Was macht ein Mann jenseits der 70, der gerade seine 1961 gegründete Uhrenmarke verkauft hat? Ja, richtig, er langweilt sich im Ruhestand und kauft sich eine neue. Die Rede ist vom U(h)rgestein Helmut Sinn, der 1995 die in Nöte geratene Traditionsmarke Guinand übernahm, nachdem er kurz zuvor Sinn Spezialuhren an den vorher bei IWC angestellten Lothar Schmidt veräußert hatte. Die vor 150 Jahren in Les Brennets gegründete Firma kannte er schon aus früheren Tagen. Die Schweizer fertigten bereits als OEM-Lieferant Uhren für Sinn, als das nach ihm benannte Unternehmen noch von dem Ex-Blindfluglehrer und -Rallyefahrer geführt wurde.
Nun ist der “schnelle Helmut” 99 Jahre alt und auch der für ihn und seine Miteigentümer der Guinand Uhren Helmut Sinn GmbH als Geschäftsführer agierende Horst Hassler hat das Rentenalter längst erreicht. Daher beschlossen die Gesellschafter, ihr Unternehmen zu beerdigen. Doch sie hatten die Rechnung ohne den Uhrenfan Matthias Klüh gemacht. Der Frankfurter Elektro-Ingenieur leitete den Vertrieb von Messtechnik für Industrieanlagen bei einem internationalen Konzern und kam bereits diverse Male mit Helmut Sinn und seinem uhrigen Umfeld in Kontakt.
“Als ich von der Sache erfuhr, war es schon reichlich spät. Die GmbH war aufgelöst, die Mitarbeiter hatten schon neue Arbeitgeber, die Geschäftsräume gekündigt”, erklärt Matthias Klüh die Lage, als er Ende 2014 ins Spiel kam. Zu diesem Zeitpunkt war ausgerechnet die geniale Weltzeituhr WZU-5 mit fünf unabhängigen Zeitzonen, angetrieben von einem Kaliber HS 81 WZ (Basis Unitas 6497-1), schon längst vergriffen. Aber das ist eine andere Geschichte, die mich noch immer wurmt, zumal inzwischen der Lieferant der benötigten Teile wegfiel.
Obwohl er erst fünf Minuten vor Zwölf einstieg, kriegte Klüh, unterstützt von seiner Frau, die Kurve und nutzte die Situation für einen tiefgreifenden Neuanfang. Immerhin konnte seine neugegründete Guinand GmbH von der Guinand Uhren Helmut Sinn GmbH reichlich Werke und Teile übernehmen. Wenn man die neuen Räume in Rödelheim betritt, erkennt man sofort, was die Stunde geschlagen hat. Wo früher der “Derrick-Look” regierte, herrscht jetzt eine gediegene Kombination von Holz, weißen Wänden und angenehmer Lichtstimmung.
Guinand – Mit Sinn für Details wiederbelebt
Die Uhren und Bänder ruhen auf großen Holztischen mit Vertiefungen, die speziell nach den Wünschen des neuen Besitzers angefertigt wurden. Die Produkte selbst wirken stringenter und hochwertiger. Klüh glättete kleine Unstimmigkeiten im Design und setzt konsequent auf edle Armbänder – ein Punkt, der die bisherigen Besitzer nicht sonderlich interessierte. “Da merkt man eben doch, dass Helmut Sinn aus einer anderen Zeit stammt, als Uhren noch keine Schmuckstücke waren”, meint Matthias Klüh selbstbewusst. Neben dem Assortieren einiger verspielter Zeiger, Zifferblätter und Kronen vereinheitlichte der neue Besitzer zum Beispiel die Angaben zur Wasserdichtigkeit auf der Rückseite der Gehäuse. Zum Teil stand dort nicht die aktuelle Angabe in Bar, sondern nach ATM – keine große Sache, doch Klüh dreht mit Gespür für Markenimage an jeder noch so kleine Stellschraube.
