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Audiowelten
Wie entwickelt sich das Musikhören in der Zukunft? Neue Technik oder in Richtung Retro? Der Freiburger Medienforscher Dr. Christofer Jost antwortet auf drängende Fragen

Medienforscher Dr. Christofer Jost im Interview: Apple & Co wollen die Musik unter ihre Kontrolle bringen

Dr. Christofer Jost
 ist einer der angesehensten Medienforscher Deutschlands. Er forscht und lehrt an der Universität Freiburg am Zentrum für Populäre Kultur und Musik sowie am Institut für Medienkulturwissenschaft. LowBeats hatte ihn im Interview – und ein paar drängende Fragen im Gepäck. Zum Beispiel, warum plötzlich die Kompaktkassette boomt und alte Walkmen Traumpreise erzielen? Oder die vielleicht noch härtere Frage: Warum schert sich die Jugend so wenig um guten Klang? Wird das eine Domäne alter Männer? Last but not least: Warum klingen heutige Pop-Alben so gruselig eindimensional? Naht das Ende aller klanglichen Werte?

Dr. Christopher Jost
Dr. Christofer Jost
 forscht zum Medienverhalten in Deutschland (Foto: Jost)

LowBeats: Herr Jost, Sie betrachten unsere HiFi-Branche berufsbedingt aus einem komplett anderen Winkel. Der Boom der LP wundert uns nicht. Aber warum wird plötzlich die Kompaktkassette so hofiert? Eigentlich ein Medium, dass nicht zwingend für seinen audiophilen Charme berühmt ist …

Dr. Christofer Jost: Das ist in der Tat eine spannende Frage. Unlängst feierte die Kassette Ihr 60-jähriges Jubiläum. Da hatte ich auch Anfragen von ARD und ZDF. Ich fand es erst einmal interessant, als Musik- und Medienforscher, dass dies gesellschaftlich ein Thema ist, über das sich Menschen Gedanken machen. Die Kassette – sie ist für viele heute spannend, da sie momentan nicht so einfach verfügbar ist. Sie ist selten geworden. Davon geht schon mal ein Reiz aus. Ein Gedanke aus der Vergangenheit, der in die Gegenwart hinein reicht. Aber es ist nicht so klar, wofür dieser Gedanke jetzt steht. Das macht Dinge interessant.

LowBeats: Wer ist denn die Gruppe jener, die sich jetzt für die Kassette interessiert? Sind das junge Menschen oder wir alte Herrschaften, mit der Sehnsucht in die Jugendjahre?

Wenige Compact Cassetten werden noch neu hergestellt und noch weniger authentische Altbestände bekannter Marken sind noch verfügbar. LowBeats hat 10 Bandtypen, neu produzierte und New-Old-Stock ausfindig gemacht, gemessen und gehört! (Foto: R. Vogt)
Feiert eine Art Comeback: die Kompaktkassette (Foto: R. Vogt)

Jost: Genau das würde ich auch so fragen. Die Kassette ist nicht wirklich im High-End-Segment zu finden. Da würde ich stark vermuten, das sind eher junge Menschen. Die haben die Kassette gewissermaßen jetzt entdeckt. Das gehört dann womöglich zu einem Lebensstil, eben in dieser Szene dazu. Aber: Die Kassette hat nie aufgehört, ein Speichermedium zu sein. Das geht zurück in avantgardistische Strömungen wie dem Noise-Genre. Auch im Heavy Metal gibt es eine durchgehende Geschichte der Nutzung von Kassetten, ebenso im Punk. Das sind Stränge, die das ausgezeichnet verdeutlichen. Es gibt Comeback-Phänomene, da sind dann die jungen Menschen involviert – zu nennen wäre hier der Lofi-Hip-Hop. Aber, wie gesagt, es existieren auch die alten Szenarien.

LowBeats: Wie entscheidend ist der Faktor einer Gegenbewegung? Im Sinne versus das Smartphone und die allumfassende Verfügbarkeit per Streaming? Bei der Kassette habe ich eine lineare Erzählform. Ist es eine Sehnsucht nach einer gewissen Stabilität und Entschleunigung?

