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Bruce Springsteen Letter To You Rezension Aufmacherbild
Mit vielen alten Getreuen nahm Bruce Springsteen sein neuestes Album "Letter To You". Ein Muss für die Freunde des amerikanischen Rock

Bruce Springsteen Letter To You – das Album der Woche

Der Boss schreitet weiter voran durch den Herbst seiner Karriere: Sein neuestes Werk zeigt einmal mehr, wie klassischer American Rock klingen muss – und wie sehr man ihn und seine E Street Band als Altmeister dieses Genres eines Tages vermissen wird. Bruce Springsteen Letter To You ist unser Album der Woche.

Wie viel Zeit bleibt einem noch, wenn man mal in seinen persönlichen Siebziger Jahren angekommen ist? Bei Johnny Cash waren es gerade mal neunzehn Monate, ehe er im September 2003 mit 71 an den Folgen einer Lungenentzündung gestorben war. Im Fall von Bruce Springsteen besteht – Stand heute – freilich kein Grund zur Sorge. Der Boss ist zu Beginn seines achten Lebensjahrzehnts körperlich in exzellenter Verfassung, wirkt vital, lebenshungrig, depressionsresistent. Doch unter der fitten Fassade steckt ein sensitives Innenleben und ein reflektierender Kopf, der genau darum weiß, dass der Zahn der Zeit uns Tag für Tag einen kleinen Teil des Lebens abknabbert. Mehr denn je also scheint es angebracht, die Momente noch bewusster zu erleben, zu genießen und zu feiern als in jüngeren Jahren – und zugleich auch ins Stadium der Rückschau und Innehaltens einzutreten.

Diesen Lebensabschnitt von Retrospektive bei zugleich ungebrochener Schaffenslust eröffnete Springsteen spätestens 2016, als er mit seiner Autobiografie „Born To Run“ seine bisherige Vita Revue passieren ließ. Ein Jahr später folgten seine gefeierten „On Broadway“-Auftritte, mit denen er zwischen Oktober 2017 und Dezember 2018 im herrlich nostalgischen New Yorker Walter Kerr Theatre glänzte – zu allen Details rund um die Solo-Performances an historischer Stätte bitte hier weiterlesen.

 

Bruce Springsteen im Schnee
„Best Ager“ in Topform: Mit seinen 71 Jahren gäbe Bruce Springsteen auch ein erstklassiges Model für Outdoor-Kleidung der Premiumklasse ab

Mit Letter To You schreibt der Silberrücken unter den amerikanischen Gegenwartsrockern nun das nächste Kapitel seines Spätwerks – und dass die Endlichkeit unser aller Existenz keineswegs nur eine diffuse Angst, sondern eine ziemlich konkrete Angelegenheit ist (in fortgeschrittenem Alter eben noch etwas mehr als in jüngeren Jahren). Daran erinnert der Boss gleich zum Auftakt in „One Minute You’re Here“. Wie eine Präambel ist diese bittersüße Ballade den weiteren dreizehn Songs vorangestellt. „One minute you’re here, next day, you’re gone“, brummelt Springsteen zu einem sanften Gitarren-Piano-Keyboard-Dreiklang und einem minimalistischen Drumbeat: ein 2:58 langer Grenzgang zwischen Folkpop und Philosophie.

Aber weil man Schwermut und Melancholie (zumal in Zeiten wie diesen hier) nur in homöopathischen Dosen zu sich nehmen sollte, setzen Springsteen & Co. ihren Sound schon mit dem folgenden Titelsong wie gewohnt unter Strom – die E Street Band wird von der Leine gelassen. Nils Lofgren und „Little Steven“ Van Zandt lassen ihre Gitarren schmettern und dröhnen, Max Weinberg ist die gewohnt sachliche, gleichwohl satt und spielfreudig trommelnde Autorität am Schlagzeug, Roy Bittan klimpert seine wie immer ein wenig an Weihnachtsglocken erinnernde Themen aus den Tasten von Piano und Keyboards, und auch das Saxofon bleibt Familiensache: Neffe Jake Clemons tritt mit druckvoll-röhrendem Gebläse in die Fußstapfen seines 2011 verstorbenen Onkels und E Street Band Urgesteins Clarence.

Bruce Springsteen Letter To You im Studio
Tatort New Jersey: Das neue Album Letter To You entstand an fünf Tagen im Home Studio von Bruce Springsteen unweit von Freehold / Monmouth County. Vollständig versammelt: die E Street Band – Springsteens musikalische Großfamilie mit Schlagzeuger Max Weinberg, den Gitarristen Nils Lofgren und Steven Van Zandt sowie Keyboarder Roy Bittan im Zentrum.