Eine weitere Wandlung ist so subtil, dass ich sie ohne Brille nicht sehen kann. Statt Swiss Made steht unter der 6-Uhr-Position “Hergestellt in Deutschland”. Klüh wundert sich, warum Guinand trotz Frankfurter Lokalkolorit und hoher Fertigungstiefe in Deutschland an dem alten Brauch bis zuletzt festhielt. Schließlich verlagerte Helmut Sinn nach dem Kauf bereits in den 90ern weite Teile der Produktion nach Deutschland. Nur die Basiswerke bezog er weiter aus der Schweiz. Doch “Made in Germany” erschien Klüh zu trivial, ein juristischer Begriff, der Spielräume für Interpretationen lässt. Gebaut in Deutschland ist eindeutiger und eigenwilliger. Schließlich leistet sich auch die inzwischen auf beachtliche Dimensionen gewachsene Frankfurter Leit-Marke den Spleen, vornehm von “Sinn Spezialuhren zu Frankfurt am Main” zu reden.
Klein, fein und flexibel in die Zukunft
Mit seinem früheren Arbeitgeber – Klüh hatte tatsächlich mal für den jetzigen Mitbewerber Sinn Spezialuhren gearbeitet – kann sich Guinand allerdings nur in einem Punkt vergleichen: Beide halten an dem von Helmut Sinn, einem Enfant Terrible der Branche, eingeführten Direktvertrieb fest. Allerdings baut Lothar Schmidt gerade einen für 100 Angestellte konzipierten neuen Firmensitz in der Main-Metropole. Als der talentierte IWC-Ingenieur Schmidt die Firma Sinn übernahm, war sie auch nicht viel größer als die Guinand Uhren Helmut Sinn GmbH vor der Schließung.
Das neue Guinand bleibt erst mal auf dem Teppich, obwohl im Souterrain noch Raum für etwas zukünftiges Wachstum vorhanden ist. Die Fertigung übernehmen weiterhin zwei Spezialisten in Süddeutschland, die Endkontrolle und Zertifizierung von Ganggenauigkeit und Wasserdichtigkeit erfolgt am Hauptsitz in Frankfurt, wo die Kunden in einem Showroom ihre Uhren direkt vom Hersteller kaufen können. Dort ist auch die Reparaturannahme. Matthias Klüh vermied halbe Sachen, kaufte kurzerhand das Firmengebäude – wie Klüh zur Vermeidung von Zweideutigkeiten betont, eine ehemalige Wellness-Oase für die GANZE Familie – und baute es nach einer Kernsanierung in einen stilvoll modernisierten Hochsicherheitstrakt aus. Damit trägt er den Ansprüchen von Uhrensammlern und Versicherungen gleichermaßen Rechnung.
Mit Freude nahm ich als langjähriger Kenner der Marke nicht nur den neuen, edlen Auftritt zur Kenntnis, sondern die nur moderat erhöhten Preise. Eine Flying Officer, das Highlight im Sortiment mit 24-Stunden-Anzeige und entsprechend aufwändig modifizierten ETA/Valjoux 7760-Werk kostet jetzt knapp 1.900 Euro, einige andere kosten nun geringfügig mehr als vor der Schließung im Jahr 2014. Die Preise finden sich weiterhin auf der Website, doch nicht nur das. Nach einer Kernsanierung des Internetauftritts kann man dort in geschmackvoller Umgebung seine Uhr konfigurieren und gleich wie bei Amazon & Co. zum Kauf in einen Warenkorb legen.
Mit Fax hat Matthias Klüh ganz im Gegensatz zu Helmut Sinn nichts am Hut. Ansonsten kennt er seinen ehemaligen Wohnungsnachbarn seit einer gefühlten Ewigkeit und schätzt ihn sehr. Sinns Konterfei taucht auf der Website und auch am Firmensitz an diversen Stellen auf, während er bei der nach ihm benannten Firma Sinn Spezialuhren ein Schattendasein fristet, was auch damit zusammenhängt, dass die beiden Alphatiere Sinn und Schmidt unmittelbar nach dem Verkauf mächtig aneinander rasselten.