Jost: Das geht weit in den Bereich der Psychologie. Mir erscheint wichtig, dass die Kassette an sich einen Gebrauchswert vermittelt, für den man sich Zeit nehmen muss. Da schwingen auch die ganzen Prozeduren mit, die wir in unserer Musiksozialisation erfahren haben. Der Umgang hat, wenn man so will, rituellen Charakter. Hierin lässt sich sicherlich auch eine Gegenbewegung zum virtuellen oder digitalen Konsum erkennen. Dieses Sich-Einlassen, das Zeremoniell – klar liegt hier ein wichtiger Faktor.

LowBeats: Die Schallplatte ist wiedergekommen und hat auch ihre höchst eigenen audiophilen Qualitäten. Auch gibt es einen Anreiz für die High-End-Gemeinde, die sich plötzlich für Master-Bänder und große Bandmaschinen interessiert. Aber die Kassette selbst ist eher ein defizitäres Medium, ein Downgrade. Wie ist das einzuordnen?

Jost: Die physikalischen Fakten lassen sich nicht wegdiskutieren. Die Kassette scheint für viele zu einem Kult- oder Designobjekt geworden zu sein. Da sind hörbare Werte dann eher relativ.

LowBeats: Ich habe in meinem Schrank einen alten Sony Walkman gefunden. Erstaunlich gut erhalten und bei eBay eingestellt, die Bieter schlagen sich darum, aktuell liegt das alte Stück bei 150 Euro. Ist das nicht absurd? Ach, ganz intime Frage: Haben Sie selbst auch noch einen Kassettenrekorder?

Jost: Also ich habe so einen noch bei mir herumstehen, muss aber auch zugeben, dass das tatsächlich eher auf Nostalgie gründet. Ich verwende diesen Rekorder nicht mehr. Ja, diese Erfahrung mit der Kassette und gerade mit dem Sony Walkman überhaupt liegt auch daran, dass hier sich erstmals das Tor zum mobilen Musikhören öffnete. Das verbinden noch viele Menschen damit. Das ist eine kulturelle Erzählung, die wird immer weiter und wieder reproduziert.

LowBeats: Wechseln wir das Thema. Es gibt viele High-End-Messen weltweit, die wir als Redaktionsteam besuchen. Und auch auf die Gefahr hin, dass es politisch unkorrekt ist: Die älteren, weißen Männer sind hier in der Überzahl. Wo ist die Jugend? Ist sie für den High-End-Gedanken verloren?

Jost: Die Beobachtung finde ich spannend. Ich denke, dass die Realität ein bisschen diverser ist. Aber zu berücksichtigen sind hier ganz einfach finanzielle Barrieren. Das war und das ist beim Musikkonsum immer ein Thema. Wenn Sie zurückblicken in die 50er, 60er-Jahre – da hatte die Entwicklung von populärer Musik hin zu Popmusik und Jugendkultur auch ganz stark damit zu tun, dass auf einmal die Vinyl-Schallplatte da war. Nicht mehr Schellack, sondern plötzlich Singles. Auch ein nicht so kaufkräftiges Publikum konnte im großen Maßstab Musik konsumieren. Ein wirklicher Umschwung in der Mediengeschichte. Vinyl vereinfachte es, war billiger, erschwinglich. Ich glaube, dass das heute ähnlich ist, dass junge Menschen nicht so kaufkräftig sind und High-End-Komponenten entsprechend gar nicht so sehr im Blick haben. Das sind kostspielige Geräte, hoch spezialisiert noch dazu. Was direkt zu einer anderen Barriere führt – den Berührungsängsten.

LowBeats: Jetzt könnte ich Ihnen einfach zustimmen. Mache ich aber nicht. Denn wir beobachten auch, dass die kulturgeschichtlich grandiosen Aufnahmen im Superseller-Pop nicht mehr stattfinden. Viele populäre Aufnahmen sind vorrangig dynamisch banal. Es gibt eine Einheitslautstärke. Woran liegt diese Einfältigkeit?

Jost: Das hat sicherlich viele Gründe. Einer wäre der Siegeszug des Kompressors in der Popmusik. Das hat ein Klangideal geschaffen. Das schwebt mit bei allem, was wir im Pop und Rock hören – im Jazz und der Klassik eher nicht. So wurden wir fixiert auf diesen, wie Sie beschrieben haben, nicht dynamischen, nicht differenzierten, diesen „Mitten-ins-Gesicht“-Sound. Das ist eine Klangästhetik, die sich durchgesetzt hat bei den großen Geldbringern – also in weiten Bereichen, aber nicht überall. Viele Plattenfirmen und Produzenten sind darum bemüht, ihre Aufnahme möglichst knallig laut zu liefern. Deshalb klingen heute in unseren Ohren Aufnahmen aus den Sechzigern wie aus einer anderen Welt.

