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Benjamin Biolay im Rennwagen
Großes Kino vor großer Kulisse: Für sein neues Album „Grand Prix“ nutzt Benjamin Biolay die Welt der PS-Hassardeure für einen abwechslungsreichen Songreigen über das Leben, den Motorsport und den ganzen Rest... (Foto: Polydor)

Benjamin Biolay Grand Prix: das Album der Woche

Frankophil und weltmännisch, chansonesk und Pop-affin: Auf seinem neunten Studioalbum überzeugt Benjamin Biolay mit  lässigen Songs voll philosophischem Tiefgang und liefert ein sommerlich beschwingtes Album mit nostalgischer, die Sounds der 60er bis 90er-Jahre umarmender Patina: Benjamin Biolay Grand Prix ist unser Album der Woche.

Seit fast zwei Jahrzehnten beliefert der französische Fast-Alles-Könner Benjamin Biolay die Musikszene mit allerlei charmanten, leichtfüßig zwischen Genres von Pop über Chanson bis New Wave und Latin Music  umhertänzelnden Alben. Warum der Sänger, Multiinstrumentalist, Komponist, Arrangeur und Produzent – Absolvent des Konservatoriums Lyon in Tuba und Violine obendrein – hierzulande dennoch eher ein Geheimtipp geblieben ist? Am wahrscheinlichsten liegt es an der Sprachbarriere: Erkennbar fühlt sich Biolay im heimischen Idiom am wohlsten; nur sehr sporadisch wagte er sich bisher ins Englische vor.

Das limitiert zweifellos die Breitenwirkung, nicht aber den Reiz an der Musik des 47-jährigen aus Villefranche-sur-Saône nahe Lyon – zumindest nicht auf Grand Prix, das Kenner durchaus als das bislang beste Album in dessen Karriere bezeichnen könnten. Und tatsächlich: Eingewoben in eine Fülle an popkulturellen Referenzen, hat Biolays Musik schon lange nicht mehr so viel Spaß und Kurzweil bereitet wie hier – und das gilt für Biolay-Experten wie für BB-Neulinge gleichermaßen.

Wer sich ein wenig in der Popmusik auskennt und auch im Rennsport, weiß flugs Bescheid: Benjamin Biolay Grand Prix zitiert natürlich das gleichnamige, 1995 erschienene Kultalbum der Britpop-Formation Teenage Fanclub wie auch John Frankenheimers ikonischen Formel-1-Film von 1966 mit Legenden wie Yves Montand und Françoise Hardy in den Hauptrollen. „Das Leben der Piloten hat mich schon immer von einem romantischen und fast schon shakespearesken Standpunkt aus fasziniert“, kommentiert „BB“ Nummer 2 diesen Ansatzpunkt.

Die Musik von Benjamin Biolay Grand Prix

Biolays Beziehung zu seinem Sujet ist indes durchaus differenziert bis sogar zwiespältig, und er nutzt den selbstgewählten Rahmen eher für eine Allegorie auf das Leben als lediglich für eine unreflektierte Heldenverehrung der PS-Hasardeure. Explizit Bezug zur Rennsport-Szene nimmt eigentlich nur der Titelsong, der den tödlichen Unfall von Formel-1-Pilot Jules Bianchi beim Großen Preis von Suzuka 2014 aufgreift.

Dennoch funktioniert Grand Prix als reizvoller erzählerischer Rahmen: Während etwa viele deutsche Songwriter der jüngeren bis mittleren Generation meist in ungefährer Befindlichkeitspoesie steckenbleiben, liegen hier ein Hauch von Beat-Poetry sowie die End- und Allgemeingültigkeit des frankophilen Existenzialismus über den Kompositionen. „Mon cœur c’est un vieux moteur / Si tu soulèves le capot“ – „Mein Herz ist ein alter Motor / Wenn du die Motorhaube anhebst“ singt Biolay in „Comme une voiture volée“, und die Frau, die er hier begehrt, ist „so schön wie ein gestohlenes Auto“.

