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James Blake Assume Form
Das konventionelles Outfit von James Blake täuscht gewaltig – mit einem Mix aus R&B, Ambient, Dubstep und minimalistischem Elektropop (mit-)erfand er eine Soundsprache, die zu den prägendsten Klanglandschaften der 2010er-Jahre gehört. Sein neuestes Werk: Assume Form (Foto: A. Charchian)

James Blake Assume Form – das Album der Woche

Kaum ein anderer Musiker hat die Abstraktion von Gefühlen wie Melancholie und Verletzlichkeit in den 2010er-Jahren so sehr vorangetrieben wie James Blake. Genau diese Fähigkeit macht ihn – ähnlich wie den amerikanischen Alternative-Rock-Zauberer Justin Vernon aka Bon Iver – zu einem der wichtigsten Vertreter dieser Dekade. Auf James Blake Assume Form nimmt der Empfindsamkeits-Sound wieder etwas konkretere Formen an: er schimmert und pluckert aber nach wie unnachahmlich sanft und sphärisch und zieht reizvoll seine Bahnen zwischen Modern R&B und minimalistischem Elektro-Pop.

Elf Monate noch, dann sind auch die 10er-Jahre des 21. Jahrhunderts bereits wieder reif für die Geschichtsbücher. Was bleibt aus musikalischer Sicht? Es war das Jahrzehnt des R&B: R&B ist alles und alles ist R&B. Längst haben seine zentralen Soundmuster wie Autotune und Falsettgesang auch die klassische Popmusik durchdrungen (ausgenommen die üblichen innovationsresistenten Genres von Britrock bis zu amerikanischer Roots Music).

Oder liegt die Sache vielleicht sogar eher umgekehrt? War es womöglich vielmehr die Popmusik, die den zeitgenössischen R&B subtil auf Stil trimmte, ihm Reduktion und Minimalismus einhauchte? Nach ersten EPs in den Jahren 2009/2010 legte James Blake 2011 sein selbstbetiteltes Debütalbum vor, ein kleines Meisterwerk zwischen Dubstep, Ambient und digitalem Edel-Pop, welches die folgende R&B-Revolution ästhetisch vorwegnahm und bei dem Blake sich ausdrücklich auf die englische Band The xx berief. Und die Neue Zürcher Zeitung sah bei Blakes Konzert in Zürich schon 2011 einen „trendweisenden Auftritt“. Sagen wir so: Die Wechselwirkungen zwischen Pop und R&B haben die 2010er-Jahre bestimmt und der Austausch zwischen den Genres hat beiden Lagern gut getan.

James Blakes Verdienst lag dabei stets in der Abstraktion der Melancholie. Zwar lag alles offen vor dem Hörer, doch die Musik beschwor diesen Zustand nicht wie ein aufdringliches Parfüm, sondern wie das, was vom betörenden Duft nach zehn, zwölf Stunden noch übrig geblieben ist: ein zarter Hauch, eine dezente Erinnerung, herbeigeweht aus der Vergangenheit.

Auf James Blake Assume Form kehrt der Brite nun wieder etwas stärker zum Konkreten zurück, anstatt sich weiter im Abstrakten zu verlieren. Der Titelsong eröffnet das Programm mit einer wunderbar beiläufig ausgestreuten Pianolinie, man hört leise Ticks und sanfte Clicks, im weiteren Verlauf mischen sich einige etwas gewichtigere Beats ins Geschehen. Dazu: Blakes mal kunstvoll verzerrte, mal sanft gewisperte Gesangsstimme (meist im Falsett natürlich), die mit einem im Hintergrund eingestreuten Mantra von kinderliedhaftem Timbre kontrastiert.

Die Musik von James Blake Assume Form

„Mile High“ manöveriert den Sound anschließend als Joint Venture mit den US-Rappern Travis Scott & Metro Boomin in Trap-nahe Gefilde. Auch „Tell Them“ (mit Rapper Moses Sumney) bespielt diese Klaviatur, mischt minimalistische Elektronik und ein Klavierthema, so zart, als wär’s von Chopin, mit raffiniert eierndem R&B-Bling-Bling. In „Into The Red“ tritt ein Cello hinzu, in „Barefoot In The Park“ der New-Flamenco-Shootingstar Rosalie, doch stets bleibt die Gangart leise und konzentriert.

Und es ist genau diese spezielle Blake’sche Aura einer klassischen, aber soundtechnisch hochmodernen Empfindsamkeit, die Fans der ersten Stunde nach wie vor fasziniert und alle anderen zumindest in Versuchung führt, zuzuhören. Alter Wein in neuen Schläuchen sozusagen: die ewigen seelischen Verwerfungen, aber verpackt in eine aktuell designte Klangsprache, die sich auf stilvolle Subtilität versteht und alles Plakative vermeidet.

Am explizitesten an etwas schwergewichtigere HipHop-Sounds nähert sich „Where’s The Catch“ mit André 3000 als Gast an, aber auch in dieser Duo-Konstellation mutiert Blake nicht zum Feierbiest, sondern setzt auf kontrollierte Coolness. Es ist dieses konsequent durchgehaltene, harmonisch-kühle Klangmuster in Verbindung mit einem relaxten In-Sich-Ruhens, die James Blake Assume Form zum Ereignis macht. „I’m on my own tonight“, er sei ganz bei sich, versichert Blake in „I’ll Come Too“ und überzeugender könnte keine noch so gefühlvoll musizierende traditionelle Singer-Songwriterin diesen Seelenzustand vor dem Hörer ausbreiten: same feeling, but different sound – was normalerweise in einem klassischen Folkarrangement daherkommt, funktioniert als reduzierter R&B-Pop keinen Deut weniger intensiv.

„Don’t Miss It“ mit minimalem Knistern, pochenden Beats und Soprangesang und das entrückte Gute-Nacht-Lied „Lullaby For My Insomniac“ schließen den Vorhang schließlich so formvollendet, wie er sich knapp 45 Minuten zuvor gehoben hat. Wer die Relevanz des modernen R&B verstehen und fühlen will, seine Interaktion mit dem Pop zum Ausklang dieses Jahrzehnts nochmals nacherleben will: James Blake Assume Form ist ein finales Paradebeispiel für den gelungenen Dialog zwischen diesen beiden Genres.

Cover Art James Blake Assume Form
James Blake Assume Form (Cover: Amazon)

James Blake Assume Form erscheint bei Polydor im Vertrieb von Universal und ist erhältlich als CD, LP und hi-res-Download.

James Blake Assume Form
2019/01
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Autor: Christof Hammer

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Seit vielen Jahrzehnten Musikredakteur mit dem Näschen für das Besondere, aber mit dem ausgewiesenen Schwerpunkt Elektro-Pop.