LowBeats: Es gibt es auch eine Gegenbewegung – viele kleine Labels, feine Tonmeister, kleine Aufnahmestudios, die feinsinniger denken. Wenn dieser Prozess des „Mitten-ins-Gesicht“ unumkehrbar erscheint, sind dann diese kleinen Labels vom Aussterben bedroht?

Jost: Ich glaube, dass es dieses Bedürfnis nach einer Gegenbewegung im dialektischen Sinne immer geben wird. Aber ich kann nicht in die Glaskugel schauen. Doch ich bin fest davon überzeugt, dass kulturelle Nischen bleiben werden. Zudem übernehmen die großen Tech-Unternehmen Anstrengungen für einen Gegentrend. Sie kennen sicherlich die Potenziale von Spatial-Audio oder 3D-Audio. Da wird es wieder interessant. Das könnte ein Indiz sein, dass es in eine andere Richtung geht.

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3D Audio könnte die Zukunft sein – derzeit vor allem nur per Kopfhörer zu genießen (Foto: Apple)

LowBeats: In die Richtung pro Klangqualität?

Jost: Genau, in Richtung des differenzierten Klangs. Man kann eintauchen. Noch sind wir am Anfang, aber es wird vermutlich in die Breite der Gesellschaft gehen.

LowBeats: Die Branche erwirtschaftet mehr Geld mit Kopfhörern als mit Lautsprechern. Ist es konsequent, dass da auch ein so großer Player wie Apple mitmischt?

Jost: Absolut. Das ist ein Symptom unserer Zeit. Die Big Player schauen immer auf die größtmöglichen Absatzmöglichkeiten für ihre Produkte. Ebenfalls darf man nicht vergessen, dass da wahnsinnige Kapazitäten schlummern. Die Tech-Unternehmen haben so viel Geld, so viel Wissen, so viel Manpower. Aber Vorsicht: Hier entstehen potenzielle Monopole, die versuchen, Musik, Konsum, Lifestyle unter Kontrolle zu bringen.

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Mit „Classical“ hat Apple Music ein dickes Ausrufezeichen gemacht und setzt die Signale in Richtung Spatial Audio

LowBeats: Das heißt, in Zukunft gibt es die klassische Produktionskette nicht mehr? Tonstudios, Künstler, Medienkonzerne – alles würde vom Silicon Valley übernommen?

Jost: Die Labels sind vor allem noch Rechteinhaber. Insgesamt muss man vorsichtig sein, dass sich manche Prognosen nicht zu sehr nach Verschwörungstheorien anhören. Aber wenn man jetzt diese noch relativ junge Geschichte der Tech-Unternehmen anschaut, spricht sehr vieles dafür, dass diese ihren Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse weiter steigern wollen. Für die scheint es keine Grenzen zu geben…

LowBeats: Dr. Jost, wir danken für das Gespräch

Buchtipps:

Audiowelten
Technologie und Medien in der populären Musik nach 1945 – 22 Objektstudien
Herausgegeben unter anderem von Dr. Christofer Jost.
2021, Populäre Kultur und Musik, Band 34, 584 Seiten, gebunden, 59,90 €, ISBN 978-3-8309-4438-6

Musikobjektgeschichten
Populäre Musik und materielle Kultur
Herausgegeben unter anderem von Dr. Christofer Jost.
2021, Populäre Kultur und Musik, Band 32, 290 Seiten, broschiert, 34,90 €, ISBN 978-3-8309-4442-3

Medienwelten
Ein weiteres Werk vom Dr. Christofer Jost als Mitautor: „Musikobjektgeschichten“

Autor: Andreas Günther

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Der begeisterte Operngänger und Vinyl-Hörer ist so etwas wie die Allzweckwaffe von LowBeats. Er widmet sich allen Gerätearten, recherchiert aber fast noch lieber im Bereich hochwertiger Musikaufnahmen.