„Ma route“ thematisiert das Reisen im Spiegel der Jahreszeiten, „Souviens-toi l‘ été dernier“ verhandelt die Vergänglichkeit der Liebe, „La roue tourne“ sogar die grundsätzliche Endlichkeit des menschlichen Daseins an sich. Biolay weiß, was er seinen Vorgängern aus der französischen Musikszene schuldig ist, und er folgt deren ins Philosophische hineinreichenden Fußstapfen mit der lässigen Verve eines durch Höhen und Tiefen gegangenen Lebemanns und Bonvivants. Davon kündet schon sein ganz der Sangesschule der grande nation mit Vorgängern wie Serge Gainsbourg oder Joe Dassin verpflichtetes Timbre – welcher Brit-Popper oder Rock-Bengel amerikanischer Herkunft würde sich ernsthaft einen solch sonor-blasierten, theatralischen Bariton erlauben wie Biolay ihn auf fast jedem seiner Werke kultiviert?

Und doch: Nur den grüblerisch-melancholischen Chansonnier zu geben, war Biolay stets zu wenig. Bereits in den Anfangsjahren seiner Karriere huldigte er lustvoll der Kunst des stilistischen Fremdgehens. Auch auf Grand Prix seien nun Referenzen an seine Lieblingsbands aus Manchester (The Smiths, New Order, The Happy Mondays) und New York (Television, The Strokes) anzutreffen, so steht es in der Plattenfirmen-Info oder auch in der ein oder andere Rezension zu lesen. Das ist so richtig wie falsch: Ja, Biolay greift (und das nicht zum ersten Mal) aus in angloamerikanische Soundwelten vor allem der 80er bis 90er Jahre, mutiert aber weder zum Rocker noch zum Raver, sondern bleibt durch und durch französischer Kosmopolit und Pop-Philosoph.

So bleibt die Konstellation „Pop oder Chanson“ hier einmal mehr keine entweder-oder-Frage, sondern ein Fall von sowohl als auch – und bildet die Basis für einen 13 Songs und rund 55 Minuten umfassenden Songreigen zwischen Lebenslust und Weltschmerz, zwischen Nonchalence und laissez-faire. Gitarrist Pierre Jaconelli, Keyboarder Johan Dalgaard und Schlagzeuger Philippe Entressangle entpuppen sich dabei als distinguiert und facettenreich aufspielende backing band für ihren Chef und fieseln jede Menge leichtfüßige Riffs, flauschige bis pluckernde Synthiesounds und einen mal entspannten („Ma route“), mal griffigen Beat („Comme une voiture volée“) aus ihren Saiten, Tasten und Fellen. In „Comment est ta peine ?“ mischen Biolay und seine Kompagnons House-Piano, Elektronik und Gitarren zu einem fast Daft-Punk-artigen Szenario, und auch das raffiniert groovende „Virtual Safety Car“ klingt retromodern-futuristisch. „Idéogrammes“ wiederum packt ein Blur-artiges Riff ins Zentrum des Arrangements, in „Ma route“ sind es wehmütige Blechbläser, und „Papillon Noir“ startet mit einem dezent rockigen Riff, um dann Kurs auf eine Rummelplatz-taugliche easy-listening-Atmosphäre zu nehmen.

Zwischendrin schaltete Biolay ein wenig herunter – Zeit für eine Portion Herzschmerz, die Biolay mit rauchig-sentimentalem Pathos auflädt, etwa in  „La roue tourne“ oder in „Vendredi 12“, das vom Verlassenwerden an einem Freitag erzählt, der nur ein 12. war, sich aber anfühlte, als wär’s ein 13. Beschwingtes Finale: zwei Mal formvollendetes Beach-Club-Feeling mit dem leichtfüßigen Funk-Pop „Souviens-toi l’été dernier“ sowie mit „Interlagos“, einer mittagshitzeschweren Hommage an die nahe São Paulo gelegene Motorsport-Rennstrecke und zugleich einer Verbeugung vor den „Saudado“, der portugiesisch-galizischen Form von Weltschmerz und Wehmut.

Benjamin Biolay GrandPrix Cover
(Cover: Amazon)

Benjamin Biolay Grand Prix erscheint bei Polydor im Vertrieb von Universal Music und ist erhältlich als CD, LP und Download

 

Benjamin Biolay Grand Prix
2020/07
Test-Ergebnis: 4,3
SEHR GUT
Bewertungen
Musik
Klang
Repertoirewert

Gesamt

 

Autor: Christof Hammer

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Seit vielen Jahrzehnten Musikredakteur mit dem Näschen für das Besondere, aber mit dem ausgewiesenen Schwerpunkt Elektro-Pop.