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Reinhard Mey Einsingen
Reinhard Mey hat mit "Das Haus an der Ampel" sein mittlerweile 28. Album aufgenommen. Und weil es auch noch richtig gut klingt, ist es unser Album der Woche...

Reinhard Mey Das Haus an der Ampel – unser Album der Woche

Der Mann schreibt seit über einem halben Jahrhundert gewitzt reflektierende Kurzgeschichten über gesellschaftliche Unwägbarkeiten, genauso wie über das Leben und dessen Kommen und Gehen an sich. Reinhard Mey schrieb damit auch ein Stück Geschichte, ist deshalb auch so etwas wie ein Kurator deutsch-soziologischer Anekdoten. Mit 77 macht er nun eine Hommage an die Zeit des Werdens, der großen Zukunftsvisionen und der Formen der Liebe. Reinhard Mey Das Haus an der Ampel ist ein Fest für Freunde beseelter Musikpoesie und dazu noch ein Hochgenuss für Audiophile. LowBeats  hörte sich das Album mit großer Muße an, sprach aber auch mit dem Barden sowie mit dessen Tonstudio-Mastermind Manfred Leuchter über die Entstehung des superb klingenden Albums. Die beiden Interviews, geführt von Frank Mischkowski, finden Sie auf Seite 2 des Beitrags.

Reinhard Mey Das Haus an der Ampel

Christine war so süß. Dunkelbraune Haare mit zackigem Mireille-Mathieu-Schnitt, dazu ein äußerst herzliches, breit strahlendes Lächeln. Es war die Schwelle von den 60ern zu den 70er Jahren. Damals führte mein Weg aus dem Elternhaus hinüber zur Grundschule über ein paar schmale Feldwege. Im Winter waren wir Kinder entzückt von der dünnen Eisschicht, die sich über Nacht wie von Zauberhand in den Ackerfurchen gebildet hatte. Im Sommer flogen wir leicht wie ein Federball über den schmalen Bach hin und her. Mit 8 fing ich an, die Ausflüge unserer kleinen Nachbarschafts-Gang – inklusive Christine und Zwergpudel Rocco – mit meiner Kodak Instamatic zu knipsen. Diese heile Welt schien dann für eine kurze Zeit unterzugehen, als ich in Masern-Quarantäne musste. Da wanderte der Blick kurz vor Mittag traurig aus dem Kinderzimmer im ersten Stock in Richtung Christines Heimweg von der Schule. Es war ein Freitag, als sie zu mir hoch winkte. „Freitag“ und „Christine“ sollten in dieser unschuldigen Zeit noch eine größere Bedeutung erlangen. Damals spielte der Bayerische Rundfunk tagsüber nicht nur für ans Bett Gefesselte Schlager – von Salvatore Adamo, Peggy March, Michael Holm („Mendocino“!), sondern auch neue, frische Töne. Wie die von einem gewissen Reinhard Mey, der in meiner Quarantänezeit ironisch aufgeregt „Christine“ besang, in „Ankomme, Freitag, den 13.“

Reinhard Mey Cover
Platte und Cover sind legendär: Reinhard Meys frühes Werk Ankomme Freitag den 13. (Cover: Amazon)

„Es rappelt am Briefschlitz, es ist viertel nach sieben
. Wo um alles in der Welt sind meine Latschen geblieben?
 Unter dem Kopfkissen nicht und auch nicht im Papierkorb
. Dabei könnte ich schwören, sie war’n gestern noch dort
. Also eben nicht, dann geh‘ ich halt barfuß
. Meine Brille ist auch weg, liegt sicher im Abfluss.
Der Badewanne, wie immer. Ich seh‘ auch ganz gut ohne
. Und die Brille hält länger, wenn ich sie etwas schone
. So tapp‘ ich zum Briefschlitz durch den Flur unwegsam
. Fall über meinen Dackel auf ein Telegramm
. Ich les‘ es im Aufsteh’n mit verklärter Miene:
 ‚Ankomme, Freitag, den 13. um 14 Uhr, Christine
. Ankomme, Freitag, den 13. um 14 Uhr, Christine!‘ … 
Um die Zeit müsste die Ente schon seit zehn Minuten braten
. Und vielleicht wär mir der Kuchen ausnahmsweise geraten
. Und ich sitz‘ auf der Wache, und das ausgerechnet heut‘. Dabei hab‘ ich mich so unverschämt auf das Wiedersehen gefreut!
 Vielleicht ist sie schon da, und es öffnet ihr keiner. 
Jetzt ist’s zwanzig nach vier, jetzt ist alles im Eimer!
 Da fällt mein Blick auf der Kalender, und da trifft mich der Schlag –
 heute ist erst der 12. und: Donnerstag!“

