Die LowBeats Rubrik „Album der Woche“ ist schön und tiefschürfend, aber leider nicht ausreichend. Jeden Monat erreichen uns sehr viel mehr spannende Neu-Veröffentlichungen, die es verdient hätten, vorgestellt zu werden. Das machen wir jetzt in einer Art Monatsrückblick: Unter der Rubrik „die musikalischen Highlights des Monats“ geben wir künftig eine Übersicht, was aus dem Vormonat musikalisch unbedingt zu beachten ist: Musik, die – über alle Stilrichtungen und Genres hinweg – fabelhaft, virtuos, meisterhaft ist oder einfach unschlagbar charmant klingt. Und so bietet auch der Sommermonat wieder so einiges: Ein Rückblick auch die musikalischen Highlights des Juni 2023.
Als da wären:
♦ Meshell Ndegeocello: „The Omnichord Real Book“ – hochprozentiger Jazz-/Soul-/Funk-Cocktail
♦ Hollywood Vampires (Alice Cooper, Johnny Depp u.a.): „Live In Rio“ – krachender Promi-Live-Rock
♦ Eric Clapton: „The Definitive 24 Nights“ – Hammer-Box-Set mit fast sechs Stunden Live-Musik von „Slowhand“
♦ John Mellencamp: „Orpheus Descending“ – tolles Roots-Rock-Album des bodenständigen Gitarren-Rockers
♦ PJ Harvey: „I Inside The Old Year Dying“ – erfrischendes Album der britischen Alternative-Singer-Songwriterin
Die musikalischen Highlights des Juni 2023
Wir starten mit Meshell Ndegeocellos „The Omnichord Real Book“. Den Begriff „Jazz“ mag sie nicht so recht, obwohl die 55-jährige Multiinstrumentalistin jüngst auf dem renommierten Jazz-Label „Blue Note“ veröffentlicht. Doch das hat sich ähnlich wie das Montreux Jazz Festival über die Jahre weniger dogmatisch nahe liegenden Stilrichtungen und Musikern geöffnet, wie dem Country-Folk von Rosanna Cash, Tochter des berühmten Johnny. Oder Harold López-Nussa mit seinen Piano-Kompositionen mit Latin-/Kuba-Touch.
Meshell Ndegeocello gab bereits 1993 ihr Albumdebüt „Plantation Lullabies“ auf einem hippen Label: „Maverick“ von Madonna. Über die Jahre steckte die in Berlin geborene Amerikanerin das Spannungsfeld zwischen R&B, Soul, Funk, Jazz, HipHop und Afrobeat immer wieder variantenreich schlau ab.
Ihr neues Werk mit 18 Stücken (!) wirkt als Ausbund kreativer Crossover-Kunst, nach ihrem Cover-Album „Ventriloquism“ von 2018 wieder mit eigenem Songmaterial. Da tanzt die Beatbox mit züngelnden Elektro-Vibes, es fliegen Basssalven aus den Lautsprechern und Handclaps feuern Akustikgitarren an. Jazz-Rhythmen tragen sonore Vokalsätze (zum Beispiel von Joan As Policewoman) bis hin zu A-Capella-Sessions. An mancher Stelle meint man den großen kleinen Prince in den Notenblättern erkennen zu können. Real bestritten hat die Sessions das Team mit Josh Johnson (Saxofon), Chris Bruce, Jeff Parker (Gitarre, Tortoise) oder Jason Moran (Piano). Meshell Ndegeocellos Texte durchzieht dabei gerne ein dezenter Hauch von Reflexion und Schmerz – was sich erstaunlicherweise akustisch energetisch Raum verschafft. Eine seltene, kunstvolle Liaison, die anrührt und mitreißt. Auch klanglich.
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Und hier der Videoclip zum Appetitmachen:
Hollywood Vampires (Alice Cooper, Johnny Depp u.a.): „Live In Rio“ – krachender Promi-Live-Rock
Da haben sich ja ein paar wilde Promis aus Kino und Konzert gefunden: Der rüde Rocker Alice Cooper, Joe Perry von Aerosmith plus Hollywood-Star Johnny Depp (u.a. „Fluch der Karibik“) ließen es als akustische Blutsauger alias Hollywood Vampires mächtig krachen. Zum Beispiel 2015 im brasilianischen Rio im Teamverbund mit weiteren kompetenten Untoten, wie Duff McKagan (Guns N’ Roses), Andreas Kisser (Sepultura) oder Zak Starkey (Sohnemann von Ex-Beatle Ringo Starr). Unter der Regie von Bob Ezrin (Deep Purple, Kiss, Pink Floyd) zogen die Jungs eine ziemlich eigenständige Show ab – vor 100.000 Zuschauern.
