Was macht dieser Mann nur? Vor drei Jahren hat der Saxofonist aus Los Angeles mit The Epic ein Triple-Album veröffentlicht, auf dem er stellenweise mit über 50 Musikern den Jazz neu zelebriert. Episch – und begierig nach neuen Strömungen im Genre suchend, die er eifrig erweitert und in sein Experimentierraumschiff lädt. Die Spielarten von John Coltrane, Charlie Parker, Pharoa Sanders oder Wayne Shorter treffen so auf den Sound von jungen wilden Musikern wie dem Bassisten und HipHop-Elektronica-Fan Thundercat oder den Keyboarder Brandon Coleman. Doch da ist noch mehr. Im Team mit seiner Band The Next Step und Kollegen vom Kollektiv The West Coast Get Down komponierte und arrangierte der 37-jährige Erneuerer nun ein weiteres Werk, diesmal reichte der mitreißende Stoff für immerhin noch zwei CD-Scheiben, respektive vier LPs: Kamasi Washington Heaven & Earth.
Kamasi Washington Heaven & Earth ist Musik, die Charisma besitzt und strahlt. Fernab von Marketingkonzepten oder Fan-Anbiederungen. Lichtjahre weg von braven, allzu berechnenden Noten-Aneinanderreihungen. Durchdrungen vom Erbgut alter Jazzmeister, geformt und getragen von einer erfrischenden Attitüde, die sich so gut wie nichts um altkäsige Rituale schert, sondern eher mutigen Pioniergeist versprüht.
Dabei entwirft der schwarze Kalifornier mit Kamasi Washington Heaven & Earth natürlich keine sonnensüßen Smooth-Jazz-Pastellbilder, obwohl dieser in L.A. seit den Achtzigerjahren durchaus Tradition hat, die Welt aber nicht wirklich weiter bringt. Nein, der Mann könnte dazu fähig sein, den Jazz in neue Sphären zu transformieren. Und so nebenbei sogar die USA oder andere Ecken der Welt, die vielerorts mit gewollt inszenierter Ungerechtigkeit (und damit auch mit Rassismus) zu kämpfen haben ein Gegengift einzuimpfen – geistig zu inspirieren mit einer neuen Gangart des Jazz. Stilübergreifend, multikulturell, interdisziplinär, mit einem 3D-Mix aus Spiritual-Jazz, Funk, Fusion Soul, Electronica und HipHop. Ob das bei aller grimmig-politischen Haltung revolutionäre Wirkung entfaltet wie in den 60er Jahren, bleibt abzuwarten. Das theoretische Potential dazu hätte das Zeug, auch weil befreundete Musiker wie Kendrick Lamar (mit dem er auf „To Pimp A Butterfly“ spielte), seines Zeichens wunderbar rüder Rapper, von der anderen Stil-Seite die L.-A.Szene und Amerika musikalisch aufmischt.
Der Albumtitel von Kamasi Washington Heaven & Earth steht für den Musiker insofern für die Welt („Earth“) wie er und wir sie erleben, in der immer häufiger – und wiedermal – wenige Machtvolle sehr viele in oftzweifelhafter Abhängigkeit halten. Und er steht für den himmlischen Gegenpart dazu („Heaven“), eine bessere, fiktive Welt. Er sagt dazu: “The world that my mind lives in, lives in my mind.” This idea inspired me to make this album Heaven & Earth. The reality we experience is a mere creation of our consciousness, but our consciousness creates this reality based on those very same experiences. We are simultaneously the creators of our personal universe and creations of our personal universe. The Earth side of this album represents the world as I see it outwardly, the world that I am a part of. The Heaven side of this album represents the world as I see it inwardly, the world that is a part of me. Who I am and the choices I make lie somewhere in between.”
Wer in alles in der Welt ist dieser potentielle Reform-Geist? Sohnemann von Saxofonist Rickey Washington, er lernte schon früh mehrere Instrumente, um sich dann als Teenager für das Instrument seines Vaters zu entscheiden. Später spielte er als Lead-Tenorsaxofonist an der Hamilton High School Academy Of Performing Arts in L.A. und studierte an der University Of California Musikethnologie. Insofern lagen ihm jazz-genrefremde und stilübergreifende Musikrichtungen quasi im Blut – Teamworks mit unterschiedlichen Kollegen wie Snoop Dogg, McCoy Tyner oder George Duke und jüngst Flying Lotus folgten.
Sein Schöpfungspool zwischen „Himmel und Erde“ geriet immens: Kamasi Washington komponierte und schrieb die meisten Stücke und viele Musikerkollegen, im Grunde allesamt aus dem L.A.-Musik-Dunstkreis, arrangierten mit. Als da zum Beispiel wären:
Stephen Bruner alias Thundercat – Bassist und Musikproduzent aus L.A. mit Fokus auf Hip-Hop und Electronica
Terrace Martin – Rapper und Produzent
Ronald Bruner Jr. – Grammy gekrönter Jazz-Drummer und Komponist.
