Chrissie Hynde schenkt ihre Stimme dem Jazz: Die Gründerin der Rockformation The Pretenders spielte mit Chrissie Hynde Valve Bone Woe ein starkes Album mit Coverversionen ein, angereichert mit gepfefferten Dub-Tönen, genährt aus der DNA brillanter Songschreiber.
Die Protagonisten des Old-School-Rock (‚n’ Roll) kommen in die Jahre. Das macht aber nichts bei den meisten Kreativen. Denn Musiker vom Schlage eines Mick Jagger, Van Morrison, David Gilmour oder Jackson Browne altern nicht wirklich. Sie reifen. Genauso wie Chrissie Hynde, Gründungsmitglied der Pretenders, die am 6. September ein neues Solo-Album veröffentlicht – einen Tag vor ihrem 68. Geburtstag. Eine überaus spannende Jazz-Dub-Pop-Mischung mit Coverversionen aus der Feder von Promis wie John Coltrane, Nick Drake, Hoagy Carmichael, Charlie Mingus, Ray Davies, Frank Sinatra oder dem Songwriting-Team Rogers & Hammerstein.
Woher diese Motivation? Chrissie Hynde: „Vor ein paar Jahren las ich einen Nachruf auf den Posaunisten Bob Brookmeyer in der Zeitung (Anm. d. Red.: Protagonist des West-Coast-Jazz bei Stan Getz, später Ersatz für Chet Baker bei Gerry Mulligan). Ich schickte meinem Bruder Terry, der Jazz-Saxophon spielt, eine Mail mit den Worten ‘R.I.P. Bob Brookmeyer`. Als Mann weniger Worte antwortete er mit `Valve Bone Woe`, einer Art Haiku (traditionelle japanische, ultrakurze Gedichtform) im Beatnik-Prosa-Style. Ich fand, dass es der perfekte Titel für das Album war, an dem ich gerade mit meinem Producer Marius de Vries arbeitete (fünffach Grammy nominierter britischer Musiker und Komponist)“, erinnert sich Chrissie Hynde. „Eigentlich habe ich kein übermäßig großes Interesse, mich als leidenschaftliche Rocksängerin in anderen Musikgenres zu bewegen. Ich bin aber mit der Jazzmusik aufgewachsen und habe seitdem eine kleine Schwäche für den Jazz.“
Zudem beklagt sich die Rock-Röhre mit der fantastisch sympathischen Stimme immer mal wieder, dass innerhalb der aktuellen populären Musik nicht mehr so viel Wert auf gute Melodien gelegt würde. „Dementsprechend wollte ich mich auf Melodien konzentrieren.“ Doch nicht nur das: „Außerdem habe ich ein Faible für Coversongs. Mich fasziniert es, etwas zu singen, das ich selbst nicht geschrieben habe.“ Ihrer Meinung nach wurde der Jazz in den Sechzigerjahren vom Rock `n Roll abgelöst. „Doch der langsame Verfall der Rockmusik scheint ein neues Interesse am Jazz geweckt zu haben – für mich die kreativste und innovativste Musikform des 20. Jahrhunderts. Ich springe nur zu gerne auf diesen Zug auf.“
Kleine Rückblende. Als Herz, Seele – und Stimme der Pretenders schrieb Chrissie Hynde seit der Bandgründung 1978 viele hochkarätige Songs, darunter „Don’t Get Me Wrong“, „My City Was Gone“ oder „2000 Miles“, einer kongenialen Mischung, die sich zwischen Post-Punk, Wave, Rock und radiotauglichen Pop-Hits bewegte. Als Rock-Frau dieser Generation können ihr nur wenige das Wasser reichen, vielleicht noch eine Patti Smith, ihres Zeichens 72 Jahre jung.
Nun also Jazz – und Dub, was in diesem Falle raue, gerne elektronisch generierte Sounds bedeutet, die der gediegenen Seele des Jazz hier und da Beine machen. „Die Produktion ist unglaublich – ich habe mir nicht vorstellen können, dass sich der dicke und schmutzige Sound einer ganzen Bigband so glänzend mit einer digitalen Arbeitsweise verbinden lässt. Eine wirklich verblüffende Arbeit. Ich bin total von den Socken von der Vollkommenheit und der Reife dieser Arbeit“, sagt kein Geringerer als Avantgard- Musiker Brian Eno, 71 Jahre.
Die Musik von Chrissie Hynde Valve Bone Woe
Hynde hat die 14 Stücke mit ihrem Valve Bone Woe Ensemble in den renommierten Air Studios in London aufgenommen. Hier gaben sich schon andere Musikerpromis wie Gregory Porter, Liam Gallagher, David Gilmour, Adele, Coldplay oder Van Morrison die Türklinke in die Hand.
„How Glad I Am“ (im Original von Jimmy Williams und Larry Harrison) eröffnet das Album mit feiner bluesiger Note und gediegenen Bläsersätzen.
Mit „Meditation On A Pair Of Wire Cutters“ ehrt Chrissie Hynde die Jazzlegende Charles Mingus; das Stück ist ihre sehr persönliche Interpretation mit sprühender Percussion, quirligen Bläsern und wurde aufnahmetechnisch mit schönem Raumambiente und feiner Auflösung eingefangen, was im übrigen grundsätzlich für die meisten Songs des Albums gilt.
Auch „I’m A Fool To Want You” (aus der Feder von Frank Sinatra, Joel Herron und Jack Wolf) reiht sich mit sanften Streicher-Schwaden, dezent gesetzten Pianoanschlägen und sehnender Stimme nebst eigenständigem Vibrato in die Reihe der Schwoofer-Nummern ein – ebenso wie „You Don’t Know What Love Is“ (Don Raye, Gene De Paul), das mit schnurrendem Bass, beinahe verruchter Stimme – sie darf das! – und perlenden Pianoläufen verzückt.
Die experimentelleren, teils abgefahrenen Nummern konterkarieren das klassische Jazzambiente. „Caroline, No“ (Tony Asher, Brian Wilson) entführt das Gemüt mit Electronica-Blubber-Blasen, verfremdeter Stimme und kleinem Drum-Gewitter ins Aufwühlende.
„Wild Is The Wind“ (Ned Washington, Dimitri Tiomkin) setzt auf stolpernde Beats, hallig eingefangene Stimme und Bläser sowie verträumte Soundscapes.
„Absent Minded Me“ (Jule Styne, Bob Merrill) verführt anfangs mit zuckerwattiger Melodie, um dann in spacig-psychedelische Umlaufbahnen abzudriften, ähnlich wie „Naima“ (von John Coltrane), das Keyboards und Orgel in Slow-Motion hofiert.
„No Return“ (Ray Davies) zählt eher zu der Kategorie leicht-beschwingt, mit eingängiger Pop-Note, die just aus den 60ern herübergemacht zu haben scheint.
„Que Reste-T-Il De Nos Amours” schließlich widmet Hynde dem kreativen Multitalent Charles Trenet – selbstredend authentisch auf französisch.
Chrissie Hynde Valve Bone Woe“ geht somit als ein gehaltvolles und unterhaltsames Album mit vielen spannenden Facetten in die Hynde-Historie ein.
Übrigens spielte Chrissie Hynde die Songs am 6. Juli mit dem L.A.-Philharmonic-Symphonieorchester während einer speziellen Performance in der „Hollywood Bowl“. Zudem gibt sie sich im Rahmen des „BBC Proms In The Park-Festivals“ am 14. September im Londoner Hyde Park die Ehre. Und: am 24. November spielt sie auf dem London Jazz Festival in der Royal Festival Hall. Kompliment.
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