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The National
Auch sie kamen nicht ohne Schrammen durch die vergangenen Jahre: The National hatten schwer zu kämpfen, um ihr neues Album „First Two Pages Of Frankenstein“ aufzunehmen (Foto: S. Herwig)

The National „First Two Pages Of Frankenstein: das Album der Woche

Wer kommt schon ohne Krisen durch Zeiten wie diese? Auch das amerikanische Musikerkollektiv The National musste erst durch schwere See, ehe das neue Werk doch noch sein Happy-End erlebte: Vorhang auf also für ein wunderbares Wiederhören mit einem LowBeats Musikliebling und für vielschichtigen Indierock mit literarischen Qualitäten und prominenten Gästen wie Taylor Swift. Und so wurde The National „First Two Pages Of Frankenstein“ fast schon zwangsläufig zum Album der Woche.

Ob ich wohl doch noch dem Universum von Jeff Bezos beitreten würde, falls „Ziggy“ (ihr wisst schon: das 2022 geborene, männliche Pendant zu Amazons Sprachassistentin „Alexa“) einmal mit der Stimme von Matt Berninger zu mir spräche? Die Versuchung wäre groß, ich gebe es zu … ich liebe den sonoren Bariton des Sängers von The National über alles, und er hat neben Ausnahmestimmen wie Leonard Cohen, Nick Cave oder Mark Gane (einst neben Martha Johnson die männliche Stimme der unvergessenen kanadischen New-Wave-Band Martha + The Mufins) seinen festen Platz in der Hitparade meiner persönlichen Lieblingssänger.

Andererseits: Ich lasse mich in meinem Lebensstil ungern mehr als unbedingt nötig digitalisieren – und sowieso höre ich Matt Berninger viel lieber als Sänger seiner Ausnahmeband The National, als dass ich mich mit ihm über den Kauf von Hundefutter oder über die Staumeldungen auf deutschen Autobahnen austauschen würde. Ziggy möge also ruhig weiterhin mit dem Timbre eines deutschen Nachrichtensprechers vor sich hinwerkeln: Amazon-Jeff muss weiterhin ohne mich auskommen, und dem neuen Album von Matt Berninger & Co. nähere ich mich unter weiterhin konsequenter Ignorierung jeglicher Amazon- und Spotify-Server. Einem stets relativ konstanten Arbeitsrhythmus folgend, präsentiert das in New York ansässige Quintett mit „First Two Pages Of Frankenstein“ nun die Nummer 9 seines Oeuvres. Alles easy also im Hause The National?

Mitnichten. Denn der Weg zum Nachfolger des gefeierten 2019er-Coups „I Am Easy To Find“ entpuppte sich als mittlerer Alptraum. Und es war gerade Matt Berninger selbst, der im Zentrum dieses Krisenszenarios stand und 2020/21 in eine veritable Schaffenskrise schlitterte. „Ich durchlebte damals eine sehr dunkle Phase, in der mir über ein Jahr lang keinerlei Texte oder Melodien einfielen“, erinnert sich der 52-jährige an seine massive Kreativblockade. „Und obwohl wir schon immer ängstlich waren und uns oft stritten, wenn wir an einer Platte arbeiteten, war dies das erste Mal, dass es sich so anfühlte, als ob die Dinge wirklich zu einem Ende gekommen wären. Doch irgendwie haben wir es geschafft, wieder zusammenzukommen und alles aus einem anderen Blickwinkel anzugehen. Dadurch sind wir in einer gefühlten neuen Ära für die Band angekommen.“

Die Musik von The National „First Two Pages Of Frankenstein“

Doch es hallt durchaus noch nach, was Gitarrist/Pianist Bryce Dessner, dessen Bruder Aaron (Gitarre/Piano/Bass) sowie die Brüder Scott Devendorf (Bass, Gitarre) und Bryan Devendorf (Schlagzeug) während dieser Zeit über sich ergehen lassen mussten, ehe die elf neuen Songs im Kasten waren. „Once Upon A Poolside“, eingespielt zusammen mit US-Indie-Folk-Ikone Sufjan Stevens, eröffnet den Songreigen jedenfalls als Pianoballade zwischen tiefer Melancholie und echter Verzweiflung. Ein überaus dunkel getönter Einstieg also – doch schon in „Eucalyptus“ tritt jene Portion herrlich dichter, gleichwohl klug dosierter, Lärm hinzu, den langjährigen Kenner der amerikanischen Indieband so sehr schätzen und der in Kombination mit balladeskem Schönklang den hinreißenden signature sound von The National ergeben. Zunächst sorgen ein luftig federnder Rhythmus und zarte Pianotupfer für ein melodisch-gemächliches, ehe eine robuste E-Gitarre hinzutritt, die sich erst ein prägnantes Solo erlaubt, um sich dann zu einem prachtvollen Saiten-Crescendo zu verdichteten.

