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The Notwist Vertigo Day Covers
Eindimensionalität? Nicht mit The Notwist. Vertigo Days fasziniert mit Soundscapes voll schillernder Zwischentöne – diesmal mit Gästen aus aller Herren Länder (Foto: J.M. Haslinger)

The Notwist Vertigo Days – das Album der Woche

Bayerisch by nature, aber international und vielschichtig wie nie zuvor: Mit Gästen aus aller Welt gelingt The Notwist be ihrem neuesten Coup ein schwindelerregend komplexer Grenzgang zwischen Indie-Rock, Elektronik, Ambient-Folk und Avantgarde-Pop. Und das macht The Notwist Vertigo Days zu unserem Album der Woche.

Deutschlands beste Band? Popfans, Hard-Rock-Anhänger oder die Mitglieder der IG Metal könnten sich für die Antwort auf diese Frage beinahe unendliche Diskussionen liefern. Freunde von Indie-Rock und unkonventionelleren Klängen jenseits des Mainstreams haben es da deutlich leichter: Für sie führt an The Notwist (und, zur abendlichen „Rotweinstunde“, selbstverständlich auch an Element Of Crime) seit fast drei Jahrzehnten kein Weg vorbei. Seit 1990 ist die Formation um die beiden Brüder Micha und Acher sowie Cico Beck wohl spannendste Band der deutschen Musikszene, überzeugt mit Ideenvielfalt, musikalischer Kompetenz und immer wieder neu aufflammendem Gestaltungswillen.

Und längst hat sich das bandeigene uphon-Studio im oberbayerischen Wilzhofen unweit von Weilheim zum nach allen Seiten offenen Klanglabor entwickelt, in dem mit fast wissenschaftlicher Akribie gefrickelt und programmiert wird, in dem mal die reine Lust am Lärm regiert oder Melodien von purer Schönheit erschaffen werden. Ein Instrumentarium von analogen und digitalen Synthesizern über Gitarren und Holz- und Blechbläser bis hin zu Glockenspiel, Vibraphon oder Klangschalen vereint sich hier in ländlicher Idylle zu jenem einzigartigen Notwist-Stil aus Post-Rock, Elektro-Pop, Ambient Music, Neo-Jazz und Krautrock 4.0, der mal in geometrisch strenge Figuren gegossen wird, mal scheinbar anarchisch-frei morphen und mäandern darf, aber immer einem Konzept folgt – so sind The Notwist zwar „bayerisch by nature“, aber zugleich hochgradig polyphon.

The Notwist
Der harte Kern: The Notwist sind die Brüder Markus und Micha Acher sowie – ganz links – Cico Beck (Foto: Morr Music)

Die bislang letzten Klangfetzen unter eigenem Bandnamen funkten The Notwist mit dem 2015er-Album „Close To The Glass“ von Weilheim aus in den Orbit. Doch untätig war man seither kein bisschen. Fast jedes Bandmitglied kümmerte sich um jeweils individuelle oder gemeinsame weitere Projekte – als da wären die Formationen Spirit Fest, Hochzeitskapelle, Alien Ensemble, Joasihno oder um das eigene Plattenlabel Alien Transistor. Zudem wurden Filmmusiken wurden komponiert, Compilations (etwa das „Minna Miteru“-Projekt) kuratiert und den Münchner Kammerspielen das (unter normalen Umständen alljährlich stattfindende) Live-Festival namens Alien Disko geschenkt.

Die Musik von The Notwist Vertigo Days

Die so entstandenen Interaktionen mit befreundeten Kollegen führten wiederum zu jeder Menge kreativer Rückkopplungen – nachzuhören nun auf dem neuen Album The Notwist Vertigo Days, für das die Bayern ihren Bandkosmos mehr und mehr Richtung Kollektiv öffneten. So gibt es auf diesen 14 Tracks eher ein vielköpfiges, um zahlreiche Gäste erweitertes Ensemble als eine klassische Band zu hören. In „Ship“ beispielsweise bestimmt die japanische Sängerin Saya (bekannt als weibliche Hälfte des japanischen Pop-Duos Tenniscoats) den Sound mindestens ebenso sehr wie der taktgebende, manisch-fiebrige Schlagzeug-Groove von Cico Beck. „Oh Sweet Fire“ wiederum gehört zu weiten Teilen dem amerikanischen Multiinstrumentalisten und Jazz-Erneuerer Ben LaMar Gay, der auch den Text schrieb – „ein ‚Liebesgedicht für heutige Zeiten‘, das von Liebenden in den Wirren eines politischen Protestmarsches erzählt“, so Gay. Der orientalisch umwölkte Dream-Pop von „Into The Ice Age“ stellt dann die Klarinette der amerikanischen Jazzmusikerin Angel Bat Dawid in den Mittelpunkt, in „Al Sur“ schließlich steuert die argentinische Sängerin und Produzentin Juana Molina die Lead Vocals sowie die elektronischen Teile des Arrangements bei – und Kollegin Saya gastiert hier als Teil des Bläserensembles Zayaendo.