Der Musikpoet posierte auf seinem Album für die damalige Zeit keck in Schlafanzug und Morgenmantel, mit Dackel auf dem Arm. Was für eine Entdeckung fernab der Schlagerödnis. Es folgten: Weitere gemeinsame Schulwege mit Christine. Und der Genuss weiterer neuer Lieder von Reinhard Mey namens „Gute Nacht Freunde“ oder – noch bevor das erste Düsenflugzeug für den Italienurlaub bestiegen wurde – das schwelgerische „Über den Wolken“.

Reinhard Friedrich Mey griff mit zwölf erstmals in die Klaviertasten, mit 14 zupfte und streichelte er die Saiten seiner ersten Gitarre. Nach dem deutschen und französischen Abi (!) und Umwegen über eine Ausbildung zum Industriekaufmann sowie einem abgebrochenen BWL-Studium fand er zu seiner großen Liebe: Dem Liedermachen und dem Chanson – sein erstes, „Ich wollte wie Orpheus singen“ erschien 1964. Doch im Schlager-Deutschland der 60er war es nicht leicht, sich mit Anspruchsvollem Gehör zu verschaffen. „Der Mey ist ein Spinner“ („Der Spiegel“ 1971) war nur eine von diversen missgünstigen Einschätzungen des Zeitgeists. In Frankreich, wo Mey ebenso auftrat, mochte man den chansonesquen Berliner damals mehr. Schön, dass sich das bald änderte und Reinhard Mey nunmehr schon sehr lange im Olymp deutscher Musikpoeten aufspielt. 28 Studioalben und viele Live-Aufnahmen nebst zig Bühnenauftritten zeugen davon.

Klar, dass Mey auch viele musikalische Freunde zählt, einigen davon widmete er immer mal wieder Cover-Versionen wie zum Beispiel 2015 mit seinem Album Lieder von Freunden. Die 16-teilige-Sammlung vereint so unterschiedliche Stücke wie „Zauberland“ von Rio Reiser, „Wölfe mitten im Mai“ (Franz Josef Degenhardt), „Willst du dein Herz mir schenken“ von Johann Sebastian Bach oder „Schutzengerl“ (Kolonovits/Hirsch).

Die Musik von Reinhard Mey Das Haus an der Ampel

Schlägt man das neue Album auf, entblättern sich zwei Hälften: Der erste (CD-) Teil vereint 16 Band-Stücke sowie ein Duett mit Tochter Victoria-Luise („Scarlet Ribbons“). Im zweiten Akt intoniert Mey sein neues Liedgut als „Skizzenbuch“: solo, nur von der akustischen Gitarre begleitet.

Sein neues Werk ist auch in einer verlockend opulenten Version erhältlich: Als limitierte Buch-/CD-Edition, die auf 112 Seiten viele Dutzende, meist private Fotos vereint. Reinhard Mey Das Haus an der Ampel ist Schauplatz vieler seiner Lieder, es erzählt die Geschichten einer langen Reise, vom Aufbruch bis zur Heimkehr. „Ein Jahr und ein Leben habe ich an den Liedern geschrieben“, so Mey zu seinem 28. Studiowerk. Dabei bleibt Mey unpolitisch, auch wenn hier und da ironische Gesellschaftskritik aufblitzt („Ich liebe es, unter Menschen zu sein“).

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Reinhard Mey Das Haus an der Ampel spart nicht mit persönlichen Eindrücken und Bildern. Für Fans ist die Buch/CD-Version daher unerlässlich (Foto: C. Dick)

Dass die Klangqualität des neuen Albums hervorragend ausfiel, ist maßgeblich wieder mal Manfred Leuchter und Jörg Surrey zu verdanken (siehe Interview mit Mafred Leuchter): Plastisch, fein aufgelöst und mit gesegneter Transparenz und Feindynamik tönt es, übrigens ganz im Sinne von Meister Mey, wie mein Kollege Frank Mischkowski schon in einem früheren Interview erfuhr: „Ich mag es transparent, ich mag es luftig, wenn die Stimme in Wohlklang gebettet und doch vorn ist …“.

