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Noga Erez Off The Radar
Die israelische Musikerin Noga Erez verkörpert optisch auf sehr aparte Art orientalische Klischees – um diese musikalisch umgehend ins Reich der Fantasie zu verbannen. Ihr Debütalbum „Off The Radar“ klingt nämlich kein bisschen nach 1001er Nacht...

Noga Erez Off The Radar – die CD der KW 22

Off The Radar“? Ganz im Gegenteil: Die israelische Sängerin und „Laptop-Lady“ Noga Erez wird mit ihrem Debütalbum demnächst auf dem Radar von ziemlich vielen Menschen von Melbourne bis Memphis stehen. Der Grund? Noga Erez Off The Radar ist ein Album voll elektr(on)ischer Spannung und Erez ist eine Persönlichkeit, die sich nicht scheut, unbequeme Wege zu gehen und Wichtiges ins Visier nehmen – eine Haltung, die im „heiligen Land“ bekanntlich eine große Tradition hat.

Noga Erez Off The Radar – eine Electroclash-Produktion aus Israel? Das wirft die ein oder andere Frage auf. Zum Beispiel: Klingt das jetzt anders als eine Electroclash-Platte aus England, Amerika oder Schweden? Das Mädel singt doch sicher hebräisch, so wie Ofra Haza vor 30 Jahren? Und hat das eigentlich ‚was mit uns zu tun oder ist das nur so ’n Israel-Ding?

Die Antworten darauf fallen – schließlich sind Sie, liebe Musikfreunde, bei LowBeats – etwas differenzierter aus. Doch der Reihe nach: Nein, Noga Erez Off The Radar wirkt bei oberflächlichem Hören gar nicht sooo viel anders als gleichartige Produktionen von anderswo.

Auch die 27-jährige Sängerin und Multiinstrumentalistin aus Tel Aviv versteht sich auf alle stylishen Mittel dieses Genres: akurat geschredderte Beats, beschwipst torkelnde Loops und eine reizvoll per Autotune verfremdete Stimme. Aber: Oberflächliches Hören lässt Noga Erez gar nicht erst zu – und deshalb tönt Noga Erez Off The Radar eben doch ziemlich anders als eine ähnliche Produktion aus dem angloamerikanischen Ausland.

Gesungen wird (zu Frage 2) zwar auf Englisch, aber davon abgesehen verweigert Erez ihrer Musik jegliches wohlgefällige Pop-Make-up. Tanzbar ist das auch nur bedingt, und wenn, dann führt der Weg zum Dancefloor eher über einen Dornen- als über einen roten Teppich.

Stattdessen kreiert Noga Erez hier resolut einen höchst individuellen Sound voller Spannung und digitaler Reibungsflächen. Die Synthies klingen oftmals wie die Sirenen der örtlichen Gefahrenabwehrsysteme, die Tel Aviv vor der nächsten  Terrorattacke von wem auch immer alarmieren. Und die Rhythmen marschieren ab und an so streng, hart und autoritär, als wären es die Schritte von Soldatenstiefeln.

Sagen wir mal so: Sollte die Tourismusbehörde von Tel Aviv demnächst mal wieder frische Musik für einen leckeren TV-Spot suchen, um gut betuchte beach- und nightclubaffine Urlauber in die Stadt zu locken: Noga Erez bekommt den Auftrag garantiert nicht.

Noga Erez Off The Radar  – vielschichtiger Mix aus HipHop und futuristischem R&B

Denn ihr Tel Aviv ist eher Kampf- als Partyzone – und Noga Erez Off The Radar der Soundtrack über eine Gesellschaft zwischen militärischer Gewalt, staatlicher Willkür, religiösem Fanatismus und moralischer Verlogenheit, die zum Beispiel eine Vergewaltigung lieber filmt, anstatt sie zu verhindern.

Genau das ist das Thema von „Pity“, Song Nummer 5 von Off The Radar, das mit dunklen Trommelwirbeln und Heulbojen-Synthies den Zustand von Bedrohung, Erniedrigung und Missbrauch und dem Ausgesetztsein schierer Brutalität beklemmend intensiv vertont.

Womit wir bei Frage 3 sind: Ja, – das alles hat (bis auf den Zustand, den man gerne als „Nahostkonflikt“ bezeichnet und der doch so viel mehr bedeutet, nämlich die permanente Anwesenheit von Angst, Gewalt und Tod) verdammt viel mit uns zu tun. Denn: Tel Aviv ist überall; alle anderen Faktoren sind inzwischen auch in den meisten Teilen der westlichen Welt und ihren „zivilisierten“ Gesellschaften angekommen.

Außer „Pity“ zieht auch der eine oder andere weitere Track aus Noga Erez Off The Radar inzwischen schon seine Kreise auf den einschlägigen Videoplattformen, so etwa das rassig geschnittene „Toy“, das Noga Erez und zwei ihrer Mitstreiter in großstädtischer Kampfmontur hoch über den Dächern von Tel Aviv zeigt.

„I am the son of your leader”, singt sie dort zu Dance-Moves zwischen Breakdance, Ballett und Boxstudio, während unten im städtischen Häuserdschungel Angehörige ihres Hofstaates wie Ameisen herumflitzen – „give me your love and I’ll spare you“: „Ich bin die Tochter eures Führers, gebt mir eure Liebe und ich verschone euch“: eine Reflexion auf das Prinzip von vererbter Macht und den Willen, diese skrupellos auszunutzen.

Optisch noch spektakulärer: „Dance While You Shoot“, ein faszinierender Trip durch Tel Avivs Hochhausruinen, der Fluch und Segen eines starken Staates thematisiert: Er beschützt (im Idealfall) seine Bürger, raubt sie aber zugleich finanziell wie ideell aus, manipuliert sie und schickt sie in die Unmündigkeit.

Entsprechend wenig kuschelig, manchmal sogar ziemlich ungemütlich, aber hochgradig spannend und klanglich immens vielschichtig pulsiert Noga Erez Off The Radar, dieser Mix aus HipHop, Elektropop und futuristischem R&B denn auch – und strahlt gleichwohl eine äußerst positive Botschaft aus: Was immer in ihrer Heimatstadt geschieht – Noga Erez ist jederzeit bereit, einen Song darüber zu schreiben.

Cover Srt Noga Erez Off The Radar
Noga Erez Off The Radar (Cover: Amazon)

Noga Erez Off The Radar erscheint bei City Slang / Universal und ist erhältlich als Audio-CD, Vinyl LP und MP3-Download.

Noga Erez Off The Radar
2017/06
Test-Ergebnis: 4,3
SEHR GUT
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Musik
Klang
Repertoirewert

Gesamt

Autor: Christof Hammer

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Seit vielen Jahrzehnten Musikredakteur mit dem Näschen für das Besondere, aber mit dem ausgewiesenen Schwerpunkt Elektro-Pop.