de
Peter Gabriel
Charismatisch vom Scheitel bis zur Sohle – und musikalisch sowieso: Auch auf „i/o“ überzeugt Peter Gabriel mit einem formvollendeten Grenzgang zwischen Prog-Pop, Art-Rock und Klassik und sucht die Versöhnung zwischen Natur und Technik

Peter Gabriel „i/o“: das Album der Woche

Zugegeben, es hat ein wenig länger gedauert. Da orakelte Peter Gabriel 2002, dass mit dem Nachfolgeralbum zu seinem damals erschienenen Werk „Up“ bereits in zwei, drei Jahren zu rechnen sei. Nun wurden es also doch 21 Jahre, ehe der Altmeister des zeitgenössichen Prog-Pop-/Art-Rock wieder ein Album voll komplett neuer Eigenkompositionen präsentiert. Doch das Warten hat sich gelohnt: Dank viel starker Musik zwischen Art-Rock und Prog-Pop und exzellentem Klang sowohl in Stereo als auch in einer Mehrkanalversion holt Peter Gabriel „i/o“ ganz lässig den Titel als neues Album der Woche.

Die Tik-Tok-Isierung unserer Hörgewohnheiten schreitet voran, und alle machen mit. Alle? Nein – es gibt sie noch, die Musiker, die sich der track-by-track-Häppchenkultur, der Architektur eines permanenten klanglichen Reizes im 15-Sekunden-Takt widersetzen und Musik produzieren, die im Albumformat funktioniert.

Natürlich: Auch Peter Gabriel kann, wenn er will, die Klaviatur des modernen Marketings bespielen. Zu jeder (mitteleuropäischen) Vollmondnacht (und bei seinen Europakonzerten) gab es in den vergangenen zwölf Monaten einen neuen Song aus seiner Real-World-Hexenküche, jetzt präsentiert der Altmeister des modernen Art-Rock das gesamte Ensemble als „i/o“-Opus. Wer, ob der am astronomischen Kalender orientierten Veröffentlichungspolitik, eine esoterische Anwandlung befürchtet (oder erhofft) hat, kann übrigens aufatmen: Nein, keinerlei esoterische Aura liegt über „i/o“ – wohl aber eine Ernsthaftigkeit, einer reflektierte Sicht auf die Welt, die sich in den letzten zwanzig Jahren leider nicht gerade zum Besseren entwickelt hat. Denn so lange ist es tatsächlich schon her, dass Peter Gabriel letztmals mit eigenen Kompositionen von sich hören ließ – das zweiteilige Projekt „Scratch My Back / And I’ll Scratch Yours“ von 2009/2013 enthielt ja „nur“ Coverversionen“ von Klassikern der Rock- und Popgeschichte.

Die Musik von Peter Gabriel „i/o“

Die zwölf Kompositionen von „i/o“ lassen sich daher auch als intellektuelles, philosophisches Statement lesen. Die Kurzversion: Der Sinnen- und Gefühlsmensch Peter vertraut den Kräften der Natur ebenso sehr, wie der Technik-Freak Gabriel daran appelliert, das Potenzial von Algorithmen und sonstigen digitalen Wunderwaffen dafür zu nutzen, die Welt der Zukunft besser, gerechter, humanistischer zu machen. Der Themenkanon umfasst Nachdenkliches über das Vergehen der Zeit, Sterblichkeit und Trauer dabei ebenso wie Gedanken zur Ungerechtigkeit unserer Welt und über das stetig wachsendeÜberwachungs-Instrumentarium.

„Panopticum“ eröffnet mit dezent fernöstlich-weltmusikalischen Akzenten ehe knackige Bass- und Gitarrenlinien Takt für Takt für mehr Drive sorgen, ohne aber die geometrisch akkurate, gekonnt reduzierte Architektur des Arrangements je in Schieflage zu bringen. „Playing For Time“ setzt dann ein erstes balladeskes Glanzlicht: Anfangs zarte, dann mit kerniger Pranke gespielten Pianolinien korrespondieren vorzüglich mit straffen Streichern und wunderbar milden, herbstlich-melancholischen Holzbläsern, an denen auch Koryphäen der angelsächsischen Klassik des 19. Jahrhunderts wie Edward Elgar ihre Freude gehabt hätten. „Road To Joy“ kombiniert mit einem charismatischen Chorus, der fast an Glanztaten à la „Sledgehammer“ erinnert. Eher auf der elektronischen Seite von Gabriels Klangspektrum angesiedelt ist dann das dank allerlei Klicks und Ticks unberechenbar pulsierende „The Court“, das zudem jede Menge prog-rockige Breaks bereithält. Und  in „Olive Tree“ dürfen die Synthies dann fast euphorisch jubilieren.

