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Nordisch by nature: Die Friesen-Rocker Turbostaat stammen aus Husum und Umgebung – die vor der friesischen Küste verstreuten „Uthlande“ kennen Jan Windmeier (im schwarzen T-Shirt) & Co. daher ziemlich gut. Wichtiger als eine Eins in Heimatkunde, pardon: Geografie: Das Quintett liefert Punkrock der Extraklasse – Moshpit-taugliche Hymnen mit Haltung und Botschaft (Foto: A.Hornoff)

Turbostaat Uthlande – das Album der Woche

Klare Kante in Sachen Text und Haltung, zugleich hörbar gereifter und ausdifferenzierter im musikalischen Ausdruck: Schon lange war deutscher Punkrock nicht mehr so wertvoll wie heute – man denke nur an Bands wie Pascow, Love A, Maffai oder Feine Sahne Fischfilet. Mit rund zwanzig Jahren Dienstzeit gehören Turbostaat fast schon zu den Senioren dieses Genres, bringen Sound und Botschaft aber noch immer glänzend unter einen Hut. Das neue Album des Quintetts aus Husum verbindet Persönliches und Politisches, Punk und Post-Punk zu fulminanten Sittengemälden über ein Land, das zwar nicht auf der Klippe steht, wohl aber auf der Kippe. Turbostaat Uthlande ist unser Album der Woche.

Zuerst ein wenig Nachhilfe für alle, die ungefähr südlich von Rotenburg/Wümme, Nienburg/Weser oder Lingen/Ems leben: Uthlande lautet im Friesischen der Oberbegriff für die im Wattenmeer verstreuten Inseln, Halligen und Marschen – zwei, drei Dutzend Eilande zwischen Meer und Festland, ein Lebensraum hart am Wind, selbst unausweichlich dem Untergang geweiht (eine reine Zeitfrage) und zugleich lebensrettende Pufferzone und Wellenbrecher für die Festlandküste.

Die Friesen-Punks von Turbostaat – Heimathafen: 25813 Husum, die „graue Stadt am Meer“ – kennen diese Gegend und ihre Menschen sehr genau. Leicht ist das Leben dort für die wenigsten; schön ist es dennoch – zugleich wegen und trotz seiner Umstände. Eine steife Brise aus Nord-Nordwest haut einem hier gefühlt 300 Tage pro Jahr tüchtig die Lampe voll, das Meer frisst ohne Gnade Meter um Meter Lebensraum. Doch der ist ein Traum für nordische Seelen: eine Symphonie zwischen Watt und Marschen, dirigiert vom Rhythmus der Gezeiten.

Aber natürlich ist da noch der ganze Rest, das große Ganze drum herum: Der soziale und materielle Existenzkampf, rechte Propaganda, Ausgrenzung, Mobbing und Hatespeech machen auch vor 24888 Schwienholt oder 25770 Hemmingstedt nicht Halt. „Schwienholt“ und „Hemmingstedt“ heißen denn auch zwei der zwölf neuen Songs, die die Punkrocker aus Nordfriesland für Turbostaat Uthlande geschrieben haben: Szenen aus der Provinz, typisch norddeutsch auf den ersten Blick, aber universell auf den zweiten – Schwienholt und Hemmingstedt sind überall. „Der Februar zu warm und die Freunde waren weg / so scheiße begann das neue Jahr / auch ein Förderband könnte Regale leicht befüllen / das war es jetzt?“ fragen Turbostaat in „Schwienholt“, während es in „Hemmingstedt“ heißt: „Müde ziehst du noch an der Kippe, es flammt auf / vielleicht geht es zurück nach Hamburg, wo das Schulterblatt noch zuckt, und du fühlst dich wie das Rohöl, zerrissen und entsalzt“.

Doch Turbostaat schauen nicht nur auf sich und auf ihr Millieu, sondern auch dahin, wo andere wegsehen – in dem rasanten Opener „Rattenlinie Nord“, zu dem es auch ein Video gibt, geht es etwa auf um die alten und neuen Nazis, die gleich um die Ecke wohnen. „Grau- und Hartgesichter stieren am Twedter Markt zufrieden auf ein Leben hier, das sich sehen lässt / und du fragst manchmal im Stillen, was hat er damals wohl gemacht? / Dreimal darfst du raten!“ liest Sänger Jan Windmeier harsch einer Generation die Leviten, die nach dem Krieg schwuppdiwupp an kollektivem Gedächtnisschwund erkrankte. Und Windmeier weiß genau, wo das allgemeine Wegsehen und Vergessen hinführt: „Und die total beknackten Enkel wollen einfach nichts mehr hören / und nach dem Ende ihrer Party wirkt das Gift in ihren Venen.“

Die Musik dazu? Großer, griffiger Rock mit punkigen Genen, von Moses Schneider (Beatsteaks, Tocotronic, Fehlfarben) mit beachtlichem Wumms produziert: Peter Carstens drischt ein Frontal-Schlagzeug, das für Druck und Tempo sorgt, Tobert Knopp zupft einen resoluten Bass im XXL-Format, die Saitenmänner Rollo Santos und Marten Ebbsen mischen melodisches, Smiths-artiges Geklingel mit schön hemdärmelig-lärmigen Riffs, und Windmeier vereint in seinem Gesang Frust mit Hoffnung, kontrollierte Analyse mit hemmungsloser Wut – in „Hemmingstedt“ geht sein Schrei nach 2:53 quasi durch Mark und Bein. Und manchmal klingen die Saitensounds hier auch wie Morsezeichen („Schwienholt“): SOS-Signale aus einer Welt, die auf der Kippe steht.

Auf diesem Fundament errichten Turbostaat ein Album voll durchwegs Moshpit-tauglicher Songs – allen voran die Highspeed-Rocker „Heilehaus“, „Nachtschreck“, „Luzi“ oder „Brockengeist“ (hier der Clip. Aber Uthlande bringt mehr als nur ein Dutzend Pogo-tauglicher Hymnen für die klassische Zielgruppe. Weit jenseits von bierseeligem Fun-Punk stehen Turbostaat für eine Haltung, die das Unbequeme nicht scheut, die Party nicht zum Programm erhebt, sich schon gar nicht (man ist schließlich Punk-Rocker) in ungefähren Eskapismus flüchtet: Erst kommt hier die Message, dann die äußere Formgebung. Dass Uthlande beides stimmig miteinander vereint, macht dieses Album zum Ereignis und zu einem frühen Highlight des noch jungen Jahres 2020.

Turbostaat Uthlande Cover
Turbostaat Uthlande erscheint bei PIAS im Vertrieb von Rough Trade und ist erhältlich als CD, LP und Download (Cover: Amazon)
Turbostaat Uthlande
2020/02
Test-Ergebnis: 4,3
SEHR GUT
Bewertungen
Musik
Klang
Repertoirewert

Gesamt

 

Autor: Christof Hammer

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Seit vielen Jahrzehnten Musikredakteur mit dem Näschen für das Besondere, aber mit dem ausgewiesenen Schwerpunkt Elektro-Pop.