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Everything Is Recorded by Richard Russell
Auch im Fall seines eigenes Projekts Everything Is Recorded lässt Richard Russell lieber die Musik sprechen als sich mit Marketingmätzchen aufzuhalten

Everything Is Recorded by Richard Russell – CD der KW 11

Classic Soul, Post-TripHop und zeitgemäßer R&B, stilvoll gemixt: Richard Russell, Mitgründer des Kultlabels XL Recordings, macht auch als „managing director“ seines Soloprojekts eine exzellente Figur. Für uns ist Everything Is Recorded by Richard Russell ein ganz außergewöhnliches Album – und die CD der Woche.

Kaum ein Mensch kennt seinen Namen, aber verdammt viele Menschen kennen sein Werk. So ziemlich jede gut sortierte Plattensammlung jüngerer Popmusikfans enthält mit hoher Wahrscheinlichkeit nämlich auch die ein oder andere Arbeit aus dem Klanglabor von Richard Russell – als Chef des Labels XL Recordings verantwortet der Brite eine der großen Erfolgsstorys der jüngeren Popgeschichte. Schon 1989 gründete Russell zusammen mit den Kumpels Tim Palmer und Nick Halkes dieses Londoner Indielabel – anfangs, um der zwischen Rave, House, Jungle, Grime, Modern R&B und diversen weiteren clubtauglichen Sounds in Aufruhr befindlichen Dance-Music-Szene auf der Insel eine neue Heimstätte zu bieten.

Der Rest ist Geschichte. Seither avancierte XL zu einem der einflussreichsten unabhängigen Labels der internationalen Musikszene, versammelt Acts aus völlig unterschiedlichen stilistischen Welten und schließt auf einzigartige Weise die Lücke zwischen Avantgarde und frischer Popmusik jenseits des Mainstreams. Dancemusic-Innovatoren wie The Prodigy oder Basement Jaxx gehören ebenso zum Portfolio von XL wie Folkbarden wie Badly Drawn Boy, Indierock-Institutionen Marke The White Stripes oder Vampire Weekend, Avantgarde-Ikonen wie Radiohead oder eine der besten Popbands des aktuellen Jahrtausends: The xx. Weitere Trophäen im Russellschen Oeuvre: große Albumproduktionen für Gil Scott-Heron, Bobby Womack oder Damon Albarn.

Und dann wäre da natürlich noch Adele: Auch die Karriere des bis dato letzten großen, weltweit bei Kritikern und Fans gleichermaßen respektierten Superstars des zeitgenössischen Traditionspops begann im Hause XL Recordings. Die jüngsten Kapitel ihrer Erfolgsstory schrieben Russell und sein aktueller A&R-Chef Imran Ahmed dann 2016/17 mit dem R&B-Newcomer Sampha oder dem Schwesternduo Ibeyi – und mit Acts wie Giggs, Rachel Zeffira und Infinite stehen weitere aussichtsreiche Newcomer bereits in den Startlöchern.

Russell selbst hingegen bleibt hingegen lieber im Verborgenen. Außerhalb der englischen Insel ist der 46-Jährige nur in Insiderkreisen präsent – und als Künstler trat er letztmals Anfang der 1990er-Jahre in Erscheinung, als er unter dem Namen Kicks Like A Mule mit „The Bouncer“ eine jener typisch britischen Rave-Hymnen aufnahm, zu denen die englische Jugend auf halblegalen Raves in heruntergekommenen Industrieruinen die Nacht zum Tage machte.

Auch Everything Is Recorded by Richard Russell, das erste eigene Album seit über 20 Jahren, ist alles andere als der berühmte Sprung ins Rampenlicht. Schon die reduzierte Grafiksprache des Covers verweigert jeden Personenkult, und auch der Titel bleibt im Ungefähren. „Alles ist im Kasten“ nennt er sein Projekt doppel- oder gar tripledeutig: interpretierbar sowohl sachlich im Sinne von konspirativ nach dem Motto „Leugnen zwecklos – ich habe alles mitgeschnitten“ oder auch als philosophisches Statement Marke „Ist zum Thema Popmusik eigentlich nicht schon alles gesagt, nicht schon alles aufgenommen worden?“.

