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Sieben Jahre später: Seed hat mit Bam Bam nach langer Abstinenz wieder ein Top-Album abgeliefert – ein Statement für mehr Buntheit in der Gesellschaft

Seeed Bam Bam – das Album der Woche

Sieben Jahre nach ihrem letzten Album werfen Seeed ihr Sound-System aus Dancehall, Reggae und HipHop wieder an – gut so:  Seeed Bam Bam, das fünfte Album des Berliner Musik-Kollektivs, versüßt den beginnenden Herbst mit sommerlich-beschwingten Grooves und setzt zugleich ein szene-übergreifendes Statement für Zusammengehörigkeit, Toleranz und Vielfalt.

Leute, wie die Zeit vergeht: Mal eben ein paar Cocktails geshakt, ein paar Runden im Schwimmbad und im Wald gedreht – und schwupps ist wieder ein Sommer vorbei. Mal eben einen Business-Relaunch hingelegt und zwei, drei Dutzend neue Projekte gestemmt (Achtung: das zweite „mal eben“ war jetzt echt ein Scherz …) – und schwupps sind wieder vier Sommer vergangen. Und das letzte Seeed-Album liegt auch schon wieder:  genau – unglaubliche sieben Jahre zurück.

Seeed Bam Bam: Grppenbild
Leider nicht mehr in Fußballmannschaftsstärke am Werk: Seeed sind seit 2018 nur noch zu zehnt – der elfte Mann, Sänger Demba Nabé, starb im Mai vergangenen Jahres. Man vermisst ihn unverändert. Aber es muss ja weitergehen: Sieben Jahre nach dem letzten Album „Seeed“ meldet sich das Berliner Dancehall-Reggae-HipHop-Kollektiv nun mit einem vehementen „Bam Bam“ zurück (Foto: E. Weiss)

Jetzt ist das Berliner Tentett wieder da, bringt allerbeschwingteste sommerliche Vibes zurück in den heimischen Herbst – und startet durch wie nie zuvor. Denn es spricht so ziemlich alles dafür, dass Seeed Bam Bam in die Eliteliga der deutschen Popacts aufsteigen wird: Sämtliche 27 Konzerte der gerade gestarteten Herbst-/Wintertournee waren schon nach kürzester Zeit ausverkauft, das Album jettete am Veröffentlichungstag von 0 auf 2 in der LP-Hitparade – Seeed sind die derzeit wohl größte Konsens-Band der deutschen Musikszene und reif für neue Branchenrekorde.

Und warum?  Seeed Bam Bam zeigt exemplarisch die Qualitäten der Herren Fox, Dellé und dem Rest ihrer coolen Gang: eine positive, aber nie seichte Grundhaltung mit einem guten Schuss Berliner Schnauze an der richtigen Stelle, elefantöse Bläser, mal quirlige, mal zentnerschwere Grooves zwischen Dancehall, Reggae und HipHop. Alles zusammen ergibt einen flow, auf dem es sich lässig durch fast jede Lebenslage surfen lässt. Seeed hört man auf der Fridays-for-Future-Demo ebenso wie in der schicken Werbeagentur im Fabrikloft und beim loungigen Frisör um die Ecke.

Und das ist gut so. Denn dieses Kollektiv, mehr Sound-System als klassische Band, liefert musikalischen Klebstoff für eine Gesellschaft, in der längst viel zu viele Spaltstoffe produziert werden. Seit fast zwanzig Jahren ist der Seeed-Style ein willkommenes und wichtiges Statement für Zusammengehörigkeit, Toleranz und Vielfalt und ein Stachel im Fleisch all jener, die Abschottung, Autokratie und Dekonstruktion predigen, weil ihnen Demokratie zu anstrengend und Meinungsvielfalt zu lästig ist.

So – und jetzt zur Musik:  Seeed Bam Bam fügt dem Sound der Kapelle nach siebenjähriger Auszeit im Grunde keine neuen Facetten hinzu, gibt aber allemal ein fluffiges Gesamtkunstwerk ab, das bestens unterhält und Beine, Hirnwindungen und den Hormonhaushalt gleichermaßen auf Trab bringt.