Akustikgitarre, ein sanfter Midtempo-Beat und Matt Berningers Performance zwischen spoken poetry und klassischem Independent-Gesang prägen dann die weiteren Teile einer Songkollektion, die Texte mit literarischer Qualität mit den Tugenden des zeitgenössischen Indie-Rock verbindet. Dass die leisen Töne überwiegend, darf, siehe oben, nicht verwundern und macht dieses Album zu einem Werk fürs Zuhören und für kontemplative Stunden.

Gleichwohl geraten die Finger ins Schnippen und die Füße ins Wippen, wenn die Band ihrem Frontmann immer mal wieder einen apart tänzelnden Groove und eine federleichte Instrumentalbegleitung zur Seite stellt – exemplarisch zu erleben etwa in „New Order T-Shirt“ oder in „This Isn’t Helping“, einem emotional dichten, dabei sensibel gesungenen Duett zwischen Berninger und seiner amerikanischen Kollegin Phoebe Bridgers mit leicht angerauter Synthie-Gitarren-Garnitur. Noch ein zweites Mal tritt Phoebe Bridgers übrigens zum Duett an, und auch in „Your Mind Is Not Your Friend“ geht es beinahe weihevoll und zärtlich durch ein melancholisches Pianoarrangement.

Komplett wird die Gästeliste von „First Two Pages Of Frankenstein“ dann durch den aktuellen weiblichen Superstar der (weißen) amerikanischen Musikszene: In „The Alcott“ teilt sich Berninger das Mikrofon tatsächlich mit Taylor Swift. Schon mehrfach – etwa auf ihren 2020 von Aaron Dessner mitproduzierten und -komponierten Alben „Folklore“ und „Evermore“ – hatte die längst zur renommierten Singer-Songwriterin gereifte beinahe-Alleskönnerin aus Pennsylvania bekanntlich mit Mitgliedern von The National zusammengearbeitet und sich ihrerseits mit einem Gastauftritt bei Aaron Dessners Soloprojekt Big Red Machine revanchiert.

Angenehmerweise verzichten aber sowohl die Band wie auch ihr Label 4AD auf jegliches Namedropping und bewerben „First Two Pages Of Frankstein“ zu keinem Zeitpunkt explizit mit dem Namen der prominenten Gastsängerin – gut so, denn zwischen dem Soundkosmos von Taylor Swift als Solokünstlerin und dem, was sie als Duettpartner beisteuert, liegen ähnlich viele Welten wie einst bei Nick Cave und Kylie Minogue, als der große Existenzialist des Indierock und die Dancepop-Blondine sich 1995 für „Where The Wild Roses Grow“ zusammenfanden.

Deutlich mehr „nach vorne“ geht es in Sachen Tempo und Dynamik dann mit der ersten, beinahe tanzbaren und für The-National-Verhältnisse hochgradig optimistischen fünf-Minuten-Single „Tropical Morning News“ sowie insbesondere mit „Grease In Your Hair“, das 3:58 lang zu druckvollen Drumbeats dicht und packend und mit hymnischen Gesangslinien den Tasten-Saiten-Kosmos von The National durchpflügt. Einige schön knackige Gitarrenriffs packen die Herren Devendorf und Dessner in „Alien“ aus, ehe „Ice Machines“ dann das wieder nachdenkliche Finale eines Albums einläutet, das kein großen Gesten, keine plakativen Effekte braucht, um auf sich aufmerksam zu machen, sondern das auf überwiegend leise Art und mit filigranen musikalischen Mitteln unter die Haut geht.

The National "First Two Pages Of Frankenstein" Cover
The National First Two Pages Of Frankenstein erscheint bei 4AD Records im Vertrieb von Beggars/Indigo und ist erhältlich als CD, LP im Gatefold-Cover, als Download und via Stream sowie als limitierte LP-Klappcover-Edition in rotem Vinyl (Cover Qobuz)
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The National „First Two Pages Of Frankenstein“
2023/05
Test-Ergebnis: 4,5
ÜBERRAGEND
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Musik
Klang
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Gesamt

Autor: Christof Hammer

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Seit vielen Jahrzehnten Musikredakteur mit dem Näschen für das Besondere, aber mit dem ausgewiesenen Schwerpunkt Elektro-Pop.