Was soll ich sagen: Bereits die Ansage soll gruselige Stimmung erzeugen mit „…Creatures of the night, what music they make…!“ Dabei trieben die Rock-Zwischenweltler ihren Tanz der Vampire schonmal bis in ekstatische Gefilde. Pumpende Bassdrums in aufgeheizter Atmosphäre begleiten die Tracks atemlos durch die Nacht: Motto, ein Riff wird kommen, aus den dunklen Tiefen der Oldschool-Rock-Katakomben. Coverversionen von Led Zeppelin („Whole Lotta Love“) oder „School’s Out“ aus der Archivgruft von Alice Cooper reißen mächtig mit, ebenso wie „Brown Sugar“ von den Rolling Stones. Eigentlich eine nette Idee, so eine Grufti-Supergroup. Solange nicht böse Widersacher mit Holzpfahl oder Silberkugeln auftauchen…
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Und hier der Videoclip für tiefschürfende Eindrücke:
Eric Clapton: „The Definitive 24 Nights“ – Hammer-Box-Set mit fast sechs Stunden Live-Musik von Gitarren-Gott „Slowhand“
1990/91 rockte der britische Blues-Sänger- und Gitarrist die ehrwürdige Londoner Royal Albert Hall mit mehreren Sessions am laufenden Band – bombastisch mit Band und orchestraler Unterstützung. Einen kleinen Auszug von gut 100 Minuten Live Action gab’s damals auf CD respektive DVD. Nun wuchs die Gesamt-Performance mit diesem opulenten Box-Set von fast sechs Stunden auf sechs CDs und drei Blu-ray-Discs – mit 35 unveröffentlichten Stücken.
Also ein unbedingtes Muss für Clapton-Fans, die den Meister gerne einmal in den verschiedensten Formationen ausführlichst hören möchten. Denn Slowhand und sein Team teilten das Live-Opus in drei Bereiche mit jeweils zwei CDs respektive einer Blu-ray: „Rock“, „Blues“ und „Orchestral“. Das rund 30 Jahre junge Audio- und Videomaterial restaurierte die Technikabteilung von Clapton: Simon Climie (Audioproduktion und Mixing), Produzent Peter Worsley sowie Regisseur David Barnard. Was prima gelang: Durchhörbarkeit, Raumambiente und Auflösung nebst Druck formen einen mitreißenden Live-Klang, inklusive sonorer Abmischung von Claptons Stimme.
Das Line-up strotzt dabei nur so von Promis wie Johnnie Johnson, Jimmie Vaughan, Chuck Leavell, Phil Collins, Robert Cray, Buddy Guy, Albert Collins, Nathan East, Greg Phillinganes, Steve Ferrone, Ray Cooper und Jerry Portnoy. Das National Philharmonic Orchestra führte damals der mittlerweile verstorbene Michael Kamen.
Highlights sind dabei etwa Versionen von Bob Dylans „Knockin’ On Heaven’s Door“ im Reggae- oder Orchestergewand beziehungsweise mit Phil Collins am Schlagzeug. Aber auch eine Zugabe von Claptons Ex-Band Cream („Sunshine Of Your Love“) machen einfach an. Gänsehaut!
Klar, das Box-Set lockt mit limitiertem physischem Material auf CDs, Blu-rays (Konzertvideos!) und 48-Seiten-Hardcover-Buch nebst nummerierter Lithographie – allerdings zu gesalzenen Preisen um 200 Euro. User von Musikportalen wie Qobuz oder Amazon kommen digital günstig zumindest an das akustische Clapton-Futter…
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Ein Videoclip zu “Knockin On Heavens Door:
John Mellencamp: „Orpheus Descending“ – tolles Roots-Rock-Album des bodenständigen Gitarren-Rockers
Der Mann hat wahrlich was drauf. Im fünften Jahrzehnt powert der Sänger und Gitarrist aus Indiana beinahe ohne Unterlass die Rock-Hütte. Durchaus im musikalischen Geiste von Bruce Springsteen vereint, thematisiert er dabei immer wieder auch sozialkritische, anrührende und politische Themen.
