Nach 45 Karrierejahren hat sich die Celtic-Rock-Institution Runrig 2018 von ihren Fans verabschiedet. Nach vorangegangenen „Farewell“-Konzerten in Deutschland, Dänemark und England fiel der allerletzte Vorhang schließlich am 17.und 18. August vor heimischer Kulisse in den schottischen Highlands. Den bewegenden Runrig-Showdown dokumentiert jetzt der Livemitschnitt Runrig The Last Dance auf Blu-ray, DVD und als 2-/3-CD-Albumsets: großes Kino vor großer Kulisse.
Die Sache mit den angeblichen Abschiedstourneen kennt man ja. Erfolgsband gibt sich nach Jahrzehnten dem Unvermeidlichen hin, sagt auf einer (monetär äußerst einträglichen) letzten Konzertreise tränenreich Goodbye – und steht kaum zwei Jahre später wieder vor ihren Fans: Man habe es sich anders überlegt, das großartige Fanfeedback habe alle Beteiligten zum Umdenken gebracht und überhaupt sei man ja noch viel zu jung, um in Rente zu gehen. Von Tina Turner über die Scorpions bis zu A-ha: Die Liste der Rücktritte vom Rücktritt ist endlos, und nicht jeder betreibt die Angelegenheit von Anfang an so konsequent selbstironisch wie Bob Dylan, der schon seit 1988 auf seiner finalen „neverending tour“ unterwegs ist.
Wie die Sache wohl bei Runrig aussieht? Ob man die sechs Rock-Recken von der Isle Of Skye je wiedersehen wird? Nach rund fünfundvierzig Karrierejahren hat sich die Führungskraft der Celtic-Rock-Szene im vergangenen Jahr von ihrem Publikum verabschiedet – der Autor dieser Zeilen erlebte die Runrig-Abschiedsvorstellung im Juni 2018 in der Stuttgarter Schleyerhalle und gesteht freimütig: Als zu „Loch Lomond“ der letzte Vorhang fiel, hat auch er ergriffen das Taschentuch gezückt. Denn im Fall von Runrig könnte es tatsächlich ein Abschied für immer gewesen sein. Dass die Haudegen der Gründergeneration – Perkussionist Calum Macdonald, sein gitarrespielender und singender Bruder Rory, Schlagzeuger Iain Bayne und der zweite Saitenmann Gitarrist Malcolm Jones – nochmals in der bisherigen Formation auf die Bühne zurückkehren werden, scheint unwahrscheinlich: Schottische Männer (und Frauen) stehen gemeinhin zu ihrem Wort.
Am 17. und 18, August 2018 war es dann endgültig so weit: Im Stirling City Park von Stirling, dem nordwestlich von Edinburgh gelegenen „Tor zu den schottischen Highlands“, traten Runrig vor großer Kulisse zum Showdown an. Jeweils rund 25.000 „Riggies“ – die treuesten unter den treuen Runrig-Fans – feierten mit ihren Helden zwei unvergessliche Heimspiele, die unter die Haut gingen: Runrig The Last Dance
Aus aller Welt, von Südamerika über Neuseeland bis Asien und aus allen Teilen Europas war die Runrig-Gemeinde für dieses Event angereist – Flüge nach Glasgow und Edinburgh waren seit Wochen ausgebucht, sämtliche Hotelzimmer im Umkreis von 100 Kilometern seit Monaten belegt. Mit dem frühmittelalterlichen Stirling Castle im Rücken legten Runrig schließlich die letzten Stunden ihrer Karriere in Gänsehautatmosphäre zurück. Zu Beginn des Abends versucht Bruce Guthro noch tapfer, die Wehmut zu vertreiben: „Heute ist kein Abend um traurig zu sein“, sagt der Runrig-Frontmann, „lasst uns tanzen und feiern“. Aber vergebens: Die Gefühle fahren Achterbahn auf schottischem Heimatboden; hier wird nicht nur getanzt und gefeiert, sondern auch geweint und getrauert – und mutmaßlich ein Abschied für immer gefeiert.
Was man künftig am meisten vermissen wird, wenn diese Band nicht mehr weitermacht? Das Bandgefüge bei Runrig funktioniert als „circle of friends“, man teilt dieselben Werte und Gefühle – doch rein musikalisch betrachtet verdient die Gitarre von Malcolm Jones eine besondere Würdigung. Der eher unscheinbare Schlacks, auch an Dudelsack, Flöte, Whistle und Akkordeon ein Virtuose, ist ein stiller Meister seiner Faches, der sein Instrument mal elegant singen, mal rasant Tempo machen oder harsch fauchen lassen kann und die Saiten ähnlich virtuos krault und dehnt wie Ikonen wie Mark Knopfler oder David Gilmour.
