de
Paul Simon im Jahr 2016
Ideen? Viele. Allüren? Keine: Paul Simon ist ein Meister der unprätentiösen Musizierkunst und als Klangforscher mindestens ebenso versiert wie als Songwriter. Jetzt erschien sein neues Album "Stranger to Stranger" (Foto: Universal)

Paul Simon Stranger To Stranger: 12. Soloalbum

Auch nach einem halben Jahrhundert und mit inzwischen 74 Jahren agiert Paul Simon noch so neugierig wie einst im Mai – einfach irre, findet LowBeats Autor Christof Hammer. Paul Simon Stranger To Stranger erscheint nun als ein weiteres seiner eher seltenen Soloalben und erinnert daran, dass der neben Bob Dylan vielleicht größte „klassische“ Songpoet der amerikanischen Musik nicht nur ein exzellenter Komponist ist, sondern auch ein famoser Klangforscher.

Über Paul Simons Verdienste als Songwriter muss nicht weiter diskutiert werden. Sein Oeuvre mit Art Garfunkel? Folkpop in Perfektion. In sieben Jahren von 1964 bis 1970 entstanden sechs Alben für die Ewigkeit, unvergängliche Lieder voller Emotion und Sophistication.

Als das vielleicht begnadetste aller Pop-Duos dann auseinanderging, war der Sänger und Liedschmied aus Newark, New Jersey, allerdings gerade mal 29 Jahre alt. Da bleibt noch eine Menge Lebenszeit übrig für weitere Großtaten.

Und er lieferte – allerdings mit dem Faktor 5 als Richtgröße: Paul Simon braucht ungefähr fünf mal so lange für ein neues Album wie die meisten Fließbandarbeiter der Musikindustrie.

Dafür enthalten seine Songs aber auch fünf Mal mehr Einfälle und Kreativität. Was er an Elementen und Ideen in nur eine Komposition packt, damit bestreiten viele Kollegen quasi ein halbes Album – allein der Mittelteil von „Kodachrome“ genügte einst etwa Fleetwood Mac, um daraus einen ganzen Song zu machen („Peacekeeper“).

Nicht weniger großartig sind freilich seine Qualitäten als Klangforscher. „Der richtige Song, zur richtigen Zeit geschrieben, kann über Generationen hinweg bestehen“, philosophiert Simon, „ein wundervoller Klang aber ist für die Ewigkeit bestimmt“.

Still crazy after all these years: Paul Simon Stranger To Stranger

Kommt beides zusammen, entsteht Großes – so wie jetzt auf dem (erst) zwölften Soloalbum seiner Karriere. Wieder einmal trifft Simons Klasse als Schöpfer von tendenziell konventionellen, unnachahmlich leichtfüßigen Kompositionen auf eine ungebrochene Experimentierlust in Sachen Arrangierkunst.

Bei Paul Simon Stranger To Stranger führte ihn sein bemerkenswert weiter Horizont beispielsweise zu dem italienischen Produzenten und DJ Cristiano Crisi alias Clap! Clap!, einem umtriebigen Soundtüftler zwischen Jazz, elektronischer (Dance) Music und Weltmusik, der an drei Tracks Hand anlegte und „The Werewolf“, „Wristband“ und „Street Angel“ rhythmisch ungemein frisch klingen lässt. Hier wirkt Simon so, als habe er gerade ein paar Beatboxer aus der New Yorker Bronx als Begleitband ins Studio geholt.

Paul Simon
Paul Simon, der Pionier des Ethno-Pop, ist bereits 74 Jahre alt. Seine Stimme klingt sehr viel jünger (Foto: Universal)

Zweiter prägender Einfluss: der amerikanische Klangforscher Harry Partch (1901-1974), der spannende Studien zu Themen wie Mikrotonalität oder der Melodik der Sprechstimme hinterließ – und eine veritable Sammlung an selbstgebauten Tonerzeugern wie den Cloud-Chamber Bowls (mit Schlegeln bespielbaren Glasballons) und dem Chromelodeon.

„Wir konnten die Partch-Instrumente nicht mit in unser Studio nehmen“, erzählt Simon, „also haben wir unser Equipment eingepackt und sind in die Montclair State University nach New Jersey gefahren, um die Aufnahmen dort zu machen“.

Das Chromelodeon, ein auf 43-teilige Oktaven gestimmtes Harmonium, gefiel dem klangverliebten Simon übrigens so sehr, dass er sich inzwischen ein eigenes Exemplar zulegte.

Zurück im Studio, mischten er und sein Langzeitkumpel Roy Halee ihre „Field Recordings“ mit raffiniert verzwirbelten Saitensounds, allerlei Blasinstrumenten und reizvoll subtiler Elektronik.

So entstand ein Genres von Blues und Jazz bis HipHop, Afrobeat und Latin Musik umarmendes Kaleidoskop an Klängen, in dem sich tendenziell konventionelle, unnachahmlich leichtfüßige Kompositionen in kleine Kunstwerke verwandeln.

Paradebeispiel: der Titelsong „Stranger To Stranger“ , der mit tieffrequenten Bässen und an- und abschwellenden Synthieloops apart zwischen Folkpop, Ambient und Dub oszilliert.

„Es geht darum, die Leute etwas auf eine neue Art hören zu lassen“, erklärt Simon seine nicht nachlassende Neugier – „Musik zu machen, die gleichzeitig vertraut und neu klingt, die ein wenig geheimnisvoll ist“.

Dazu seine zarte, scheinbar ewig junge Stimme, die einfach nicht altern will (aufs Schönste zu besichtigen in „Proof Of Love“, das ein klein wenig an Sting erinnert) und eine audiophile Produktion, die Perkussion- und Drumbeat-Sound mit trockenem Punch abbildet und drum herum ein wunderbar luftiges, „atmendes“ Klangbild skizziert: Fertig ist ein prachtvolles Album, mit dem Paul Simon einmal mehr als Meister von unprätentiöser Raffinesse überzeugt.

Coverbild Paul Simon Stranger To Stranger
Stranger To Stranger ist das neueste Werk des Meisters des Unprätentiösen (Cover: Amazon)

Paul Simon Stranger To Stranger ist erhältlich als Audio-CD, LP und MP3-Download.

Paul Simon Stranger To Stranger
2016/06
Test-Ergebnis: 4,5
ÜBERRAGEND
Bewertung
Klang
Musik
Repertoirerwert

Gesamt

 

Autor: Holger Biermann

Avatar-Foto
Chefredakteur mit Faible für feinste Lautsprecher- und Verstärkertechnik, guten Wein und Reisen: aus seiner Feder stammen auch die meisten Messe- und Händler-Reports.