Mit „American Fool“ startete er 1982 Album-technisch zwar etwas spät durch. Doch Nachfolge-Klasse-Alben wie „Uh-Huh“ (mit dem Hit „Pink Houses“) oder „Scarecrow“ von 1985 hievten ihn beinahe auf die Höhe von The Boss Springsteen. Mit der sympathischen Violinistin Lisa Germano entwarf er zeitweise einen ganz eigenen Stil aus Americana und Rock. Das Album dazu: Das charmante „Lonesome Jubilee“ aus dem Jahr 1987.
Nachdem er immer mal einen sozialkritischen Meilenstein ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten rammte, nimmt er mit seinem Neuling „Orpheus Descending“ noch weniger ein Blatt vor den Mund – und kritisiert Gott und die Welt. Das macht schon der metaphorische Albumtitel deutlich: Der größte Sänger und Dichter der griechischen Mythologie steigt der Legende nach ab. Seine Allmacht, Menschen zu besänftigen und die gräulichsten Herrscher zu bezwingen, scheint geschwunden. Wen oder was Mellencamp damit meint, zeigt sich in Songs wie dem anklagenden „Hey God“ oder dem traurigen „The Eyes Of Portland“.
Zudem finden sich in Songs wie „The So-Called Free“ ebenso gehaltvolle Rock-/Pop-Nummern mit tief krachenden Bässen, Slow-Motion-Gangart, schillernder Gitarre und ultra rau vibrierenden Stimmbändern, beinahe auf den Spuren von Tom Waits. Was auch für das melancholische Cello-getränkte Titelstück gilt. Keine Frage: Der Mann versteht sich nach wie vor auf solides Songwriting. Dass er als alter Hase seine Heimat mit seinen 72 Jahren und 25 Alben im Gepäck deutlicher als mancher Kollege kritisiert, ehrt ihn obendrein als politisch ambitionierten Musiker und Patrioten im positiven Sinne.
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Der Videoclip für erste Eindrücke:
PJ Harvey: „I Inside The Old Year Dying“ – erfrischendes Album der britischen Alternative-Singer-Songwriterin
Album Nummer zehn geriet wieder etwas anders: In ihrer rund 30-jährigen Karriere als britische Aushänge-Singer-Songwriterin erfand sich die heute 53-jährige Musikerin von Album zu Album stets etwas neu. Polly Jean Harvey stammt aus Bridport, im Südwesten der Insel. Dort sieht’s ähnlich aus wie im Westen der Bretagne: Feinsandige Strände wechseln die Gezeiten mit smarten Felsküsten. Vielleicht eine naturbeseelte Ecke der Welt, in der sie sich schon in jungen Jahren zum Dichten und zu den Bildenden Künsten hingezogen fühlte.
Seit 1992 haute PJ ein Hammer-Album nach dem anderen raus. Naja, beinahe zumindest. „Rid Of Me“, „To Bring You My Love“ oder „Let England Shake“ zählen definitiv dazu. Ihren Neuling stemmte sie im Team mit ihren langjährigen Weggefährten John Parish und Flood. Sie versuchte sich auf drei kreative Säulen zu konzentrieren – Worte, Bilder und Musik zu fokussieren, nicht einfach ein Album zu schreiben. Die neuen Songs „sind in etwa drei Wochen aus mir herausgekommen“, so Harvey. „Ich glaube, das Album handelt von der Suche, der Intensität der ersten Liebe und der Suche nach Bedeutung. Nicht, dass es eine Botschaft geben muss, aber das Gefühl, das die Platte bei mir auslöst, ist das der Liebe – es ist von Traurigkeit und Verlust geprägt, aber es ist liebevoll. Ich glaube, das ist es, was es so einladend macht: so offen.“
Womit wir bei der Musik wären. Klug inszenierte, verspielte Wendungen, Stimmverfremdungen, mystische Sounds hören wir. Ihre energetische bis glockenhelle Stimme bettet sich auf trashige Beats, um dann wieder ultrafragil ins Licht von Gitarrentupfern zu blinzeln. Oder Electronica und Soundgewaber vermählen sich mit stampfenden Drums. Immer wieder überraschen Kontraste und Konterkarierungen von Stimmen und Instrumenten und einem Sammelsurium an Klangerzeugungs-Aggregaten bis hin zum wohligen Insektensummen. Summa summarum: toll.
Bewertung
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MusikKlangRepertoirewertGesamt |
Und hier der Videoclip zum Appetitmachen:
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