), spottet über doofe Opern-Regisseure oder ahnungslose Dirigenten.
Nur bei ganz wenigen Namen verstummt jeder Streit, stoppt jeder Spott, endet jeder Zwist, löst sich jede Diskussion in das buchstäbliche Wohlgefallen auf. Einer dieser Namen: Fritz Wunderlich.
Was aber ist das für ein Zauber, den dieser lyrische Tenor noch immer ausübt? Ein Sänger, der vor exakt einem halben Jahrhundert mit gerade einmal 35 Jahren bei einem tragischen Treppensturz ums Leben kam und dessen angehende Weltkarriere damit brutal endete.
Dessen Stimme die meisten von uns noch Lebenden gar nicht „live“ erlebt haben und den dennoch Gesangsfans von Japan bis Hawaii, von Hammerfest bis Kapstadt heute immer noch verehren.
Dessen Tonträger heute noch weltweit in Stückzahlen verkauft werden, von denen sogar viele Pop-Künstler nur träumen können. Dessen Kunst auch völlig opernferne Menschen und grimmigste Kritiker sofort erkennen und anerkennen.
Befragen wir doch zunächst einmal die allwissende Wikipedia nach seinem Fach: “Der Begriff lyrischer Tenor bezeichnet einen bestimmten Typus der Stimmlage Tenor. Ein lyrischer Tenor hat eine leichte und geschmeidige Stimme und ist sowohl zu großen lyrischen Legato-Bögen als auch zu Koloraturgesang in der Lage. Er verfügt in der Regel über eine weiche, aber strahlende Höhe und eine große Modulationsfähigkeit.”
Auf der Spur des Zaubers von Fritz Wunderlich
Aha. Nachdem das geklärt ist, bleibt ungeklärt die Frage nach dem Wunderlich-Zauber. Hier sollte die Kritik erst einmal schweigen. Und Sängerkollegen zu Wort kommen lassen. Welche, die etwas vom Fach verstehen und, statt mit der tumben Eitelkeit der meisten ihrer Welt, mit Verstand und Respektfähigkeit begabt sind. So Nicolai Gedda, einer der ganz wenigen Tenorkollegen, die Fritz Wunderlich das Wasser reichen konnten: „Was er gemacht hat – da kommt keiner ran. Ich glaube, das wird unerreicht bleiben.“
Der große Peter Schreier, der dem Vergleich ebenfalls zuweilen standhält: „Die Qualität seiner exorbitanten Stimme ist einmalig und wird einmalig bleiben. Ein Glück, dass es das Medium Schallplatte gibt.“
Der Maltesische Tenor Joseph Calleja bringt es auf den Punkt: „Die unmittelbare Wirkung des Gesangs ist so spontan, so goldrichtig, da können wir auf analytische Mikroskopie verzichten, uns zurücklehnen und diese kraftvolle Mischung aus mediterraner Stimmqualität und einer mitteleuropäischen, musikalischen wie darstellerischen Intelligenz genießen, über die nur ein charismatischer Tenor verfügen kann.“
Wir sind auf der Spur bei unserer Suche nach dem Zauber. Eine goldene Spur. Und die doch am Verstand vorbeiführt und direkt ins Herz zielt. Legen wir doch einmal zwei zusammen auf, die beide diesen unerklärlichen Zauber ausüben können, der eine als Komponist, der andere als Interpret. Wolfgang Amadeus Mozart mit seiner Oper Die Zauberflöte und in deren männlicher Hauptrolle des Prinzen Tamino Fritz Wunderlich.
Die so genannte „Bildnisarie“ ist der Schrecken jeden Gesangslehrers, denn fast alle Tenöre und solche, die es werden wollen, vergehen sich daran, weil sie in unzähligen Aufnahmeprüfungen „verlangt“ wird.
Wenn Wunderlich dieses wunderbare Kleinod zum Funkeln bringt, dann strömt die unvermittelt aufkeimende Liebe der Bühnenperson über den Sänger auch in uns (so wir noch nicht vollkommen verhärtet, blasiert oder zu Musikzombies verkommen sind). Die Stimme hat wirklich diesen Goldglanz, das ist der sprachliche Vergleich, der sich förmlich aufdrängt, obwohl Gold doch ein stummer Zauberer ist.
Doch dieses Stimmgold kann auch kräftig strahlen. Wenn wir Fritz Wunderlich in der Tenorpartie von Gustav Mahlers Lied von der Erde hören, sind wir buchstäblich gebannt von ihrer Wucht, eingefangen von ihrer Schönheit, und dann doch wieder emporgehoben von ihrer Tragfähigkeit.
