Die LowBeats Rubrik “Album der Woche” ist schön und tiefschürfend, aber leider nicht ausreichend. Jeden Monat erreichen uns sehr viel mehr spannende Neu-Veröffentlichungen, die es verdient hätten, vorgestellt zu werden. Das machen wir jetzt in einer Art Monatsrückblick: Unter der Rubrik „die musikalischen Highlights des Monats“ geben wir künftig eine Übersicht, was aus dem Vormonat musikalisch unbedingt zu beachten ist: Musik, die – über alle Stilrichtungen und Genres hinweg – fabelhaft, virtuos, meisterhaft ist oder einfach unschlagbar charmant klingt.
Dabei blicken wir dort, wo es interessant ist, über den Tellerrand des Albums hinaus und geben Einblicke und Tipps zu KünstlerInnen und Bands. Allen gemein gilt: Ein hoher Anspruch an Musik- und Tonqualität. Und: Die künstlerisch wertvolle Auswahl bewerten wir natürlich ebenso mit dem VU-Meter von LowBeats.de.
Aktuell blühen viele tolle Alben frühlingsfrisch auf. Zum Auftakt der Serie gibt es deshalb gleich sechs Empfehlungen unterschiedlicher Art. Hört, hört.
Aber natürlich zählen die jüngst besprochenen CDs der Woche ebenso zu den Highlights:
Element of Crime: „Morgens um vier“
Und auch Rickie Lee Jones: „Pieces Of Treasure“ darf bei dieser Aufzählung nicht fehlen:
Doch der April diesen Jahres bot sehr viel mehr:
Die weiteren musikalischen Highlights aus dem April 2023 sind:
Feist – Singer-Songwriter/ Alternative-Folk
Michel Petrucciani – audiophiler Piano-Jazz
Natalie Merchant – Singer-Songwriter/ Soul/ R&B, traditional
Daughter – Alternative Folk-Rock
The Who – Oldschool-Rock Live
Neil Young – und seine Teamworks mit den Santa Monica Flyers und The Ducks
Wir starten mit Feist “Multitudes“
Sechs Jahre ließ sich die smarte Kanadierin Zeit für ihr neues Album. Doch die Reifephase hat sich gelohnt. Letztendlich haben auch persönliche Ereignisse wie der Tod ihres Vaters und die Geburt ihrer Tochter zur verlängerten Pause beigetragen. „Die letzten Jahre waren eine extreme Zeit der Konfrontation für mich und bestimmt bis zu einem gewissen Grad für uns alle,“ so die 47-jährige Singer-Songwriterin.
Zwölf Songs spiegeln nun die introspektiven Zeiten auf „Multitudes“. Bereits im Sommer 2021 startete Feist ihre „Multitudes“-Gastspiel-Reise in Europa und den USA. Es sollte eine Art Testlauf sein, angerichtet mit akustischen Appetizern im kleinen Kreis: Die Basis für das weitere Wachsen der Songs, bis hin zu den Aufnahmen im Redwood Forest in Nordkalifornien.
Im vertrauten Team mit ihren langjährigen Studiogefährten Robbie Lackritz (The Weather Station, Robbie Robertson), Blake Mills (Bob Dylan, Fiona Apple) und Mocky (Vulfpeck, Kelela) schuf sie einen eigenständigen, vielschichtigen Sound.
Und so hören wir eine sehr erfrischende, anrührende bis packende Mischung, hier und da gewürzt mit Spoken Words oder verfremdeten Vocals – die setzt Leslie Feist vor allem in den unerhört zart betörenden Folk-Balladen, nur begleitet von ihrer Gitarre, unfassbar anmutig ein. Schön zu hören auf „Forever Before“, mit nah eingefangener Stimme und feindynamisch hörbarem Saiten-Picking.
Das Gleiche gilt für „Love Who We Are Meant To“, einer Top-Folk-Nummer, die auch ihre kanadische Kollegin Joni Mitchell nicht eindrucksvoller hätte intonieren können. Und auch „The Redwing“ kriecht unter die Haut. Den Song spielte sie in roher Version auch mit ihren Freunden von Kings Of Convenience in einem Berliner Hotel ein.
„Become The Earth“ folgt im Stil auf den Fuß, während „Of Womankind“ einen bluesigen Touch ziert und Spoken Words in musikalischer Verwandtschaft zu Laurie Anderson aufblitzen.
„Borrow Trouble“ zählt wiederum zu den packenden Nummern, wo sie stampfend wie David Bowie auf „Heroes“ auf dicke Backen macht.
Das Klangbild beeindruckt vor allem bei den ruhigeren Songs mit feiner Auflösung und herrlicher Feindynamik sowie anmutiger Stimm-Artikulation nebst schönem Raumambiente.