Immer wieder führen The Notwist diese Tracks ineinander über – entweder durch kleine, sechzig bis neunzigsekündige Intros beziehungsweise Interludes oder durch direkte Überblendungen. Eng miteinander verwoben sind auch die Songtexte. Obwohl multilingual (es gibt Gesangspassagen auf Englisch, Japanisch, Spanisch und Französisch) erwecken sie, wie Markus Acher sagt, „das Gefühl eines zusammenhängenden Gedichts.“ Als roten Faden dient die Erkenntnis, „dass für unmöglich Gehaltenes jederzeit Realität werden kann“, so Markus Acher. „Das kannten wir bislang eher aus dem Privaten. Aber während der Aufnahmen zum Album hat sich die Situation dramatisch verändert. Plötzlich ereigneten sich diese unmöglich geglaubten Dinge auch außerhalb, in weltpolitischem Maßstab.“

Wo man sich einst auf festem Boden wähnte, da brechen nun also Krater und Untiefen massenweise auf, und Unsicherheit wird zum zentralen Lebensgefühl der Gegenwart – auch bei The Notwist. „Sich dieser Unsicherheit zu stellen, erfordert Mut. Sie erfüllt uns aber zugleich mit einem starken Gefühl der Lebendigkeit“, sagt Markus Acher – und antwortet darauf zusammen mit seinen Kollegen mit einem quicklebendigen, hochkreativen Album. Man will nicht zu viel hineininterpretieren in diesen Kosmos aus Rhythmen, Melodien, Gesängen und Geräuschen, aber in seiner Mischung aus geometrischen Strukturen und seiner Fähigkeit zur überfallartigen Klangtransformation und chamäleonhaften Verwandlungsfähigkeit wirkt Vertigo Days wie eine Bespiegelung jenes schwindelmachenden Zeitgeistes, der die Welt derzeit in permanente Unruhe versetzt.

Schon das Intro „Al Norte“ mit seinem tribalistischen Rhythmus und den unkonventionellen Sirenengesängen steht für diese Atmosphäre zwischen Atemlosigkeit, Spannung und Unberechenbarkeit. Der Gegenpol folgt nahezu mit dem sphärischen „Into Love / Stars“, das bizarre Keyboardsounds, so zerbrechlich wie Seifenblasen, ab 2:44 mit einer stoisch pluckernden beat box verbindet. Dieser Kontrast aus  unberechenbaren Rhythmen und bienenschwarmartig drumherum schwirrenden Klangpartikeln entwickelt sich fortan zum roten Faden von „Vertigo Days“ – in „Ship“ gibt es diese Konstellation ebenso zu erleben wie in „Into The Ice Age“, das repetitive Rhythmus- und Gitarrenfiguren mit einer explizit jazzigen Note verbindet. Die eher die minimalistische Ebene bespielen dann „Loose End“ mit ruhigen Gitarrenlinien sowie „Oh Sweet Fire“ mit Ambient- und Neo-Klassik-Elementen.

Das Gegenstück als eine von zwei, drei griffigeren Kompositionen mit Hit-Charakter markiert „Exit Strategy To Myself“, das von einem hinreißend einfachen, aber unwiderstehlichen Gitarrenthema lebt – hier beweisen The Notwist ihre ungebrochene Klasse als Indie-Rock-Ensemble. Als stilles Juwel zeigt sich hingegen „Night’s Too Dark“, das mit sanften Saitensounds, sparsamer Vibraphon- und Glöckchenbegleitung und einem beschaulichen Midtempo-Groove als kleine Nachtmusik für Pop-Avantgardisten verzaubert. Auch Markus Achers helle, jungenhafte Stimme funktioniert in diesem Liebeslied ganz besonders gut – ebenso wie in „Into Love Again“, das dieses 49:20 lange Programm als unkonventionelle, aber beschaulich schöne und mit einer fast kinderliedartig kontemplativen Melodie ausgestattete Folkballade beschließt.

The Notwist Vertigo Day Covers
The Notwist Vertigo Days erscheint bei Morr Music / Indigo im Vertrieb von 375 Media und ist erhältlich als CD, als Doppel-LP + Download-Code (als limited edition auch in weißem oder grünem Vinyl) sowie als Download (Cover: Amazon)
The Nowist
Vertigo Day
2021/01
Test-Ergebnis: 4,4
SEHT GUT
Bewertungen
Musik
Klang
Repertoirewert

Gesamt

Autor: Christof Hammer

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Seit vielen Jahrzehnten Musikredakteur mit dem Näschen für das Besondere, aber mit dem ausgewiesenen Schwerpunkt Elektro-Pop.