Zu jeder Sekunde ist zu hören, dass hier ein Ensemble erstklassiger Musiker am Werk war – allen voran natürlich  Gabriels langjährige Backing Band mit Gitarrist David Rhodes, Bassist Tony Levin und Drummer Manu Katché. Etliche Songs entstanden zudem in Zusammenarbeit mit Gabriels langjährigen Weggefährten Brian Eno. Weiter Akzente setzen Pianist Tom Cawley, die Trompeter Josh Shpak und Paolo Fresu an der Trompete, Cellistin Linnea Olsson und Don E. am Keyboard. Außerdem sind der Soweto Gospel Choir und der schwedische Männerchor Oprhei Drängar sowie das New Blood Orchestra unter der Leitung von John Metcalfe zu hören. Gabriels Tochter Melanie als Backgroundsängerin und diverse Studiomusiker aus dem Real-Word-Kosmos verantworten das Programming und diverse weitere Instrumente. Alles zusammen: Vorzügliches Handwerk, das aber nie die nötigen Emotionen vermissen lässt oder in eine „nur“ professionelle Musizierhaltung verfällt. Und über allem liegt natürlich Peter Gabriels von der ersten Sekunde an hochpräsente Ausnahmestimme, die so wunderbar zärtlich klingen kann, aber auch so unnachahmlich charismatisch und schroff.

Aufgenommen wurde natürlich zum größten Teil daheim in Bath – also in den Real World Studios sowie in Gabriels Heimstudio. Und zwar: Die Produktion verdient das Prädikat State of the Art, überzeugt durch einen  fokussierten Bass und gut dosierte, also nicht übertriebene Räumlichkeit, lässt warm und sanft klingen, was warm und sanft klingen muss und eisig-schroff, was Coolness und verdient. Und das gleich dreifach, denn in Sachen Studio-/Aufnahmetechnik drehte Gabriel das ganze große Rad und präsentiert „i/o“ gibt es in gleich zwei gleichberechtigten, auf der Doppel-CD gebündelten Stereo-Versionen. Den „Bright Side“-Mix betreute Mark „Spike“ Stent; den „Dark Side“-Mix besorgte Kollege Tchad Blake. „Tchad und Spike sind zwei der Größten auf ihrem Gebiet und sie geben den Songs definitiv einen jeweils anderen Charakter“, erläutert der Chef die Idee hinter dieser. „Tchad ist eher eine Art Bildhauer, der eine Erfahrung baut aus Klang und Drama. Spike liebt Sound und das Zusammensetzen von Bildern. Er ist mehr Maler.“

Soweit die Theorie. In der Praxis sind die Unterschiede zwischen beiden Abmischungen allerdings weniger dramatisch als man annehmen würde. Die „Dark Side“-Version klingt etwas milder, dunkler, auf der „Bright Side“ haben vor allem die stärker rhythmisierten Tracks etwas mehr Punch und Biss. Audiophil ambitionierte Hörer, die gerne die Klanglupe auspacken, dürfen sich also ganz ohne Frage auf ein paar anregende Stunden im heimischen Hörraum freuen, denn für einige spannende Entdeckungen und Diskussionen über klangliche Detailfragen ist ein Direktvergleich zwischen „Bright Side“ und „Dark Side“ allemal gut. Und für Mehrkanal-Freunde gibt’s die 2-CD+Blu-ray-Edition, die das Repertoire in einen fantastisch dreidimensionalen Dolby Atmos-„Inside Mix“ transformierte und zusätzlich auch in 24/96 HiRes-Stereoversionen. Und jeder Vinyl- und Digitaledition liegt ein aufwändiges 32-Seiten-Booklet bei.

Nichts zu meckern also? Nun ja: Das Kunststück, den Spannungsbogen über stolze 68 Minuten hochzuhalten, gelingt (auch) Peter Gabriel nicht zu hundert Prozent. Die in der zweiten Albumhälfte platzierten (Halb-)Balladen „So Much“, „This Is Home“ und „And Still“ übertreiben es doch ein wenig in Sachen Beschaulichkeit – eignen sich aber immer noch gut, um draußen vor dem Fenster ein paar Schneeflocken beim Fallen zuzusehen. Umso mehr, als dass mit „Live And Let Live“ noch ein wirklich starker, weihnachtlich stimmungsvoller Schlussakkord wartet.

Peter Gabriel "i/o" Cover
Peter Gabriel „i/o“ erscheint bei Virgin Music im Vertrieb von Universal (Cover: Qobuz)

Es gibt Peter Gabriel „i/o“ auch als 2-CD-Ausgabe mit jeweils dem „Bright Side“- und dem „Dark Side“-Mix. Zudem gibt es jede Abmischung als separate Doppel-LP.  Die 2-CD+Blu-ray-Edition enthält neben den erwähnten Versionen den „In-Side Mix“ in Dolby Atmos und Stereo. Alles zusammen bringt schließlich ein limitiertes Fan-Set mit 4 LPs, 2 CDs und 1 Blu-ray. Alle Formate enthalten ein aufwändig gestaltetes 32-Seiten-Booklet.

 

Bewertung

Peter Gabriel „i/o“
2023/12
Test-Ergebnis: 4,6
ÜBERRAGEND
Bewertungen
Musik
Klang
Repertoirewert

Gesamt

 

Autor: Christof Hammer

Avatar-Foto
Seit vielen Jahrzehnten Musikredakteur mit dem Näschen für das Besondere, aber mit dem ausgewiesenen Schwerpunkt Elektro-Pop.