Videoclip
Leslie Feist ist übrigens mit den beiden Jungs von Kings Of Convenience befreundet. Hier ein Video aus der Entstehungsphase des Songs „The Redwing“, bei einer akustisch schön räumlich eingefangenen Session in einem Berliner Hotel:
Bewertung
Michel Petrucciani: „The Montreux Years“ – audiophiler Piano-Jazz
Michel Petrucciani lebte äußerst beeindruckend vor, welche Herausforderungen sich trotz großer Einschränkungen überwinden lassen und wie man ein Talent bis zum Olymp des Genres führen kann. Der gebürtige Südfranzose wurde wegen seiner „Glasknochenkrankheit“ (Osteogenesis imperfecta) nur knapp einen Meter groß und verstarb mit nur 36 Jahren am 6. Januar 1999.
Er hinterließ jedoch ein reiches Vermächtnis. Der Wunderknabe wurde bereits nach seinem ersten professionellen Konzert im Alter von 13 in seiner Heimat berühmt. Es drängte ihn später an die Westküste der Neuen Welt, nach Kalifornien, wo er 1982 den Jazz-Saxofonisten Charles Lloyd kennen lernte.
Die internationalen Bühnen standen fortan offen in den 1980er Jahren. Und Petrucciani unterschrieb sogar als erster europäischer Künstler beim hochheiligen US-Jazzlabel Blue Note Records.
Solo und im Team kollaborierte er früh auch mit Kollegen wie Kenny Clarke, Clark Terry und Lee Konitz, später mit Freddie Hubbard und seiner All Star Band. Viele Auszeichnungen folgten, so der ehrwürdige „Prix Django Reinhardt“ 1984. Im selben Jahr gewann das Album „100 Hearts” den „Grand Prix Du Disque“, sozusagen einen französischen Grammy-Award. Und Mitte der 1990er Jahre erhob Staatspräsident François Mitterrand Petrucciani sogar in den Ritterstand.
Beim Montreux Jazz Festival am Genfer See stand Michel Petrucciani bereits seit 1986 regelmäßig auf der Gästeliste als gefeierter Pianist. Nur logisch daher, dass er posthum die gerade mal zwei Jahre junge Reihe „The Montreux Years“ bereichert, die Co-Gründer Claude Nobs initiierte und die bislang Stars wie Nina Simone, Chick Corea oder Paco De Lucia, John McLaughlin, Etta James oder Muddy Waters beehren.
Elf ausgewählte Stücke repräsentieren Petruccianis Live-Schaffen in Montreux zwischen den Jahren 1990 bis 1998. Eine Art Werkschau mit schillernder Bandbreite, vom Bläser getränkten „35 Seconds …“ über das schnelle „Little Peace In C For U“ bis zur zehnminütigen Suite „Rachid“.
Tony Cousins von den Londoner Metropolis Studios (Adele, Peter Gabriel, Elton John) steht als Master-Mind für den Klang. Er implantierte in seinen Workflow auch „Master Quality Authenticated“ (MQA), entwickelt von der Highend-Schmiede Meridian. Die Aufnahmen überzeugen dank großer Ausgewogenheit, Auflösung und Live-Atmosphäre. Die 1990er- und 1993er-Tracks spielen dabei etwas luftiger und dünner, die 1996er Takes klingen etwas intimer und die beiden Songs von 1998 am stimmigsten.
Bewertung
Natalie Merchant: „Keep Your Courage“ – Singer-Songwriter/ Soul/ R&B, traditional
Mit ihren 10.000 Maniacs feierte die US-Singer-Songwriterin vor allem in den 1980er Jahren verrückte Erfolge auf dem Planeten Indie. Doch schon mit ihrem ersten famosen Solo-Album „Tigerlily“ bewies sie 1995, dass sie entfesselt vom Bandleben noch viel mehr Eigenständigkeit und Kreativität entfalten konnte, ähnlich wie die Emanzipation der isländischen Indie-Prinzessin Björk von ihren Sugarcubes Früchte getragen hat.
Zur Veröffentlichung von „Tigerlily“ traf ich damals zu Interview und Fotosession eine sehr ruhige, besonnene, auf den Punkt sprechende Natalie Merchant in Hamburg. Sie war in Begleitung ihrer Mutter und flog gleich anschließend weiter nach Paris zu neuen Terminen.
Seither hat die knapp 60-jährige New Yorkerin mehrere gehaltvolle bis virtuose Alben eingespielt, zum Beispiel „Motherland“ (2001) oder das audiophile „Leave Your Sleep“, auf dem sie Traditionals feinfühlig intoniert.
„Keep Your Courage“ ist das neunte Studiowerk, das neue eigene Stücke, neun an der Zahl, sowie verschiedene Teamworks mit Musiker-KollegInnen vereint. Natalie führte dabei als Produzentin Regie.