Kontakt zur Familie Guinand in der Schweiz
Doch Guinand huldigt nach dem Neustart nicht nur seinem ersten Retter, der es in den 90ern eindeutschte. Klüh ließ den Kontakt zur Familie Guinand in der Schweiz wieder aufleben und freut sich über das Wohlwollen der Nachfahren der Gründerfamilie. So finden sich in den neuen Räumen im Hausener Weg 61 auch viele Ausstellungsstücke, Bilder und Prospekte älterer Guinand-Modelle. Schließlich blickt die Marke aus dem kleinen Örtchen Les Brenets auf eine lange Tradition zurück, obwohl sie vor der Übernahme durch Helmut Sinn von der Prestigemarke zum anonymen Auftragsfertiger mutierte.
Unterm Strich bin ich als Uhren-Afficionado mit Wurzeln im Rhein-Main-Gebiet sehr beeindruckt, was sich in Frankfurt gerade mit Uhren tut. Was zu den aktuellen und kommenden Produkten von Guinand zu wissen ist? Zum Beispiel erhöhte sich etwa die Wasserdichtigkeit einer beliebten Baureihe von 10 auf 20 Bar, sprich 200 Meter Tauchtiefe.
Von der Serie 40, einem engen Verwandten der Sinn-Serie 103 gab es nach der Wiederauferstehung im letzten Herbst schon eine Kleinserie in Mattschwarz, die zu meinem Frust schon vergriffen ist. Doch Klüh möchte in Zukunft die Flexibilität seines selbst im Vergleich zu Sinn Spezialuhren sehr kleinen Betriebs für überraschende Sonderserien nutzen. Unterm Strich besinnt sich die Marke nach einigen stilistisch fragwürdigen Experimenten von Guinand und der von Helmut Sinn ersonnenen Schwester-Marken Chronosport und Jubilar auf klassisches Instrumentendesign, das den Fliegeruhren-Hersteller Sinn in der Nachkriegszeit zur Kultmarke für Profis aufsteigen ließ (der deutsche Astronaut Dr. Reinhard Furrer kaufte seinen ersten automatischen Chronographen im Weltraum persönlich bei Helmut Sinn in Frankfurt Rödelheim). Dennoch möchte Matthias Klüh auch die alte Tradition der Taschenuhren wieder stärker betonen. Schließlich dienten auch diese inzwischen sehr seltenen Zeitmesser früher professionellen Zwecken und waren nicht die verspielten Schmuckuhren, als die wir sie heute sehen.
Meine persönlichen Favoriten von Guinand
Nach meinem Besuch bei Matthias Klüh bin ich als Liebhaber von ausgefallenen Chronographen sehr gespannt, was wir von Guinand in dieser Hinsicht noch sehen werden. Bei der nächsten schwarzen Ausgabe des klassischen Fliegerchronographen der Serie 40 könnte ich glatt schwach werden. Das nötige Fingerspitzengefühl scheint der besonnene Entrepreneur mit Sinn für Maßkleidung jedenfalls zu besitzen – zu erkennen am offenen untersten Knopf seines perfekt sitzenden Blazers (bei Anzügen von der Stange sind die Knopflöcher nur Attrappen). Und vielleicht geht ja meine größte Hoffnung auf eine Neuauflage der WZU-5 mit den nach eigenen Wünschen aufs Zifferblatt gedruckten Zeitzonen – eine aufpreispflichtig angebotene Individualisierung – eines Tages in Erfüllung. Für Preisbewusste empfehle ich einen Blick auf die Chronographen der Serie 21 und für Genießer natürlich den vor einigen Jahren neu aufgelegten historischen Flying Officer mit seiner seltenen 24-Stunden-Anzeige.
Mehr zu Guinand:
Die U(h)rgroßmutter der Apple Watch: Sinn 157, die Uhr fürs Leben
Legende lebt: HS100 zum 100. Geburtstag von Helmut Sinn
Hier geht es zur Website des Herstellers
Weitere Informationen über Guinand auf der amerikanischen Uhrenseite Worn & Wound
Kürzlich erreichte uns die Einladung zum 100. Geburtstag des früheren Guinand-Besitzers Helmut Sinn. Der Ex-Pilot und Rallye-Fahrer wurde vor allem bekannt durch die nach ihm benannte Frankfurter Uhrenmarke Sinn Spezialuhren. In Kürze mehr zum Thema an dieser Stelle. Er fährt wohl noch Auto. Is klar, ne? https://www.guinand-uhren.de/xl77.html