Und auch als Chronisten eines aussterbenden Schottlands wird man Runrig vermissen: Wenn der Fang mal wieder mies war draußen auf dem Atlantik, die Mannschaft des Herzen verloren oder, dann kamen Schottlands Männer und Frauen in den Pubs zusammen, um zu feiern und zu vergessen – die Musik dazu lieferte ab 1973 die Run Rig Dance Band, wie die Formation seinerzeit noch nannte.
„Als wir begannen, waren wir als Dance-Band angetreten und spielten die Gemeindesäle an der schottischen Westküste rauf und runter“, erinnert sich Songwriter und Bassist Rory Macdonald. „Auf diesem ‘Übungsgelände’ haben wir viel für unsere Karriere gelernt. Zwei Dinge haben wir uns über die Jahre besonders bewahrt. Das eine ist, immer und überall unser Publikum wertzuschätzen. Und das zweite ist: Wir lieben es, unsere Fans tanzen zu sehen.“ Wie dynamisch Runrig die traditionelle gälische Folkmusik seither unter Strom gesetzt, sie akustisch und elektrisch verstärkt tanzbar gemacht haben, zeigt auch der 25 (auf Doppel-CD) beziehungsweise 31 (im 3-CD-Set) starke Mitschnitt dieses Abschiedskonzertes.
Mit Fiddle und Akkordeon startet der Abend äußerst traditionsbewusst mit einem Medley aus „Recovery“ und „The Brolum“. Mit „The Years We Shared“ nimmt dann ein rund dreistündiges Programm Fahrt auf, das mit großen Rhythmen und jubilierenden Riffs, mit Hymnen wie „The Stamping Ground“, „Protect And Survive“, „The Story“ oder „Alba“ sowie mit Archivperlen aus dem Bandkatalog und Traditionals aus dem Kanon der keltisch-gälischen Volksmusik tief in die Seele des Hörers greift.
Ein Verdienst auch von bestens aufgelegten Gästen: Dave Towers beflügelt den Folk-Pop von „Onar“ mit energischem Saxofonist, Laura McGhee erinnert in „Proterra“ mit erdverbundener Fiddle an die keltischen Wurzeln der Band, Akkordeonspieler Gary Innes sorgt in „Clash Of The Ash“ für überschäumende Pub-Atmosphäre und Donnie Munroe, der legendäre Sänger der Runrig-Ära zwischen 1974 und 1997, schmettert zusammen mit dem Glasgow Islay Choir zwei Lieder in gälischer Sprache. Die Dramaturgie dieses Abends reiht Höhepunkt an Höhepunkt, fast jeder Song ist für eine Gänsehaut gut. Und mancher gar für fast magische Momente – etwa, wenn sich Bruce Guthro und die Gastsängerin Julie Fowlis in „Somewhere“ zu einem Duett von fast spiritueller Tiefe begegnen oder wenn bei „Going Home“ ein Schwarm von Gänsen aus dem Bühnenhintergrund aufsteigt und Richtung Stirling Castle fliegt. Aus optischen Gründen lohnt sich also definitiv der Griff zur DVD beziehungsweise zur Blu-ray-Version dieses Livemitschnitts, zumal eine ambitionierte Kameraführung immer wieder ungewöhnliche Perspektiven findet, um das Geschehen auf der Bühne einzufangen.
Längst ist beim Flug der Highland-Gänse auch die Dämmerung über die Arena hereingebrochen. In rabenschwarzer Nacht und auf prachtvoll illuminierter Bühne inklusive diverser Flammenwerfer geht es andächtig durch „Book Of Golden Stories“ und schwungvoll und mit großer Bodhrán-Trommel durch „Pride Of The Summer“ ehe der Abend beseelt auf die Zielgerade einbiegt: Zum Finale singen 25.000 Kehlen stimmungsvoll die Bandhymne „Loch Lomond“, ein Feuerwerk sorgt für Lichterglanz und Sternenregen und Runrig und ihre Fans verabschieden sich mit einer a cappella-Version von „Hearts Of Golden Glory“ beinahe in Gottesdienst-Atmosphäre voneinander.
Alles zusammen ist für Celtic-Rock-Fans ein Genuss und für „Riggies“ ein Muss – und als Dokument einer großen Bandkarriere so bewegend, das diese CD/DVD-Sets eigentlich mit einer Packung Taschentücher ausgeliefert werden müssten.
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