Es geht um Liebe. Um Mut. Und um starke Frauen, wie in „Big Girls“ eines von zwei Duetten mit der Sängerin Abena Koomson-Davis. Ein strahlend-souliges Unterfangen mit schöner Bläserunterstützung.
Dazu leuchten wie auf „Hunting The Wren“, sphärisch-keltische Weisen mit der Folkgruppe Lúnasa auf. Zudem glänzen der syrische Klarinettenvirtuose Kinan Azmeh sowie der Jazz-Posaunist Steve Davis.
Das Ganze füttert die Merchant orchestral sanft aus unter Mithilfe von Komponisten wie Gabriel Kahane, Stephen Barber, Colin Jacobson und Megan Gould.
Erste Sahne: Das neunte Album der amerikanischen Singer-Songwriterin Natalie Merchant besticht wieder mit Tiefgang und starken Geschichten von mutigen Frauen – das Cover zeigt die französische Freiheitskämpferin Johanna von Orleans.
Video „Big Girls“:
Bewertung
Daughter: „Stereo Mind Game“ – Alternative-Folk-Rock
Seit ihrer Gründung 2010 schrieb das britische Trio lediglich zwei Studioalben, „If You Leave“ (2013) und „Not to Disappear“ (2016) plus eines Videospiel-Soundtracks. Dann beschlossen Elena Tonra, Igor Haefeli und Remi Aguilella erstmal eine Auszeit voneinander zu nehmen, nachdem sie noch mit den Kollegen von The National auf der Bühne standen.
Rund sechs Jahre ginge seither ins Land, doch die Reifeprüfung hat sich gelohnt: Elena (Vocals, Gitarre), Igor (Gitarre) und Remi (Drums) konnten offensichtlich eine Menge kreativer Energie tanken, mit der sie äußerst entspannt und gleichzeitig sehr fokussiert in das schillernde Universum des Independent-Folk-Rock eintauchen. Mit zwölf neuen Songs erkunden sie mutig psychedelisch imprägnierte Terrains, formen und gestalten sie mal mit poppigen Rhythmen, schwelgerischem Orchesterpassagen plus Bläsersektion und stets mit Elenas anmutig-samtige Stimme. Das Londoner „12 Ensemble“ leistet dazu gefühlvolle Streicherarbeit. Teils fanden die Aufnahmen im „The Pool“ statt, einem Studioraum im Süden Londons, der in früheren Zeiten als Badeanstalt lockte.
Die Musik strahlt. Es pulsiert, es chillt und wirft seelischen Ballast ab („Be On Your Way“). Auch „Neptune“ schwimmt scheinbar schwerelos durch sphärische Wellen, umgarnt von mehrstimmigen Vocals und einer Riege Blechbläsern. Eine musikalische Verwandtschaft zu den Fleet Foxes oder Mazzy Star, The XX und den australischen Jezabels lassen grüßen. „Swim Back“ oder „Junkmail“ wiederum beeindrucken mit schönem Flow im Elektro-Beat-Outfit, während „Future Lover“ imaginär mit Billy Corgan von den Smashing Pumpkins anzubandeln scheint.
Ein starkes Indie-Album, das Sehnsucht und Suchen fokussiert, reduziert aufs Wesentliche mit Seele und Tiefgang. Schön, dass das Klangbild mit prima Auflösung und Feindynamik die Musik unterstützt.
Video: „Be On Your Way“
Bewertung
The Who: „Live At Wembley“ – Oldschool Rock Live
Das Wiedersehen mit dem Londoner Wembley Stadion sollte rund 40 Jahre dauern. Dort spielten die ehemals rüden Rocker als Rumpfteam von The Who am 6. Juli 2019 ein packendes Konzert ein: Wie die Rolling Stones haben Roger Daltrey & Pete Townshend weit über ein halbes Jahrhundert Bühnenleben auf dem Buckel. Doch leise sind sie keineswegs. Mit unbändiger Energie, musikalischem Tatendrang und Spielfreude zogen die beiden vor gut vier Jahren eine zackige und tontechnisch klasse eingefangene Show ab – wie bereits Kollege Andreas Günther in seinem Test der Aktivlautsprecher Canton Smart Townus 2 bemerkte.
Wir erinnern uns: In den 1960er und 1970er Jahren stürmten die Briten, damals noch mit John Entwistle und Keith Moon in der Band, die Konzertsäle und rissen Fans und Hotelinventar mit. Alben wie „The Who Sings My Generation“ (1965), „The Who Sell Out“ oder die Rock-Opern „Tommy“ und „Quadrophenia“ gelten als Meilensteine des rauen Brit-Rocks.
