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Modern English
Modern English blicken mittlerweile auf über vierzig Jahre Punk, New Wave und Post-Punk zurück. Das kann man hören – aktuell auf ihrem neuen Album „1 2 3 4“ und im April auf fünf Deutschland-Konzerten (Foto: S. Kafai)

Modern English „1 2 3 4“ – das Album der Woche

Mal wieder ein Act, der sich aus den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erfolgreich nach 2024 rüber gerettet hat? Und der für mehr steht als nur für wohlig-retroeske Nostalgie? Allerbesten Dank also an eine britische New Wave-/Post-Punk-Institution, die bewährte Qualitäten mit frischem Biss und Lust zur musikalischen Attacke verbindet. Wenn das mal kein Grund für ein LowBeats Album der Woche ist: Modern English „1 2 3 4“

Einen Beitrag über Modern English zu schreiben ohne „I Melt With You“ zu erwähnen, den größten (und einzigen „richtigen“) Hit der Band aus  Colchester/Essex? Quasi ein Ding der Unmöglichkeit ­ – dieser Text hier ist daran jedenfalls bereits in Zeile 1 gescheitert.

1982 war’s, als Modern English mit diesem Song ein Juwel an der Grenze zwischen New Wave und Post-Punk geschaffen haben, das auch vierzig Jahre später noch fasziniert: genretypisch angetrieben von furiosen Trommelwirbeln und garniert von charmanter Low-Budget-Elektronik, doch zugleich herrlich romantisch, sehnsuchtsvoll-melancholisch und von elegischer Schönheit in der Melodieführung. So steht „I Melt With You“, längst mehrere Dutzend Mal von deutlich jüngeren Bands und Kollegen und Kolleginnen gecovert (die aktuelle Statistik diesbezüglich liegt bei satten 37 Versionen) bis heute prototypisch für den Sound und die Qualitäten von Modern English: klirrende bis zupackende Gitarren, melodischer Wuchtbrummen-Bass im New-Order-Format, wuchtige Rhthmik und stets ein Schuss unkonventionelles Beiwerk in den Arrangements. Geniestreiche wie diese sind es auch, weswegen auf Social Media Sätze zu lesen sind wie jener einer gewissen Jennifer, die „I Melt With You“ neulich mit einem quasi unschlagbar treffenden Statement feiert: „Thank you God for allowing me to live during the 80’s!“.

Das dazugehörige, beim kultigen 4AD-Label veröffentlichte Album „After The Snow“ (Nummer 2 nach dem 81er-Debüt „Mesh And Lace“) schaffte es im Windschatten von „I Melt With You“ 1982 denn auch immerhin auf Platz 70 der Billboard-Charts, doch nach drei weiteren Alben bis 1990 war dann schon wieder Schluss im Hause Modern English. Es folgten etliche eher glücklose Umbesetzungen sowie diverse Reunions als Live-Act (und ebenso viele Wiederauflösungen), ehe man sich ab und an auch mal wieder als Recording Artist zurückmeldete – zuletzt 2017 mit „Take Me To The Trees“.

Das seit Langem konsequenteste Comeback von Modern English folgt aber nun mit „1 2 3 4“. Mit Mario McNulty (David Bowie, Lou Reed, Nine Inch Nails) als Produzent entstanden zehn überwiegend genretypisch knackige, zweieinhalb bis knapp vier Minuten lange Tracks, wobei mit dem sphärisch startenden, dann noisig-nervös eskalierenden „Explode“ sowie mit „Voices“ mit viel Hall im Mix, Doppler-artigen Effekten und Greys düsterem Gesang zwischen spacigem Psychedelic Rock und ruhigem Shoegaze platziert, zwei Songs auch das 5-Minuten-Format touchieren, respektive übertreffen. Das alles kommt im typischen Modern-English-Sound aus den Boxen – und diese Formulierung ist in diesem Fall ein lupenreines Kompliment. Denn Sänger Robbie Grey, Gitarrist Gary McDowell, Mick Conroy (Bass), Keyboarder Stephen Walker sowie der der in den frühen 2000er-Jahren hinzugestoßene neue Schlagzeuger Roy Martin klingen hier so energetisch, bissig und motiviert, als wäre „1 2 3 4“ das Debütalbum einer Newcomerband.

Die Musik von Modern English 1 2 3 4

So bringt „1 2 3 4“ Sounds und Stile zwischen Gitarrenrock und Elektronik, zwischen New Wave und Post-Punk in bewährter Manier und doch zeitgemäß renoviert auf den Punkt. Und wie das rumpelt und knarzt, wummst und bratzelt ­ etwa in „Long In The Tooth“, das mit punkigem Biss, drei, vier Akkorden und rassigem Tempo eröffnet. Auch „Plastic“ rückt rüde E-Gitarren in den Vordergrund, die Stephen Walker mit spacig-skurrilen Synths umspielt. Die Kombination aus beidem gibt es dann in „Not Fake“. Und auch was die Haltung betrifft, ist bei Modern English der punkige Geist von einst noch allgegenwärtig.

Neben allerlei Persönlichem, etwa den Vorzügen und Nachteilen des Älterwerdens, wäre da etwa die Botschaft von „Not My Leader“, das nach verhaltenem Auftakt mit sägenden Riffs und den markant gebellten Vocals von Robbie Grey begeistert. „Inspiriert hat uns dazu die Tatsache, dass jeder, der in der Welt das Sagen hat, völlig inkompetent zu sein scheint“, sagt Grey dazu. „Ich erinnere mich, als ich in den frühen 80er Jahren nach Amerika kam: Damals hatten wir Margaret Thatcher und Ronald Reagan ­ und dann spulen wir vor bis heute und sind bei Donald Trump und Boris Johnson. Vierzig Jahre später ist es also dasselbe; es ist derselbe alte Scheiß.“

Ganz auf Walkers prägnant schimmernde und glitzernde Keyboards sowie einen cleveren spoken-poetry-Refrain setzt dann „Crazy Lovers“, ehe mit „Out To Lunch“ der potenziell größte Hit aufwartet: Mit metrisch-minimalistischem, unnachgiebig Richtung Tanzfläche drängendem Beat, irrlichternder Elektronik und zackig-wavigen Gitarren dürfte dieser knochentrockene Vierminüter live allemal für einen zünftigen Moshpit gut sein. Apropos live: Die aktuelle Tournee führt Modern English im Frühjahr 2024 dankenswerterweise auch mal wieder nach Deutschland ­ und zwar im Doppelpack mit den ebenfalls wieder beziehungsweise noch immer aktiven Buzzcocks: ein Highlight für Punk- und New-Wave-Fans der ersten Stunde. Immerhin vier gemeinsame Konzerte sowie ein Einzelauftritt stehen bisher fix auf dem Terminplan:

Modern English 1234 Cover
Modern English 1 2 3 4 erscheint bei InKind Music/The Orchard im Vetrieb von Membran/SPV und ist als CD, LP, Stream und Download erhältlich (Cover: Qobuz)

 

Modern English auf Konzert in Deutschland:

11.4. Dortmund – Musiktheater Piano
12.4. Frankfurt – Batschkapp
13.4. Berlin – Huxleys
14.4. Hamburg – Knust
24.4. Oberhausen – Kulttempel (Modern English solo)

 

Modern English „1 2 3 4“
2024/03
Test-Ergebnis: 4,3
SEHR GUT
Bewertungen
Musik
Klang
Repertoirewert

Gesamt

 

Autor: Christof Hammer

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Seit vielen Jahrzehnten Musikredakteur mit dem Näschen für das Besondere, aber mit dem ausgewiesenen Schwerpunkt Elektro-Pop.