Der neue deutsche Großstadt-Pop kommt aus der Provinz: Mit ihrem Debütalbum erinnern Die Kerzen aus Ludwigslust gekonnt an 80er-Jahre-Genres wie New Romantic, Blue-eyed-Soul und NDW: Die Kerzen True Love ist ein wunderbar doppelbödiges Vergnügen für Hörer aus – mindestens – zwei Generationen.
Die junge deutsche Musikszene bleibt ein unergründliches Rätsel: quält uns einerseits mit Barden wie Wincent Weiss, Joris oder Max Giesinger, deren Befindlichkeitspoesie auf maximale Gefühligkeit und Radiotauglichkeit getrimmt wird. Oder weiblicherseits mit im Duktus von Tagebucheinträgen abgefasster Backfisch-Lyrik Marke Lea. Eine Lena (Meyer-Landrut) mit ihrem zwar austauschbaren, aber unaufdringlichen R&B-Pop gehört da fast schon zu den Lichtblicken der Szene.
So weit, so traurig. Und nun die gute Nachricht: Immer wieder sprießen aus dem heimischen Untergrund nicht nur großartige Indie- und (Post-)Punk-Formationen (aktuell etwa Love A oder Pascow), sondern auch waschechte Pop-Bands, die mit sicherer Hand zu melodischer Eleganz fähig sind und kein hohles Pathos oder aufgedunsene „ho-ho-ho“-Chöre nötig haben, um auf sich aufmerksam zu machen. Und die Texte schreiben, welche das Leben nicht als permanente Aneinanderreihung von vermeintlich einzigartigen Polaroid-Momenten missverstehen, sondern alles mal ein bisschen tiefer hängen, lässig, witzig, selbstironisch bleiben anstatt permanent im selbstergriffenen „Drama, Baby, Drama!“-Modus zu funken.
(Kleine Empfehlung an dieser Stelle in Sachen Backkatalog: Wer je beim Second-hand-Händler seines Vertrauens auf die beiden Discs der Zwei-Album-Band Busch aus Bonn trifft – Entsetzlich (1996), Bossa Nova (2002) – : sofort kaufen! Hier lockt traumhaft schöne The-Smiths-Gedächtnismusik!)
Nun also Die Kerzen. Aus, echt jetzt, Ludwigslust. In Mecklenburg-Vorpommern. Verstecken sich – geht’s noch? – hinter Pseudonymen wie Die Katze (der Sänger), Fizzy Blizz (der Bassist) oder Super Luci, der (nicht die) das Schlagzeug bedient. Vierter im Bunde: Tastenfrau und Querflötistin Jelly Del Monaco. Voll peinlich, oder? Cool geht jedenfalls anders. Und überhaupt: Querflöte! Der Großstadt-Hipster klopft sich auf die Schenkel und wittert musikalische Hinterwäldlerei vom Schlimmsten.
Aber nix, im Gegenteil: Die Kerzen eröffnen der aktuellen Popszene eine wunderbare Welt jenseits von EDM, Indietronics, Trap – und erinnern uns Frühgeborenere an die herrlich blühenden Soundlandschaften unserer Jugend.
Die Kerzen True Love entführt in die 80er-Jahre zurück – in jene Zeit, als sich in den Zwischenräumen von Genres New Wave, Post-Punk oder No-Funk eine Reihe weiterer Spielarten (zumeist weißer) Popmusik herausbildete. – im Fall von Die Kerzen True Love ist die Grauzone zwischen „Weißbrot“-Funk und Keyboard-Pop, zwischen Blue Eyed Soul und New Romantic. Und nicht zuletzt schwebt auch eine Post-NDW-Attitüde im Stil eines Andreas Dorau über dieser Musik.
Aber genau so wie Dorau – einziger Überlebender dieses Genres in der heutigen Indieszene – eben nicht nur der große Ironiker, sondern auch der große Romantiker der deutschen Popszene ist, so sind dies auch die Kerzen. An dieser Schnittstelle finden die Gründerväter dieses Genres und Die Kerzen als Vertreter der Enkelgeneration denn auch wieder zusammen – denn selbstverständlich musizieren hier eine Band der jungen Generation. Mag die Musik von Die Kerzen True Love auch an den 80er-Jahren geschult sein, gespiegelt wird sie an der Moderne: Die Single „Saigon“ etwa spielt im Berliner Techno-Tempel Berghain, hinter dessen Türen aber nicht nur Sodom und Gomorrah fröhliche Urstände feiern, sondern eben auch eine scheue erste Liebe zart knospt.
Die Musik von Die Kerzen True Love
Zuvor eröffnet „Blue Jeans“ das zehn Tracks starke Set mit flauschigen Klängen zwischen ABC und Prefab Sprout: blubbernde Synthies, verhallte Vocals, wohldosierte Gitarrenlicks. Auch der folgende Titelsong „True Love“ spannt weite Hallräume, die mit flinken, melodienverliebten Saiten- und Tastensounds gefüllt werden. Aber nie randvoll: Stets bleibt hier – auch dank einer disziplinierten Tontechnik – Luft zwischen den Tönen. Gleichberechtigt teilen sich auch in den weiteren acht Songs funky-elegante Gitarren und watteweiche Keyboards die Melodieführung, ein Bass im XXL-Format und ein punktgenaues Midtempo-Schlagzeug sorgen für einen unaufdringlichen Radiopop-Appeal.
Dazu gibt’s mal eines der schönsten Gitarrenmotive des Kalenderjahres 2019 (in „Désolé“), dann cinemascopische Melodic-Keyboards („Zu spät“) oder auch mal ein flottes House-Piano („Mit Seide“) – und mit Die Katze einen Sänger, der Zeilen wie „Kennst du den Ort / wo Schwäne weinen / ich tröste dich mit Seide“ / Schwarze Jeans um deine Lenden / mein Herz in deinen Händen“ mit lakonisch-schläfrigem Timbre meistert und physische Lust und psychische Pein in wenigen Takten und direkt aneinandergekoppelt unter einen Hut bringt.
Mit „Solarium“ schließlich fällt der Vorhang: etwas sehr schunkelig schlagerpoppig zwar – aber wie gemacht dafür, um nach langen Nächten in den Karaoke-Bars von Köln bis Berlin von den heutigen Großstadt-Jungs und -Mädchen geflötet zu werden, ehe die ganze Meute melancholisch euphorisiert in ihre Schlafhöhlen zurückkehrt. Und tatsächlich: Neulich sind Die Kerzen tatsächlich nach Berlin gezogen. Prognose: Sie werden ein, zwei Jahre zum Mega-Hipster-Act der Hauptstadt avancieren – und dann wieder zurück in die Provinz flüchten. Wer so spielt wie diese Band, hält den Großstadtzirkus nur auf Zeit aus.
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