Ebenfalls mit dabei natürlich: Springsteen-Gattin Patti Scialfa als Begleitsängerin, Bass-As Gerry Tallent, Organist Charlie Giordano sowie die Studio-Langzeitkompagnons Ron Aniello (Co-Produktion), Bob Clearmountain (Mix) und Bob Ludwig (Mastering). Alle zusammen: Springsteens „best buddies“, seine nicht nur musikalische Familie – und ein Ensemble, das weiß, wie man klassischen American Rock im cinemascopischen Breitwandformat inszeniert.

Aufgenommen wurde das 20. Studioalbum im Oeuvre des Boss in dessen Home-Studio in New Jersey. „Wir haben die Platte in nur fünf Tagen gemacht und es stellte sich als eines der größten Aufnahmeerlebnisse heraus, die ich je hatte“, schwärmt der Chef über die Sessions mit seiner Gang. „Ich liebe die Emotionalität von ‚Letter To You‘, und ich liebe den Sound der E Street Band, die komplett live im Studio spielte, so wie wir es noch nie zuvor gemacht haben, ganz ohne Overdubs.“

Die Musik von Bruce Springsteen Letter To You

Dabei schlagen Springsteen und sein Team einen Bogen zwischen Einst und Jetzt, erinnern an den Frühling ihrer Karriere und feiern zugleich deren beginnenden Herbst. Gleich drei Songs stammen dabei aus den Anfangsjahren von Springsteens Schaffen: Den „Song For Orphans“, „Janey Needs A Shooter“ und „If I Was The Priest“ schrieb der New-Jersey-Man allesamt in den frühen 1970er-Jahren: ein Trio, das die Lücke zwischen Folk und Rock schließt. Ob diese Lieder als Frühwerke erkennbar sind, wie sie wohl geklungen hätten, wären sie damals auf Springsteens Debüt Greeting From Asbury Park, N. J. erschienen? Sagen wir so: Springsteen spielt diese Kompositionen mit dem Sound von heute – also mit großem Besteck, das aber, wie im Mittelteil von „If I Was The Priest“, auch mal schön zurückgefahren wird – jedoch im Geist von damals – nicht nur in den Mundharmonika-Parts grüßt aus der Ferne Bob Dylan.

Am anderen Ende der Dynamikskala angesiedelt sind dann Songs wie das Gitarrenbrett „Burnin‘ Train“, das sich unwiderstehlich in euphorische Höhen hinaufjubilierende „Ghosts“ oder das sehnsuchtsvolle Finale „I’ll See You In My Dreams“– hier rockt die E Street Band das Haus wie in alten Zeiten. Dass sie sich dabei auch so anhört wie ein Ensemble älterer weißer Männer, das es aus dem vorherigen Jahrtausend in die Gegenwart verschlagen hat: das ist Teil der Wahrheit und des Lebens.

Und so kann – wer denn will – eine gewisse Überraschungsarmut in diesem Rock’n’Roll-Kompendiums bemängeln, seinen aus den 1970ern und -80ern in die Moderne sickernden Gestus als hoffnungslos antiquiert bezeichnen. Die Themen, die Typen, das Lebensgefühl, deren musikalische Umsetzung: Alles an diesem Panoptikum eines aussterbenden Amerikas mit seinen mal illusionslosen, mal hemmungslos romantisierten Blicken auf den unendlichen Horizont und in die Weite des Landes mit seinen Highways, seinen Suburbs, seinen großen und kleinen Helden, ist wohlbekannt, und anno 2020 liegt fraglos ein gehöriger Hauch an nostalgischer Patina über diesem Szenario.

Und doch: Wer Bruce Springsteen Letter To You hört, bekommt einen intensiven Vorgeschmack darauf, wie sehr man den Boss und seine Mannschaft einmal vermissen wird, wenn sie in Rente oder den Weg alles Irdischen gegangen sein werden. Und mit ihnen wird dann auch das dazugehörige Genre Geschichte sein. Ein Album wie dieses wird von den kommenden Musikergenerationen schlicht und einfach nicht mehr hergestellt werden. Es wird dann nur noch wie ein Museumsstück hinter Ausstellungsvitrinen zu genießen sein, wie ein alter, chromglänzender Chevy aus den späten 1950er-Jahren.

Deshalb sollte man Bruce Springsteen und die E Street Band mit Letter To You schlicht und einfach noch ein weiteres Mal so genießen, wie man sie seit fast einem halben Jahrhundert lieben gelernt hat – ewig wird schließlich auch diese Ausnahmeformation des American Rock’n’Roll nicht ans Werk gehen.

 

Bruce Springsteen Letter To You Cover
Bruce Springsteen Letter To You erscheint bei Columbia im Vertrieb von Sony Music und ist erhältlich als CD, Doppel-LP und Download (Cover: Amazon)

 

Bruce Springsteen Letter To You
2020/11
Test-Ergebnis: 4,5
Überragend
Bewertungen
Musik
Klang
Repertoirewert

Gesamt

Autor: Christof Hammer

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Seit vielen Jahrzehnten Musikredakteur mit dem Näschen für das Besondere, aber mit dem ausgewiesenen Schwerpunkt Elektro-Pop.