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Algiers Shook
Die US-amerikanischen Postpunker von Algiers schaffen mit „Shook“ ein außergewöhnlich abwechslungsreiches Werk – unser Album der Woche (Foto: C. Högstedt)

Algiers „Shook“ – das Album der Woche

„So klingt Hoffnung im Jahr 2022, wenn alles zusammenbricht“, erklärt Sänger Franklin Fisher die erste (noch vergangenes Jahr eingespielte) Single aus dem vierten Album seiner Band Algiers. Doch nicht nur „Irreversible Damage“ – auch die weiteren 16 Tracks von Algiers „Shook“ funktionieren als furioser Soundmix von HipHop über New Wave bis No Wave und als gnadenlos analytischer Blick auf die aus den Fugen geratene Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Deshalb ist „Shook“ nicht nur die aktuelle Lowbeats Platte der Woche, sondern schon jetzt auch ein Kandidat für die Album-Bestenlisten des Jahres 2023.

Nein, leicht gemacht haben Algiers es dem Hörer noch nie. Aber wer was „Leichtes“ sucht, wird in der aktuellen Musikszene schließlich mehr als ausreichend fündig. Von daher: gut, dass es das Quartett aus Atlanta und seine explizite, HipHop, Punk, Gospel, Soul, Jazz, New Wave, No-Wave und Elektronik umfassende Klangsprache noch gibt. Sicher war das nämlich keineswegs; denn insbesondere der lange Jahre in London hängengebliebene Sänger James Franklin Fisher und sein Kumpel Ryan Mahan (Bass, Keyboards, Percussion) kämpften 2020 nach der Rückkehr ins heimatliche Atlanta mit einem handfesten Burnout. So stand die Zukunft von Algiers monatelang schwer auf der Kippe, ehe man sich nun zu Album Nummer 4 durchkämpfte.

Dass in der vorangegangenen Aufzählung übrigens das Genre „Pop“ fehlt, ist natürlich kein Zufall: Stets war der Algiers-Sound nach so ziemlich allen experimentell-avantgardistischen Richtungen offen; konventionellem Pop-Rock zeigt diese Band aber bis heute rigoros die kalte Schulter. So bringt auch „Shook“ reichlich anspruchsvollen Stoff – doch immer wieder auch klug strukturierte Kompositionen, die das Zeug zu extravaganten earcatchern haben.

Diesmal mit dabei: ein gutes Dutzend Gäste mit Samuel T. Herring, Sänger der amerikanischen Synthiepop-Kultband Future Islands, sowie dem Kollegen Zack de la Rocha von den Crossover-Rockern Rise Against The Machine als deren prominentesten. Die weiteren Mitwirkenden, von Big Rube (The Dungeon Family) und Jae Matthews (Boy Harsher) über LaToya Kent (Mourning [A] BLKstar), Backxwash, Nadah El Shazly, DeForrest Brown Jr. (Speaker Music), Patrick Shiroishi, Lee Bains III oder Mark Cisneros (The Make-Up, Kid Congo Powers). Durchweg Fälle für ausgewiesene Kenner der (US-)Undergroundszene zwischen HipHop und Alternative-/Punk-Rock.

Die Musik von Algiers „Shook“

Los geht’s mit „Everbody Shatter“, das sich mit Old-School-HipHop vor dem Schaffen von DJ Grand Wizard Theodore verneigt, dem zusammen mit Grandmaster Flash wohl bahnbrechendsten Künstler des New Yorker Rap-Szene der 1970er-Jahre und (Mit-)erfinder des Scratchings. „Irreversible Damage“ mit Zack de la Rocha thematisiert dann zu vehement pluckernden Sequencern, rabiaten Gitarren und allerlei afrikanisch-arabischem Beiwerk die nicht mehr wettzumachenden Schäden, die der moderne Kapitalismus an unserer Welt verursacht hat.

Auch das folgende, mit wütenden Gitarrenriffs gespickte „73 Percent“ sowie die beiden 1:34 und 1:20 kurzen Soundscapes „Cleanse Your Guilt Here“ und „As It Resounds“ stehen dann ganz im Zeichen von scharfzüngigem „conscious rap“ – denn selbstredend schwebt der musikalische Molotow-Cocktail von Algiers nicht im luftleeren Raum oder fiel einfach mal so vom Himmel, sondern ist gekoppelt an eine explizite politische Haltung und an eine schonungslose Analyse der Verhältnisse. Das feuchtwarme Klima der spätkapitalistischen Fäulnis, die Verrottung des Humanismus, Rassismus, Polizeiwillkür und mit Füßen getretene Menschenrechte sind es, die den Nährboden für den hochprozentigen Sound des James‘ Fisher & Co. bilden. Und immer wieder knüpft Fisher Verbindungslinien zwischen dem Black-Panther-Movement der 60er und der Black-Lives-Matter-Bewegung von heute und leuchtet die gewaltigen Schatten aus, die diese Welt inzwischen auf sich selbst wirft.

Und ab und an ist auch der Zeitpunkt gekommen, um tüchtig zurückzubeißen so etwa im sechsminütigen „Bite Back“, das gleisende Synthies, industrialartige Soundscapes und schwere Drumbeats zu einer Mischung aus Depeche Mode, Nine Inch Nails und Gil Scott-Heron verschweißt und den eher elektronisch bis punkrockig gehaltenen Teil dieses 17 Tracks starken Albums einläutet. Auch „A Good Man“ bespielt diese Tonlage, während „I Can’t Stand It“ mit dunklen Gitarren oder „Cold World“ mit markanten New-Wave-Keboards und kühlen Syn-Drums demonstrieren, wie klug Algiers ihre dystopische Klangsprache zu strukturieren und mit faszinierenden Details auszustatten wissen. „Green Iris“ wiederum kombiniert gespenstische Jazzbläser, so bedrohlich aus dem Nichts trötend wie Schiffsnebelhörner über dem nächtlichen Atlantik, mit düsteren Dub-Effekten. „Something Wrong“ bringt eine ähnliche Klangkulisse zunächst im Gewand eines zerklüfteten Elektro-Arrangements, ehe ruppige Gitarren das Kommando übernehmen. Alles zusammen: ein Album-Schwergewicht und ein furioses Statement einer Band, die dem Pop seine Relevanz als künstlerische, weit über die rein musikalische Ebene hinausreichende Kraft zurückgibt.

Algier Shook Cover
Algiers Shook erscheint bei Matador/Beggars im Vertrieb von 375 Media und ist erhältlich als CD, als Doppel-LP, als limitiertes 2-LP-Set in goldenem Vinyl sowie als Stream und Download (Cover: Qobuz)

Auch live ein Ereignis: In ihren Konzerten spielen sich Algiers mit maximaler Fiebrigkeit durch die Highlights aus ihren mittlerweile vier Studioproduktionen. Anfang März zeigen Franklin Fisher & Co. bei fünf Auftritten auch in Deutschland, wie eindrucksvoll ihre Musik auf der Bühne funktioniert. Tipp: unbedingt hingehen!

Die Termine: 

1.3. Dresden – Beatpol
2.3. Berlin – Hole44
3.3. Bielefeld – Forum
4.3. Schorndorf – Manufaktur
5.3. Köln – Club Volta

Bewertung:

Algiers „Shook“
2023/02
Test-Ergebnis: 4,4
SEHR GUT
Bewertungen
Musik
Klang
Repertoirewert

Gesamt

 

Autor: Christof Hammer

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Seit vielen Jahrzehnten Musikredakteur mit dem Näschen für das Besondere, aber mit dem ausgewiesenen Schwerpunkt Elektro-Pop.