Die Welt ist voller verpasster Chancen. Zumindest hier und da. Zum Beispiel in der Musik. Manchmal lohnt es sich deshalb, einen beherzten Blick in die Vergangenheit zu werfen. Um ja dann vielleicht erstaunt festzustellen, was man so alles über die Jahre verpasst hat. Jesse Malin zählt durchaus dazu. Der Singer-Songwriter startete 2003 solo durch, landete damals ein Klasse-Debüt und fand jedoch über die folgenden Jahre hinweg nicht so recht die angemessene Anerkennung. Wie das so ist im Leben.
Wie mein verstorbener Freund und damaliger Kollege Claus Böhm bei der AUDIO bereits mit seiner Rezension 2003 voraussagte: „Da baut einer sich und was Großes auf. Die feine Songwriter-Kunst beherrscht der New Yorker perfekt. Jesse Malin liefert (u.a. mit Ryan Adams) entschlackte Rock-Songs und spannende Texte, singt sie mit leicht nöliger Nonchalance, die an Neil Young oder Springsteen erinnert.“
Die Prognose stimmte, denn der New Yorker sollte mit seinem Debüt nicht das einzige Klasse-Album abliefern: „On Your Sleeve“ von 2008 oder „Love It To Life“ (2010) sowie „Sunset Kids“ von 2019 begeistern ähnlich. Dennoch stand er wie gesagt über die Jahre nicht im Rampenlicht. Höchste Zeit also, an den New Yorker Singer-Songwriter aus dem Stadtteil Queens mit diesem Re-Issue seines Debüts vehement zu erinnern.
Der Titel wirkt zunächst vielleicht etwas verstörend: „Die hohe Kunst der Selbstzerstörung“. Naja. Aber: „Es war nicht nach Drogen- oder Alkoholmissbrauch benannt“, so Jesse Malin. „Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, ging es mehr um persönliche Niederlagen, von der Scheidung meiner Eltern über eigene gescheiterte Beziehungen, aufgelöste Bands, Schulabbrüche, Autounfälle und zerbrochene Träume. Es war mehr eine spirituelle Reise in gewissem Sinne. Diese Platte ist definitiv eine meiner Lieblingsplatten.“
Mit 35 schrieb er dieses Album, etwas spät für die jugendfixierte Musikszene. Aber falsch gedacht: Der Twen aus Queens mischte bis dato längst bei anderen Bands mächtig mit. 1991 gab er den Frontmann der wilden Rockband D Generation, die sich 1999 auflöste und mit No Lunch“ 1996 ein Klasse-Album landete. Davor inszenierte Malin rüde Punk-Überfälle bei der Hardcore-Band Heart Attack. Siehe da: Schon glänzt die Musikerlaufbahn wieder lückenlos.
Die Musik von Jesse Malin „The Fine Art of Self Destruction“
Wir reden hier über ein 20 Jahre altes Album, das immer noch mit mächtig Charme kokettiert. Jesse Malin erinnert sich an die Entstehung. „Ich lernte damals immer noch dazu, wie man singt und Geschichten erzählt. Diese Songs habe ich in einem kleinen Appartement mitten in der Stadt geschrieben, ohne Plattenvertrag, ohne Manager oder irgendeiner Erwartung, dass daraus je irgendetwas werden könnte – nur einfach mit dem Wunsch sie zu schreiben.“
Und die Songs überzeugen nach wie vor musikalisch, sie erinnern neben Springsteen oder Ryan Adams etwas an Tom Petty oder gar an einen Jackson Browne. Starke Melodien und Refrains, pointierte Gitarren- und Pianoläufe dominieren neben seinen sympathischen, leicht verstaubten Vocals. Der Klang des Originals gefällt durch Stimmigkeit, keine Höhenflüge, aber auch keine Abgründe, die Neuaufnahmen überzeugen im Bonusteil dank stärkerer Strahlkraft.
Drücken wir auf Play: Gleich der Opener „Queen Of The Underworld“ perlt als hochkarätiger Alternative-Rock mit wärmendem Refrain.
Danach rührt das melancholische „TKO“ mit rostigem Timbre und mehrstimmigen Vocals die Seele an. „Downliner“ atmet den harschen Gitarren-Dunst von Tom Petty, während der Titelsong im dunkelblau-bluesigem Psychedelic-Gewand betört. Und Stücke wie „Almost Grown“ zeigen Jesses Vorliebe – und Können – für Westcoast-Sounds à la Jackson Browne. Die frisch eingespielten, respektive alternativen Songs folgen dieser Blaupause konsequent und arbeiten gechillt und gediegen hier und da noch mehr Tiefe und Feinheiten heraus.
Fein. Wie war das nochmal? „Die feine Songwriter-Kunst beherrscht der New Yorker perfekt.“
Übrigens: Zum 20. Jubiläum seines Debüt-Albums geht Jesse Malin auch auf ausgedehnte Live-Tour in den USA und Europa. Hierzulande spielt er am 27. Februar in Hamburg.
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