Cameron Graves – Klasse-Pianist; der „Rolling Stone“ beschreibt ihn respektvoll als den „Hauspianisten für die Party am Ende des Universums“
Brandon Coleman – Keyboarder, studierte Jazz-Konzepte und spielte bereits mit Größen wie Alicia Keys, Stanley Clark oder Stevie Wonder
Miles Mosley – Sänger und Kontrabassist
Patrice Quinn – Sängerin und Komponistin, musizierte bereits mit Washington, aber auch mit Miles Mosley
Tony Austin – Drummer (wie Ronald Bruner Jr. auch als Teil von The West Coast Get Down), Produzent und Toningenieur
Eingespielt haben Washington & Co das opulente Kamasi Washington Heaven & Earth in den Henson-Studios, im Herzen von Hollywood – teil der Henson Company, die auch die „Muppets“ in Szene setzten, (wir erinnern uns: mit dem „Tier“ an den Drums). Gut so: Denn der druckvoll-dynamische, fein aufgelöste und farbauthentische Klang des Albums kommt nicht von ungefähr – die Studios blicken auf eine über 100-jährige Tradition zurück. In Hausnummer 1416 N, La Brea Avenue, gründete 1917 ein gewisser Charlie Chaplin sein Studio. Herp Alpert und Jerry Moss übernahmen die Location 1966 unter dem Label A&M Records und bauten sie zum angesehenen Tonstudio aus. Das wiederum kaufte 1999 Universal Music, Henson übernahm das Ruder dann 2000. Die Kundenliste des Studios ist lang und ziert so renommierte Namen wie Phil Spector, The Supremes, Joni Mitchell, Carole King, John Lennon, Cat Stevens, George Harrison, The Doors, Neil Young, Pink Floyd, Supertramp, The Police, U2, Bruce Springsteen, Bon Jovi, Tom Petty And The Heartbreakers, Metallica, Sheryl Crow, Paul McCartney, The Eagles, Robbie Williams, Shakira, Fleetwood Mac und-und-und… Das Equipment vereint Top-Vintage-Technik und modernste HiTech-Digital-Tools.
Die Musik-Highlights von Kamasi Washington Heaven & Earth
Was für ein Pfund: 16 Songs, verteilt auf zwei CDs oder vier Vinylscheiben mit insgesamt beinahe zweieinhalb Stunden Laufzeit. Die Songs fluten Herz und Hirn.
Den Opener „Fists Of Fury“ entlieh Washington dem Soundtrack eines Bruce-Lee-Films aus den frühen 70er Jahren: Ein swingend-groovender Stilmix, in denen die politisch ambitionierten geballten Fäuste spürbar werden.
„Hub-Tones“ entstammte im Original der Feder von Freddie Hubbard aus den 60ern, die neuen Wilden formten daraus ein traditionelles Jazz-Happening mit Verve.
13 Stücke gehen indes auf das Konto von Washington selbst, ein gehaltvoller Reigen aus fantastischen Grooves, famosem funky stuff, souliger Jazz-Crème und betörenden Chorpassagen nebst zackigem HipHop und mehrstimmigen Vokalsätzen. Das Ganze durchdringt und krönt natürlich Kamasi Washingtons energiegeladenes, aber auch durchaus zärtlich inszeniertes Saxofonspiel.
„Will You Sing“ frönt so fast schon einem Gershwin, während „Vi Lua Vi Sol“ R’n’B-Gene aufblitzen lässt. Unerhört federnd katapultiert einen wiederum „The Space Travelers Lullaby“ ans Ende von sphärisch-psychedelischen Paralleluniversen.
Die Musik auf „Heaven & Earth“ wurde von Kamasi Washington geschrieben und komponiert und unter Mithilfe von Thundercat, Terrace Martin, Ronald Bruner, Jr., Cameron Graves, Brandon Coleman, Miles Mosley, Patrice Quinn, Tony Austin und vielen anderen arrangiert.
Washington war bereits auf Tour, gibt aber in Deutschland noch ein Konzert, und zwar am 7. August in der „Zitadelle“ in Mainz.
Das Album Kamasi Washington Heaven & Earth erscheint bei Young Turks / Indigo als Doppel-CD, 4-LP-Set, MP3-Download oder Stream, z.B. bei amazon.de.
Und hier noch ein Videoclip zum famosen Song „The Space Travelers Lullaby“, live eingespielt in knapp 13 Minuten (dauert auf dem Album „nur“ rund zehneinhalb Minuten), beim US-Radiosender KCRW
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