Physisch leicht anders akzentuiert als die zappeligen Turnübungen von Altersgenosse Mick Jagger von der Insel-Konkurrenz – alle drei gehen sie auf die 80 zu – fegen die beiden Altherren von The Who anno 2019 etwas souveräner über die Bühnenbretter – damals noch als rüstige Mittsiebziger. Einen Schwerpunkt des Live-Opous aus dem Wembley Stadium bildet dabei ein kleines Sammelsurium an Songs von „Quadrophenia“.
Hier kommt das gebuchte, renommierte Orchester Isobel Griffiths ins Spiel Eigentlich ist es für Studio Sessions bekannt und beliebt. Man spricht von „über 30 Jahren Erfahrung…“ für Film („Rocketman“, „Bridget Jones“, „Herr der Ringe“), Fernsehen („Sherlock“, „Planet Earth“), Video-Games („Star Wars Jedi“, „Spider-Man“) – und natürlich Musik (Nick Cave, Joni Mitchell, Diana Krall).
Im Live-Modus verleihen die Klassik-Musiker den beiden Grandseigneurs Flügel und beschwingen Songs. Doch auch ohne orchestralen Support bestehen Daltrey und Townshend ihre Reifeprüfung mit Bravour. Songs wie das herrliche „Substitute“ oder „5:15“ blühen dank Reduktion auf Stimme und Gitarrenarbeit gänsehautmäßig auf.
Allerdings: Die beinahe außerirdische Wucht und Fulminanz von „Live At Leeds“ von 1970 (als Remaster erhältlich) setzt nach wie vor wohl unwiederbringliche Maßstäbe.
Video zum Song „Baba O’Riley“
Bewertung
Neil Young And The Santa Monica Flyers: „Somewhere Under The Rainbow“ – Nov. 5, 1973
Der kanadische Folk-Rock-Troubadour spielte nicht nur solo und mit seinen Bandmates von Crazy Horse, sondern ging auch mit anderen KollegInnen musikalisch fremd. Zum Beispiel mit den Santa Monica Flyers, nicht zu verwechseln mit einer noch aktiven Flugschule in Los Angeles. Im Londoner „Rainbow Theatre“ spielten Young & Co. 1973 ein legendäres Konzert, das jedoch als Aufnahme bislang rar und nun offiziell, jedoch lediglich in eher unterirdischer Bootleg-Klangqualität zu haben ist. Angesichts der wirklich fieberhaften Live-Atmosphäre drücken wir mal ein Auge zu, machen eine Ausnahme und stellen das Event dennoch kurz vor.
Der Gag an diesem Abend waren die eher spontanen, „freien“ Spielweisen, mit der die einzelnen Musiker ein größeres Ganzes formen wollten, ein bisschen wie es Jazzer in Sessions gerne mögen. Mit dabei: Neil Young (Gesang, Gitarre) im Team mit der Star-Band von Nils Lofgren (Lead- und Rhythmusgitarre, Klavier, Akkordeon, Gesang), Ben Keith (Pedal Steel Guitar, Gesang), Billy Talbot (Bass, Gesang) und Ralph Molina (Schlagzeug, Gesang). Klar, ein halbes Jahrhundert nach dem unkonventionellen Konzert driftet die Sicht darauf schon beinahe ins verklärt-Mythische. Insofern: Für Fans sind die 14 Songs wohl ein Muss, trotz des wie gesagt sehr distanzierten, dünnen Klangs.
Bewertung
The Ducks „High Flyin’ – Live“: Neil Young mit den Ducks in kalifornischen Venues – rare Livemitschnitte von 1977
Und noch ein Fremdgänger-Projekt von Neil Young – diesmal in guter Klangqualität.
Mit den „Enten“, den Ducks, spielte Young kurzzeitig 1977. Zur Belegschaft gehörten er selbst (Gitarre, Mundharmonika, Vocals), Bob Mosley (Bass Vocals), Jeff Blackburn (Gitarre und Vocals) sowie Johnny Craviotto (Drums). Mosley spielte auch in der kalifornischen Bay Area-Band Moby Grape; mit Blackburn wiederum schrieb Young den Klassiker „My My Hey Hey (Out Of The Blue)“.
Verbrieft sind verschiedene Shows in Kalifornien, darunter in Santa Cruz. Das 25-Track Live-Album vereint dabei Höhepunkte. Fünf Young-Songs sind dabei, darunter ein rau-rockiges „Mr. Soul“ plus charmante Versionen von „Are You Ready For The Country“, „Little Wing“, „Sail Away“ und „Human Highway“. Der Clou damals: Es soll sehr demokratisch zugegangen sein, will heißen, jedes Bandmitglied durfte mal die Führung übernehmen.
Neil Young + The Ducks „High Flyin’ | 2023/04 |
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