Everything Is Recorded by Richard Russell
Graue Eminenz mit spektakulärer Erfolgsbilanz: Seit rund dreißig Jahren gehört Richard Russell als Chef des englischen Labels XL Recordings (Adele, Radiohead, The xx) zu den Führungskräften der modernen Popmusik – und doch ist der Produzent und „laptop musician“ aus London nur Branchenexperten bekannt.

Entstanden sind die zwölf Tracks von Everything Is Recorded by Richard Russell in Russells persönlichem Copper House Studio im Westen von London, fünf Fußminuten entfernt vom XL-Headquarter. Dorthin bittet Russell seit geraumer Zeit jeden Freitagabends Kollegen nicht nur aus dem XL-Dunstkreis zu zwanglosen musikalischen meetings. Es wird gekocht, gegessen und getrunken, diskutiert, gesungen und zu den Instrumenten gegriffen. Und Russell lässt die Aufnahmegeräte laufen – „everything is recorded“. Aus dieser Konstellation kristallisierten sich schließlich Kooperationen zwischen Russell und einigen der interessantesten Künstler heraus, die sich derzeit im Londoner Underground tummeln. Mit dabei auf Everything Is Recorded by Richard Russell: Mitglieder des XL-artist roosters wie Sampha und die franko-cubanischen Ibeyi-Sisters, aber auch Musiker, die in etwas weiterer Entfernung musizieren: Jazz-Rebell Kamasi Washington, Scritti-Politti-Mastermind Green Gartside, der kanadische Sänger, Violinist und Arrangeur Owen Pallett und sogar Peter Gabriel, der Altmeister der nach allen Seiten offenen englischen Popmusik. Kamasi steuert für das auf dem Basistrack von Grace Jones‘ „Nightclubbing“ basierende „Mountains Of Gold“ ein griffiges Saxofonsolo bei, Green Gartside übernimmt den Vocalpart in „Bloodshot Red Eyes“, das reduzierte Elektronik mit etwas Gospelflair kombiniert, und Peter Gabriel garniert das 1:35 kurze, von R&B-Mann Infinite von R&B-Mann Infinite in bewegendem Falsett gesungene „Purify“ mit ein paar typisch brüchigen Pianotupfern.

Egal, ob kurze Interludes oder auskomponierte Tracks mit Clubbackground wie „Be My Friend“ oder das düster-druckvolle „Early This Morning“, in dem Newcomer Giggs mit leichtem Coolio- und „Gangsta’s Paradies“-Touch seinen Status als neue Black-Music-Hoffnung eindrucksvoll untermauert – in allen Kompositionsformaten spiegelt sich Richard Russells Sound- und Arbeitsphilosophie. Ihm geht es um die Magie des Moments, den ungezwungenen musikalischen Fluss zwischen Modernität und Traditionsbewusstsein und die Lust, aus diesen Quellen Popularmusik mit Charisma, Tiefgang und Ernsthaftigkeit zu machen. So groovt Everything Is Recorded by Richard Russell relaxt, aber konzentriert im Dreiklang zwischen Classic Soul der 70er, Post-TripHop-Sounds und zeitgenössischen R&B- und HipHop-Sounds und lebt, halb Jam-Session, halb Bandprojekt, von Russells Soundvisionen ebenso wie von der Kreativität seiner Mitmusiker. Und von einer Kombination aus Urbanität, Intimität und jazzigem spirit: Es ist die Atmosphäre der Copper-House-Meetings, der Geist von XL, der diesem Projekt ein unverwechselbares Flair einhaucht – der Russell’sche „vibe“, kondensiert in einem Dutzend stilvoller Momentaufnahmen. Gut, dass alles mitgeschnitten wurde.

Everything Is Recorded by Richard Russell – Cover
Everything Is Recorded by Richard Russell (Cover: Amazon)

Everything Is Recorded by Richard Russell erscheint bei XL Recordings im Vertrieb von Beggars / Rough Trade und ist erhältlich als Audio-CD, LP+CD und MP3-Download.

Everything Is Recorded by Richard Russell
2018/03
Test-Ergebnis: 4,1
SEHR GUT
Bewertungen
Musik
Klang
Repertoirewert

Gesamt

 

 

 

Autor: Christof Hammer

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Seit vielen Jahrzehnten Musikredakteur mit dem Näschen für das Besondere, aber mit dem ausgewiesenen Schwerpunkt Elektro-Pop.