Die große Mezzospranistin Christa Ludwig, die in derselben Einspielung unter Otto Klemperer den schönsten „Abschied“, der längste und ergreifendste Teil des Lied von der Erde, gesungen hat, war zwar bei dieser Aufnahme nicht mit Wunderlich im Studio (da gab es zeitlich weit auseinanderliegende Sitzungen, ein Wunder, wie Klemperer das zusammenhält) doch stand sie oft genug neben ihm, um sicher zu urteilen: „Er hatte alles. Ob das nun Natur war oder erlernt, das weiß ich nicht. Jedenfalls sang er meines Erachtens total richtig. Er hatte nicht eine einzige Schwachstelle.“
Die Biografie
Natur oder erlernt? Dazu müssen wir uns ein wenig der Biografie des Zauber-Künstlers zuwenden. Die ist übrigens keineswegs so glatt und glücklich verlaufen, wie man das bei einem Gottbegnadeten vermuten könnte. Das Leben des musikalisch so reich Beschenkten beginnt in zum Teil bitterer Armut.
Am 26. September 1930 wird Friedrich Karl Otto Wunderlich als zweites Kind des Ehepaares Paul Edmund und Anna Wunderlich in der pfälzischen Kleinstadt Kusel (heute rund 5.000 Einwohner, kleinste Kreisstadt Deutschlands) geboren.
Der Vater war Militärkapellmeister, die Mutter spielte Geige in einem Damenorchester. Beide stammten nicht aus der Pfalz, sondern aus Thüringen beziehungsweise dem Erzgebirge.
Die Weltwirtschaftskrise hält auch in die kleine Gemeinde 45 Kilometer nordwestlich von Kaiserslautern im Würgegriff, die gepachtete Gastwirtschaft müssen die Eltern bald aufgeben und sich mühsam mit Musikunterricht über Wasser halten. In vielen Kurzbiografien wird der „frühe Tod“ des Vaters 1935 erwähnt, der Selbstmord verschwiegen.
Seine Hoffnung auf eine Dirigentenstelle hatte sich zerschlagen, als Beherberger einer SPD-Geschäftsstelle drangsalierten ihn die seit 1933 regierenden Nazis.
Er weigerte sich, für die Reichsmusikkammer zu arbeiten, verlor seinen Lehrerposten in der Realschule, die Schulden nahmen überhand. Fritz, so wird er von frühester Jugend genannt, hat seinem Vater allerdings das Im-Stich-Lassen innerlich nie verziehen. Sicher ein Grund dafür, dass ihm seine eigene Familie, seine drei Kinder so wichtig waren – er wollte ihnen ein besserer Vater sein als er es an eigenem Leibe erfahren hatte.
Das Erbe von Fritz Wunderlich
Vor allem Barbara Wunderlich kümmert sich voller Hingabe um die Hinterlassenschaft ihrer Vaters – bis heute. Sie gräbt noch immer in Archiven – und fördert wie im Falle der jüngst entdeckten Lied des Steuermann aus Richard Wagners Fliegendem Holländer noch immer bisher Unveröffentlichtes zu Tage.
Die Aufnahme finden Fans in der 2-CD-Box The 50 Greatest Tracks. Überhaupt bleibt uns Zu-Spät-Geborenen ja nur die Konserve dieses „Gold, nach dem wir suchen“ (Rolando Villazon). Die Künstlerbiografie gleicht ab Mitte der 1950er Jahre einem Kometen, der Fritz Wunderlich mit sich zieht in die Welt des Opern-Jet-Sets. Doch ungezählt die Anekdoten, die seine Bodenständigkeit auch im mächtig aufbrausenden Ruhm belegen.
Und seine Selbstzweifel. So diente das Tonbandgerät, das der Techniknarr schon frühestmöglich anschaffte, vor allem auch der Selbstkontrolle, lange bevor das unter Musikern üblich wurde.
Wir verdanken dieser Technikbegeisterung unter anderem die Mitschnitte, wie Wunderlich und sein Klavierbegleiter Hubert Giesen zuweilen fetzenfliegend den Liederzyklus „Dichterliebe“ von Robert Schumann erarbeiten. Oder wie Wunderlich, von seinen Kindern ab und an unterbrochen, an einer effektvollen Kadenz der „Furien“-Arie aus Händels „Xerxes“ feilt.
Doch nicht nur ein Tonbandgerät erwarb der Technikbegeisterte. Auch eine Kamera-Ausrüstung samt Fotolabor und einen waschechten Filmprojektor nebst Schnittplatz schaffte Fritz Wunderlich nach und nach an.
Mit einem für damalige Verhältnisse sehr leistungsfähigen Mikroskop verkürzte er sich langweilige Hotelnächte mit Studien an Mineralien, daheim baute er mit seinem Sohn einen Radioempfänger und lernte in der Freizeit Morsen.