Die 16 Stücke vereint CD1, wie gesagt mit Band. CD2 (Skizzenbuch) beeindruckt mit noch etwas mehr Wärme und Körperhaftigkeit ihrer 16 Unplugged-Varianten, reduziert und getragen von Mey’s Stimme und Gitarre.

Leuchter steht für Reinhard Mey Das Haus an der Ampel mit seinem „Musentempel Aachen“ für Aufnahme, Arrangements, Mix und Mastering. Jörg Surrey zeichnet für die Gesangsaufnahmen bei der Telex Berlin verantwortlich. Die Lieder bereichern Musikerkollegen wie Ian Melorse (Gitarre, Low Whistle), Basilius Alawald (Cello), Manfred Leuchter (Tasteninstrumente), Antoine Pütz (Bass), Markus Wienstroer (Gitarre), Steffen Thormählen (Schlagzeug und Percussion), Jens Kommnick (Gitarre), Chris Burgmann (Gitarre), Uwe Böttcher (Violinen und Bratschen), Jeanmarie Pesciutta (Gitarren), Manou Liebert (Harfe), Martin Ernst (Hammond b3), Victoria-Luise Mey (Gesang).

„Im Hotel zum ewigen Gang der Gezeiten“ breiten sich sphärische Soundpanoramen aus, eine Whistle fiepst zärtlich, Streicher schmusen mit Meys über die vielen Jahre gereiften, leicht brüchiger Stimme.

„An meinen Bleistift“ – „mein grünweiss längs gestreifter Freund …“ so nennt er liebevoll seinen kreativen Begleiter mit „Duft von „Zedernholz“. Ein Freund, der über die Jahre half, Meys Gedanken zu Papier zu bringen. Ein dezentes Klavier und eine getupfte Gitarre zur Stimme, das war’s.

Das Titelstück reflektiert die Zeit in seinem Elternhaus, schöne Gedanken, Nostalgie pur, heitere Stimmung, frisch getragen von akustischen Gitarren. Lyrisch gibt Mey hier den präzisen, gefühlvoll agierenden Beobachter, den Familienchronisten.

„Bleib bei mir“ verströmt Bach’sche Duftnoten mit getragenen Streichern und barocken Gitarrentupfern. Wunderschön traurig.

„Häng dein Herz nicht an einen Hund“ wippt und peppt mit federndem Rhythmus und blickt dabei augenzwinkernd auf das Mensch-Hund-Verhältnis.

„Glück ist, wenn du Freunde hast“ betört durch eine strahlende Violine und klassischen Touch, wiedermal eine Reflexion auf gute Freunde und das Leben.

„Scarlet Ribbons“, aus der Feder von Evelyn Danzig und dem Text von Jack Segal ist ein Klassiker, den schon Harry Belafonte vertonte: Hier kontrastiert die hell-klare Stimme von Tochter Victoria-Luise die sonore väterliche Stimme im Folkgewand.

Reinhard Mey Das Haus an der Ampel ist ein gediegenes Album. Es als Alterswerk zu bezeichnen wäre zu banal – vielleicht eher als die Essenz der Essenz vorheriger Alben.
Und, ach ja, Christine – falls Du das liest, dann …

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Reinhard Mey Das Haus an der Ampel erscheint bei Odeon / Universal Music als Doppel-CD, Doppel-CD mit Buch, MP3-Download oder Stream, z.B. bei amazon.de (Cover: Amazon)

Zur Einstimmung auf das Album empfehlen wir dieses Video mit einem kleinen Garten-Akustikkonzert

Reinhard Mey
Das Haus an der Ampel
2020/06
Test-Ergebnis: 4,7
Überragend
Bewertungen
Musik
Klang
Repertoirewert

Gesamt

 

Die Interviews mit dem Meister und seinem Tonmeister finden Sie auf Seite 2

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Autor: Claus Dick

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Musikfachmann seit Jahrzehnten, aber immer auch HiFi-Fan. Er findet zielsicher die best-klingenden Aufnahmen, die besten Remasterings und macht immer gern die Reportagen vor Ort.