Welcome back: Erst 2019 meldete sich nach über zehnjähriger Abwesenheit die norwegische Band Madrugada 2019 zunächst mit einer glanzvollen Livetournee zurück – nun legt das Trio um Frontmann Sivert Høyem mit einem neuen Studioalbum nach: Mit schwermütig-kunstvollen Songs präsentiert Høyem sich als gut gereifter „Elder Statesmen“ des Indierock – und auf Augenhöhe mit Großmeistern der Melancholie wie Nick Cave oder den Tindersticks. All das macht Madrugada “Chimes At Midnight” zu unserem Album der Woche-
Zehn, elf Jahre sind im schnelllebigen Musikbusiness eine halbe Ewigkeit – wer heutzutage so lange nichts von sich hören lässt, kann fix mal in Vergessenheit geraten. Nichts dergleichen hingegen bei Madrugada: Als die norwegische Indierock-Band 2019 nach über zehnjähriger Auszeit (hervorgerufen nicht zuletzt durch den unerwarteten Tod ihres Gründungsmitglieds und Topgitarristen Robert Burås im Juli 2007) ihr Livecomeback verkündete, konnten sich Sivert Høyem & Co. der Treue ihrer alten Fans sicher sein – und gleichzeitig auch noch ein paar neue Hinzugekommene begrüßen.
Alles zusammen sorgte für ausverkaufte Hallen und strahlende Gesichter, und zwar sowohl oben auf der Bühne als auch unten im Publikum. Niemals in den knapp 25 Jahren seit der Gründung habe es so viel Spaß gemacht, in Madrugada zu sein, kommentierte das Trio unisono. „Es war, als ob sich das letzte Puzzleteil an seinem Platz eingefügt hätte“, ergänzte Frontmann Sivert Høyem und bekannte: „Ich hatte mich auf der Bühne noch nie so wohlgefühlt. Es war überhaupt kein Stress, ganz anders als früher, wo ich immer großen Druck empfunden habe.“ Diese Kombination aus neu hinzugekommener Entspanntheit und gewohnter Intensität machte das Live Comeback zu einem wahren Triumphzug. Im Mittelpunkt der Auftritte: das kultige Debütalbum „Industrial Silence“ von 1999, noch heute ein Klassiker bei vielen Indierock-Freunden.
Doch lediglich mit altbekannten Songs auf der Nostalgiewelle weiter zu surfen, kam für Madrugada nicht in Frage. Und so versammelte sich diese Band, die normalerweise eine halbe Ewigkeit braucht, um sich selbst auf die kleinsten Dinge zu einigen, kurz nach Ende ihrer Tournee im Dezember 2019 schon wieder im Proberaum, um an einem komplett neuen Album zu arbeiten. Anfangs in den durchaus legendären, schon von Giganten wie Led Zeppelin, Fleetwood Mac, den Doors oder den Rolling Stones bespielten Sunset Sound Studios in Los Angeles, später dann daheim in Norwegen (im Velvet Recordings Studio nahe Oslo), entstand schließlich Madrugada “Chimes At Midnight”. Ihren finalen Schliff erhielten die zwölf neuen Songs dann in Berlin.
Einst wie heute im Zentrum des Sounds: das rauromantische Timbre Sivert Høyem, das der Madrugada-Frontmann überwiegend als sonoren Bassbariton einsetzt, immer mal wieder auch ins Falsett emporsteigen lässt – ein wenig gut dosiertes Tremolo inklusive. Das Kerntrio von Madrugada komplettierten dann wie gewohnt Bassist Frode Jacobsen und Schlagzeuger Jon Lauvland Pettersen; dazu kommen mit Christer Knutsen (Gitarre, Piano) sowie dem Ausnahmegitarristen Cato Thommassen (Obacht bitte: Der Bursche ist live ein Naturereignis!) zwei langjährige, sozusagen frei assoziierte Sidemen der Extraklasse. Alle fünf skizzierte schließlich zusammen ein Set voll dichter, nordisch weitläufiger bis amerikanisch durchwirkter Songs von zeitloser Schönheit. Denn wüsste man nicht um das aktuelle Entstehungsdatum von „Chimes At Midnight“ – man könnte auch auf eine Produktion von vor zwanzig Jahren tippen.
Und doch gibt es manche markante Unterschiede zu den Anfangstagen von Madrugada. „Wir sind älter. Wir sind alle Väter“, sinniert Sivert Høyem. „Ich glaube, ich habe eine differenziertere Sicht auf das Leben als vor 20 Jahren, eine größere Fähigkeit, mehr als nur eine Sache gleichzeitig zu fühlen. Die Ästhetik von Madrugada war sehr New York City und Berlin – wir waren eine Punkband, die den Blues spielte. All diese Elemente sind weiterhin da. Doch dieses Mal verspürten wir einen Reiz, uns stärker den verträumten Aspekten unseres Schaffens zu widmen.“ Und Lauvland Pettersen bescheinigt dem neuen Album „einen stärkeren Singer-Songwriter-Vibe“. Alle diese Attribute rücken „Chimes At Midnight“ ein gutes Stück weg aus dem Fokus des Indierock und hin zu ebenfalls in Ruhe gereiften Melancholikern wie Nick Cave oder den Tindersticks.
Die Musik von Madrugada „Chimes At Midnight“
Einzelne Songs aus dem stolze 58 Minuten langen Programm hervorzuheben, fällt aufgrund der tendenziell moderaten Gangart nicht ganz leicht. Denn in toto funktioniert „Chimes At Midnight“ vor allem als Gesamtkunstwerk, als musikalisches Gemälde im Stil von schwermütigen Meistern der Landschaftsmalerei wie William Turner und Caspar David Friedrich.
Dabei geht es – druckvoll-luftig produziert von Alternative-Topmann Kevin Ratterman (Ray LaMontagne, My Morning Jacket, The Flaming Lips) – durchaus dynamisch und mit großem Besteck zur Sache. Doch Madrugada treten eben nicht mal einfach die Tür ein, sondern gönnen ihre oftmals über fünf Minuten langen Kompositionen Zeit zu wachsen, ihre Dramaturgie peu-à-peu zu entfalten. So verwandelt sich etwa „Call My Name“ nach einem getragenen Anfangsdrittel in ein fiebriges Gitarrencrescendo, um dann weihevoll auszuklingen. Auch „Stabat Mater“ nimmt sich 5:18 Zeit, um seine fast kirchenmusikalische Intensität in ganzer Pracht zu entfalten.
„Help Yourself To Me“ bezaubert mit atmosphärisch dichter, dunkler Romantik, während in „Running From The Love Of Our Lives“ oder partiell auch in dem wehmütigen Americana-Rocker „Slowly Turns The Wheel“ schon mal dichte Gitarrenwände gemauert werden. Noch weiter westwärts geht die Reise mit dem „Empire Blues“ und mit sanft trabendem Country-Beat sowie singender Bottleneck-Gitarre. „Dreams At Midnight“ wiederum mischt alle Soundkomponenten zu einem Zwitter aus Ballade und Midtempo-Song, bei dem live die Feuerzeuge gezückt werden dürfen. „You Promised To Wait For Me“ sowie „The World Could Be Falling Down“ fahren dann gar ein opulentes Streicherarrangement und eine Orchesterpauke auf, ehe dieser zwar sinistere, zugleich aber sanftmütige und optimistische Songzyklus in der Ballade „Ecstasy“ mit hauchzarten Pianotönen und filigranen Glockenspiel geradezu andachtsvoll ausklingt.
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