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Slowdive „Everything Is Alive“
Vertreter der Generationen Y und folgende könnten hinter „Shoegazer“ eine neue Sneaker-Marke vermuten – Ältere hingegen wissen: Dieser Begriff steht für eine kontemplativ-wavige Spielart des angelsächsischen Gitarrenpop aus den 1990er-Jahren. Nun zeigen die Shoegaze-Altmeister Slowdive um Rachel Goswell und Neil Hastead (mit Kappe) einmal mehr die unvergängliche Schönheit dieser sphärischen Klanglandschaften (Foto: I. Pop)

Slowdive „Everything Is Alive“: das Album der Woche

Knapp dreißig Jahre nach den Glanzzeiten von Shoegazer-Bands wie My Bloody Valentine oder Ride zeigen die Kollegen von Slowdive einmal mehr die zeitlose Faszination dieses Stils: Auf ihrem neuesten Album malt das Quintett aus Reading mit wavig-intensiven Gitarren- und Synthieklängen intensive Soundlandschaften von herbstlich-melancholischer Schönheit. Slowdive „Everything Is Alive“ ist daher unser Album der Woche.

Die musikalischen Gräben zwischen den Generationen – so der stete, unausweichliche Gang der Geschichte – werden von Jahr zu Jahr tiefer und breiter: Welche/r Dreißigjährige kennt heute noch Acts wie die Simple Minds, ABC oder Grace Jones? Und selbst die frühen 2000er-Jahre liegen für die Angehörigen der Generationen Y abwärts (by the way: Was kommt eigentlich nach Z – fängt man dann wieder von vorne an im Alphabet?) in tiefstem Dunkel. Franz Ferdinand, die Kooks, Mando Diao? Nie gehört.

Für die etwas Jüngeren unter den LowBeats-Leser*innen deshalb ein kurzer Abstecher ins Lexikon der Popmusik, Buchstabe S wie Shoegaze: Ende der 1980er-Jahre tummelten sich diverse Vertreter dieses Genres in Clubs und mittelgroßen englischen Konzerthallen. Und immerhin vier, fünf Jahre lang schrieben Bands wie My Bloody Valentine, die Cocteau Twins oder Ride mit wavigen, gleichwohl sphärisch-verhangenen bis märchenhaft verwunschenen Sounds ein paar hübsche kleine Kapitel der angelsächsischen Popgeschichte – um in Zuge des wechselnden Zeitgeists wenig später als eskapistische Gitarrenromantiker verunglimpft zu werden, die während ihrer Konzerte immer reichlich verpennt auf ihr Schuhwerk starrten (daher auch der Name dieses Genres).

Ergänzt um zeitgenössische Elektronik, klingt dieser Sound als Dreampop aber auch im neuen Jahrtausend durchaus noch stilvoll nach – man denke nur an Bands wie Beach House und auch The XX. Um die Ur-Shoegazer ist es zuletzt allerdings still geworden. Lush oder Spacemen 3 sind längst Geschichte; My Bloody Valentine ließen zuletzt 2013 von sich hören. Einzige Überlebende sind Ride aus Oxford – und natürlich Slowdive. Schon 2017 gelang der Band aus Reading nach zwanzig Jahren Funkstille mit dem selbstbetitelten Viertlingswerk „Slowdive“ ein famoses Comeback; jetzt folgt Album Nummer 5. Und wieder lohnt das Hinhören. „Everything Is Alive“ verzichtet dabei auf jedes stylishes Beiwerk, sondern konzentriert sich in genretypischer Manier ganz auf eine höhenverliebte, gleichwohl von einem satten Bass begleitete Kombination aus verträumten Gesangslinien und sphärisch-wavigen Tasten- und Saitenklängen.

Wo 2017 freilich noch raue, aber stilvoll domestizierte Post-Punk-Akzente für künstlerische Reibungsflächen sorgten, bleibt es diesmal weitgehend bei einer wohltemperierten Gangart, die gerade recht kommt zu den vor der Tür stehenden Herbsttagen. Man kann das als Verlust empfinden – aber auch fokussiert auf einen abstrakteren epischeren, weit ausgreifenden Sound bleibt der Slowdive-Stil, produziert und gemixt von Shaun Everett (The War On Drugs, Alvvays) mit den kathedralesken, für Shoegaze-Produktionen unbedingt erforderlichen Hallräumen ein Ereignis.

