Es ist Zeit für eine tüchtige Portion Nostalgie: Jeff Lynne, das begnadetste Ein-Mann-Orchester des Seventies- und Eighties-Pop, setzt das Comeback seines Electric Light Orchestra mit einer Produktion voller opulenter, im typisch Lynne’schen „signature sound“ orchestrierter Dreiminüter fort – und zeigt einmal mehr, welche Idealbesetzung er auch als fünfter Beatle gewesen wäre. Aber zurück zum Wesentlichen: Jeff Lynne’s ELO From Out Of Nowhere ist unser Album der Woche.
Die Position des „fünften Beatle“ ist in der Musikszene bekanntlich ein heiß diskutierter Evergreen: Neil Aspinall oder Andy White? Pete Best oder Stuart Sutcliffe? Oder doch Klaus Voormann möglicherweise …? Einzig Paul McCartney fiel die Entscheidung nicht schwer: „Wenn irgend jemand als fünfter Beatle bezeichnet werden sollte, dann Brian Epstein“, verriet er 2000 im Zuge eines Epstein-Biografie der amerikanischen, 2007 verstorbenen Autorin Debbie Geller.
Dabei hätte es da einen gegeben, der wie kaum ein anderer geeignet gewesen wäre, das kongenialste vierblättrige Kleeblatt der Popmusik zum Quintett zu erweitern – wäre da nicht das Pech der späten Geburt. Jeff Lynne, Jahrgang 1947, war jedenfalls schlicht noch ein paar Jahre zu jung, als die Beatles ab Mitte der 1950er-Jahre die Popmusik auf den Kopf zu stellen begannen. Außerdem: Ob die beiden Kompositionsgötter Lennon & McCartney einen dritten erstklassigen Songwriter neben sich geduldet hätten, wäre erst noch zu beweisen gewesen – gut möglich, dass drei starke Kreativ-Egos eines zu viel gewesen wäre für die Fab Four.
Davon abgesehen aber wäre Lynne eigentlich die Idealbesetzung für diesen Job gewesen: Als Experte für unwiderstehliche Ohrwürmer, als hochtalentierter Melodienschmied und als Direktor eines Pop-Orchesters, das die ganze Bandbreite seiner Klangfarben dramaturgisch sinnvoll einzusetzen weiß. Auch – nicht unwichtig – verkörperte er als Brite mit demselben kulturellen, musikalischen und humoristischen Background seiner Bandkollegen alle nötigen Voraussetzungen quasi in Perfektion. Und irgendwie kann es fast kein Zufall sein, dass Lynne nach Jahren bei der englischen Rockband The Move sein Electric Light Orchestra just 1970 gründete, in jenem Jahr also, als die Beatles sich endgültig erfolgreich zerstritten hatten.
Der Rest ist Geschichte: Rund ein Jahrzehnt fiedelte sich das ELO von Classic- und Prog-Rock bis zu Symphonic- und Disco-Pop und von einem Highlight zum nächsten – man denke nur an Face The Music (1976), A New World Record (1977) und Out Of The Blue (1979): ein Alben-Hattrick, fein austariert zwischen cinemascopischen Orchesterarrangements, ausgefuchstem Pop-Songwriting und stylish-spaciger Seventies-Elektronik. Danach ging es indes deutlich weniger brillant weiter, und nach einem durchwachsenen Spätwerk (Balance Of Power; 1986) fiel der ELO-Stil dann endgültig dem Zeitgeist zum Opfer.
Gut zwei Jahrzehnte zeigte Jeff Lynne sein Händchen für süffige Sounds zwischen Pop und Rock fortan als Produzent für George Harrison, Tom Petty oder Roy Orbison, ehe die Zeit nach rund zwanzigjähriger Sendepause (unterbrochen nur vom halbherzigen 2001er-Versuch Zoom) im Sommer 2014 endlich reif war für ein richtiges ELO-Revival; auf’s Gleis gebracht zunächst mit einem Auftritt im Londoner Hyde Park vor mehr als 50.000 Zuschauern.
2015 folgte dann das Albumcomeback Alone In The Universe, und seither schwebt das blaue ELO-Raumschiff wieder in voller Pracht am Popfirnament, aktuell nun mit From Out Of Nowhere. Und in „Time Of Our Life“, an vorletzter Stelle des zehn kompakte, aber orchestral arrangierte Dreiminüter starken Sets platziert, greift Jeff Lynne das Glück seiner späten Jahre direkt auf: „The whole of Wembley singing along to every little song / 60, 000 mobile phones were shining in the dark of night / Waving and weaving and boy, did they shine / when we struck up with ‘Telephone Line’“, erinnert er sich hier an das Finale seiner 2017er-Tournee, als Band und Fans im ausverkauften Londoner Wembley Stadion einen jener ganz besonderen Ausnahmeabende im musikalischen Rausch feierten – und bilanziert wehmütig: „Oh, what a dream we had that night / we had the time of our life.“ Wie’s damals war im Juni 2017 in London, zeigt übrigens die dazugehörige Live-DVD/-Bluray unter dem Titel Wembley Or Bust – nicht nur für ELO-Fans ein Ereignis.
Die Musik von Jeff Lynne’s ELO From Out Of Nowhere
Der Sound dazu bringt auch anno 2019 alle Zutaten, wie man sie aus den bisherigen ELO-Jahrzehnten und aus Lynnes Producer-Handschrift kennt: der stets leicht blecherne, aber mit viel Hall auf XXL-Format gebrachte und charmant gleichförmige Schlagzeugbeat, das diesmal eher dezent statt hämmernd angeschlagene E-Piano, die üppigen Streicherarrangements, den sehnsuchtsvollen Leadgesang des Chefs, der sich selbst gerne mit multiplizierten Backing-Vocals in call-and-response-Manier antwortet, und natürlich viele markante Riffs auf den elektrischen und breit geschlagene Harmonien auf den akustischen Gitarren.
Auch alle weiteren Songs, allen voran den butterweichen Midtempo-Ohrwurm „Down Came The Rain“, würde das geschulte Ohr auch im Halbschlaf nachts um halb drei sofort als lupenreine ELO-Kompositionen erkennen. „One More Time“ stellt die Weichen auf flott getakteten Rock’n’ Roll im Stil der späten Fünfziger-Jahre; „Goin’ Out On Me“ huldigt den Fifties im Balladenstil eines Roy Orbison. Und die Akkordfolgen in „Help Yourself“, „Losing You“ oder „Sci-fi Woman“: feinste Beatles-Reminiszenzen, an denen sich andere Musiker jahrelang vergebens die Finger blutig üben würden, die Lynne aber mit schlafwandlerischer Lässigkeit aus dem Handgelenk schüttelt.
Nichts zu meckern also? Nun ja: Mit 32:39 ist das Programm nicht allzu üppig ausgefallen, „All My Love“ fährt zwar einen karibisch leichtfüßigen, beinahe „Club Tropicana“-artigen Rhythmus auf, bleibt aber melodisch ungewohnt schwach auf der Brust, und warum Lynne gleich eine ganze Reihe an sich überzeugender Songs („From Out Of Nowhere“, „One More Time“) in fantasielosen fade-out versickern lässt, anstatt ihnen ein angemessenes Outro zu spendieren, bleibt sein Geheimnis.
Und dass From Out Of Nowhere unterm Strich so hoffnungslos altmodisch, uncool und aus der Zeit gefallen daherkommt wie ein VW Golf Baujahr 1976: Wer hätte ernsthaft etwas anderes erwartet? ELO 2019 leben nicht von musikalischer Modernität, sondern verkörpern klassische Werte mit nostalgischem Charme.
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