„Ticket“ (zum Videoclip bitte hier entlang ) eröffnet leichtfüßig mit luftig klappernden Afrobeat-Rhythmen und quirlig-rudimentären teabox-Gitarren. Dazu ein bisschen Gebläse – mehr braucht es nicht, um Füße, Hüften und Fingerspitzen auf Touren zu bringen.

Mit „Lass sie geh’n“  biegt das Album in den klassischen Seeed-Stil ein: laaangsamer Reggae-Beat, fette Bläser ein bisschen Dancehall-Wumms und ein Text, der Abschied und Neustart zugleich thematisiert.

G€LD“, ein Kopfnicker der Extraklasse  philosophiert dann zu moderner Elektronik und allerlei Mischpult-Gimmicks darüber, was man mit Geld heute so an Gutem tun oder welchen Unsinn man damit anstellen kann und wo der Zaster heutzutage so überall herkommt: Die Jungs von der Werbeagentur grinsen sich eins – der Frisör um die Ecke wundert sich.

Der Mittelteil des elf Songs starken Programms gehört dann den Features und Kollaborationen, ohne die es heutzutage kaum mehr geht in der Szene. In dem Großstadtpanoptikum „Immer bei dir“ („Alles gut im Turm von Babylon / jeder tunt seine Fassade um“) assistiert zunächst Kollege Trettmann, inzwischen zur Führungskraft des deutschen Rap gereift, mit minimalem Autotune-Einsatz und trappigen Sounds. So nah wie lange nicht segeln Seeed hier am Zeitgeist, halten aber noch genug Abstand, um sich demselben nicht zu sehr anzubiedern.

„Lass das Licht an“ eignet sich in seiner je nach Sichtweise anzüglichen oder lustvollen Haltung perfekt für ein Gastspiel von Deichkind, der großen Chaos- und Anarcho-Combo der deutschen HipHop-Rap-Elektro-Szene. Anschließend verkörpert die Berliner Rap-Lady Nura in „Sie ist geladen“ den weiblich-resoluten Teil einer Zweierbeziehung und kickt die klassische Rollenverteilung zwischen ihm und ihr mal eben in Stücke. Und wer sich hinter Salsa 359, dem Feature in der Partyhymne „Love & Courvoisier“ verbirgt, werden Kenner der deutschen HipHop-Szene bestimmt bald herausfinden.

Als Insel der Hoffnung funktioniert dann „Komm in mein Haus“: Erst skizzieren Seeed ein Endzeit-Szenario („Der Himmel schwer und grau, keiner geht mehr nach draussen / Die Schwalben fliegen tief, die Hunde werden laut / alles versinkt im Regen, alle wie blind im Nebel“), dann besinnt man sich auf die Kraft, die in der Ruhe und einer gemeinsamen Community liegt: „Egal woher du kommst, an welchen Gott du glaubst / gibst du die Welt nicht auf, dann komm in mein Haus / atme tief ein, atme tief aus / öffne dein Herz, mach die Augen auf / komm in mein Haus“.

„No More Drama (Alles Pech verbraucht)“ schöpft dann nochmals aus dem Vollen und würde mit zackigen, karibisch leichtfüßigen Grooves und voluminösen Bläsern bestens beim Berliner Festival der Kulturen oder beim Londoner Notting Hill Carneval funktionieren, ehe der Schleicher „What A Day“, übrigens die einzige englischsprachige Nummer im Programm, den Vorhang mit fast barjazzigen Klängen schließt.

Seed Bam Bam Cover
Seeed Bam Bam erscheint bei BMG Rights im Vertrieb von Warner Music und ist erhältlich als CD, LP und Download (Cover: Amazon)
Seeed
Bam Bam
2019/10
Test-Ergebnis: 4,1
SEHR GUT
Bewertungen
Musik
Klang
Repertoirewert

Gesamt


Autor: Christof Hammer

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Seit vielen Jahrzehnten Musikredakteur mit dem Näschen für das Besondere, aber mit dem ausgewiesenen Schwerpunkt Elektro-Pop.