Die Musik von Slowdive „Everything Is Alive“

„Shanty“ (das mit einem Seemanslied oder mit dem kürzlichen Hype um  „Wellerman“ Nathan Evans nicht das Geringste zu tun hat) eröffnet mit prachtvoll oszillierenden, akkurat mit grobkörnigen Gitarrenflächen verzahnten Synthesizerklängen, ehe ab 0:47 eine E-Gitarre und ein mystisch-metrischer Beat hinzutreten. Darin eingebettet: die wunderbar miteinander harmonierenden Stimmen des Vocal- (und Gitarren-) Duos Rachel Goswell und Neal Halstead sowie silbrig-schöne Sphärenklänge, bei denen nicht klar wird, ob sie aus dem Synthesizer kommen oder aus einer Akustikgitarre.

Noch deutlich kontemplativer, feierlicher klingt dieser typische Slowdive-Stil dann im nachfolgenden „Prayer Remembered“, das den Background von „Everything Is Alive“ am ehesten erahnen lässt. Denn sowohl Rachel Goswell als auch Schlagzeuger Simon Scott mussten im Umfeld der Albumproduktion Abschied von ihren Elternteilen nehmen: Goswell betrauerte 2020 den Tod ihrer Mutter, Scott verlor im selben Jahr seinen Vater. „Es gab tiefgreifende Veränderungen für einige von uns persönlich“, sagt Rachel Goswell, betont aber den Charakter des draus entstandenen Albums.

‚Everything Is Alive‘ ist schwer von Erfahrung, aber jede Note ist ausgeglichen, weise und unbedingt auf Hoffnung ausgerichtet. Diese Musik verkörpert auf subtile Weise sowohl Traurigkeit als auch Dankbarkeit, Erdverbundenheit und Aufschwung“, so Goswell weiter. Und auch Neil Halstead findet passende Worte für den Umgang der Band mit Verlust und Trauer. „Das Album ist emotional ziemlich eklektisch, aber es fühlt sich auch hoffnungsvoll an. Es würde sich nicht richtig anfühlen, jetzt eine wirklich dunkle Platte zu machen“, erklärt er am Beispiel der ersten Single „Kisses“.

Ganz in diesem Geist zieht dann zunächst auch „Alive“ licht, leicht, feingliedrig und anfangs raffiniert semi-akustisch seine Bahnen, um sich nach und nach mit allen elektronischen Bauteilen aus dem Slowdive-Baukasten zur epischen Dreampop-Hynme zu verdichten. „Andalucia Plays“ kombiniert dann eine Lagerfeuergitarre mit geradezu weihevollem Schönklang, ehe „Kisses“ mit pochendem Midtempo-Beat und New-Order-artigen Bassfiguren von Nick Chaplin aufwartet und die elektronischere Seite von Slowdive betont.

Das flauschige „Skin In The Game“ erinnert dann entfernt an einen OMD-Song (Achtung: Das war ein lupenreines Kompliment!), während zum Finale „Chained To A Cloud“ und insbesondere „The Slap“ rhythmisch nochmals eine Schippe drauflegen und diesem Album einen synthiepop-lastigen Ausklang bescheren und die zuvor vermissten Post-Punk-Anklänge auffahren. Tipp, beziehungsweise Empfehlung, für dieses zwar lupenrein „shoegaze-ige“, gleichwohl abwechslungsreiche 41-Minuten-Programm: unbedingt in gehobener Lautstärke (oder gleich via Kopfhörer) abspielen – erst dann entfalten diese Walls of Sound ihre ganze Eindringlichkeit, Schönheit und Intensität.

Slowdive „Everything Is Alive“ Cover
Slowdive Everything Is Alive erschient bei Dead Oceans im Vertrieb von Cargo und ist erhältlich als CD, als Stream und Download und als LP in durchsichtigem und in rotem Vinyl (Cover: Qobuz)

Die Erstauflage aller physischen Produkte wird mit einer limitierten Edition des Artworks ausgeliefert. Zudem gibt es eine Deutschland-exklusive LP-Pressung auf mintgrünem Vinyl sowie ein auf 200 Stück limitiertes exklusives Bundle inklusive Slipmat.

Bewertung

Slowdive „Everything Is Alive“
2023/09
Test-Ergebnis: 4,4
SEHR GUT
Bewertungen
Musik
Klang
Repertoirewert

Gesamt

Autor: Christof Hammer

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Seit vielen Jahrzehnten Musikredakteur mit dem Näschen für das Besondere, aber mit dem ausgewiesenen Schwerpunkt Elektro-Pop.