Sprichwörtlich war auch sein Hang zu möglichst ungebremster Mobilität. So schnell es seine Gagen zuließen, kam ein Motorrad unter den Allerwertesten, und neben einem familientauglichen Mercedes musste ein blitzend weißer Porsche 911 (Kennzeichen M- WZ 911) für die flotte Fortbewegung auf der Straße sorgen.
Vielleicht dienten solche Äußerlichkeiten auch dazu, den inneren Dämon ruhigzustellen, abzulenken von der Einsicht in die eigene Unzulänglichkeit.
Denn dass dieser Künstler trotz aller nach außen getragenen Zuversicht, trotz aller Erfolge, trotz allen Lobs von Kollegen und Kennern bis zuletzt stets von Selbstzweifeln gequält, trotz allen Huldigungen von zeitgenössischen Komponisten wie Werner Egk oder Robert Stolz, dass er vom Streben nach Vollkommenheit regelrecht getrieben war, das belegen etliche Fakten, Dokumente und Aussagen.
Doch seine Tonträger lassen – meist – einen Vollkommenen hören. Unten ist, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, eine Auswahl an „ewigen“ Referenzen, an lohnenswerten zeitgenössischen Anthologien, an aktuellen Kompilationen aufgeführt.
Analogfans kommen wie SACD-Highend-Jünger auf ihre Kosten. Wobei der Autor die Erfahrung machte, dass es vor allem gut erhaltene LPs sind, welche die Wunderlich-Welt am überzeugendsten aufschließen.
LowBeats lädt Sie ein, sich beim Second-Hand-Händler ihres Vertrauens einmal in die Klassik-Ecke zu wagen und nach alten Wunderlich-Scheiben zu fahnden.
Doch im Grunde tritt der Tonträger bei Fritz Wunderlich fast komplett zurück hinter den Inhalt. Egal ob digital oder analog, ob physisch zur Hand oder gestreamt: Staunend, wundernd, bewundernd können wir beim Anhören der meisten klingenden Zeugnisse nur wieder diesen Zauber spüren, diesen unerklärlichen, einmaligen, wirkmächtigen Zauber.
Fritz Wunderlich auf Tonträgern: Die LowBeats Empfehlungen
(auf CD und LPs antiquarisch)
Empfehlenswerte Sampler auf LP antiquarisch (auf CD gibt es viele Dutzende)
Zauber einer unvergessenen Stimme: 4 LPs Ariola Eurodisc
Der große deutsche Tenor: 3 LPs EMI
Fritz Wunderlich: Sternstunden der Oper/Ein großer Liederabend/Unvergeßliche Tenorseligkeit: 5 LPs DG
Die aktuellen Veröffentlichungen
Complete Studio Recordings on Deutsche Grammophon: (hier geht’s zum Trailer der DG mit Hörbeispielen)
- S. Bach: Weihnachtsoratorium; Matthäus-Passion, Osteroratorium, Magnificat, Kantate BWV 31
L.v. Beethoven: Missa Solemnis, 4 Lieder
- Haydn: Die Schöpfung
- Berg: Wozzeck
- Kalman: Die Csardasfürstin (Auszüge)
- Lortzing: Zar und Zimmermann
- Monteverdi: L’Orfeo
W.A. Mozart: Die Entführung aus dem Serail, Die Zauberflöte
- Schubert: Die schöne Müllerin, Lieder (darunter An die Musik, Die Forelle u.a.)
- Schumann: Dichterliebe
- Tschaikowsky: Eugen Onegin (dt.)
- Verdi: La Traviata (dt.)
Div. Komponisten: Arien und Lieder
Div. Komponisten: Operettenmelodien
Neapolitanische Lieder
Weihnachtslieder (plus Weihnachtsgeschichte)
Aktuelle LPs (neue Überspielungen / Nachpressungen)
Der junge Fritz Wunderlich
1 LP Clearaudio
Franz Schubert: Die schöne Müllerin
2 LPs; im Klappcover bei DG; in Kassette bei Clearaudio
Der Oratorien-Sänger
Bach, Haydn, Rosenmüller, Telemann
1 LP Clearaudio
Der Kammersänger
Arien, Neapolitanische Lieder, Wiener Lieder
1 LP Clearaudio
Wolfgang Amadeus Mozart
Die Zauberflöte (Auszüge)
1 LP DG
Tatsächlich bekommt man aktuell den wohl besten Eindruck über das Gesamtwerk von Fritz Wunderlich bei KlassikAkzente. Hier finden sich auch Trailer zu den neuen Compilations und Informationen zu fast allen wichtigen Wunderlich Alben.
Weitere aktuelle Beiträge zum Wunderlich-Jubiläum:
Interview mit Eva und Barbara Wunderlich in Crescendo (leider nicht mehr verfügbar)
Beitrag von Thomas Voigt in Fono Forum (leider nicht mehr verfügbar)
Interview mit Barbara Wunderlich bei Pizzicato