Apple Music Classical: Mehr Klassik war nie – und das wertvollste Unternehmen der Welt will dazu die Spielregeln der modernen Aufnahmetechnik verändern
Das war ein spannender, denkwürdiger Event. In München, in der deutschen Firmenzentrale von Apple trafen Mitte Juli 2023 die hohen Strategen des Konzerns ein. Mit einer Botschaft, die die Welt des High-Ends verändern soll. Wie immer denkt Apple nicht in kleinen Schritten. An der ausgewählten Runde durften auch wir teilnehmen, was uns ehrt. Der Superstar war die Konzertpianistin Alice Sara Ott, die ein starkes Wort für Apples Initiative einlegte und mit der ich ein Exklusiv-Interview führen konnte – im Finale dieser Reportage.
Wo die Revolution liegt: Apple sucht insbesondere in der Klassik den Kontakt zu großen Künstlern und den mächtigen Major-Companies. 3D-Technologie soll der neue Standard werden – gerade bei neuen Aufnahmen mit komplett dafür ausgerichteter Tontechnik. Nicht von den Begriffen verwirren lassen: 3D heißt es vornehmlich in Europa, an anderen Orten der Welt spricht Apple von „Spatial Audio“. Zwei Namen, identischer Inhalt. Als Kür kommt noch „Dolby Atmos“ hinzu, was Apple akzeptiert, hofiert und als Option in Apple Musical Classical integriert. Der Nutzer bekommt davon recht wenig bis gar nichts mit – allenfalls gibt es eine kleine Anzeige auf dem iPhone, dem iPad oder dem MacBook.
Apple Music Classical: Dreidimensional wird zum Basisangebot
Warum hat Apple gerade an der Klassik einen Narren gefressen? Das große Geld lässt sich im Streaming mit Taylor Swift und Ed Sheeran erwirtschaften. Doch eine Pop-Produktion denkt nicht in den audiophilen Dimensionen einer klassischen Aufnahme. Die Klassik hatte in ihrer Recording-Historie früh die Möglichkeiten des Stereos für sich erkannt, dann folgte der zarte Versuch der Quadrofonie, die SACD und moderne Multikanal-Aufbauten sollten weiteren Push bringen.
Das schlug zwar weitgehend fehl, doch Apple ist sich sicher, dass der Zauber mit Kopfhörern gelingt. Natürlich den hauseigenen Kopfhörern. Allen voran dem großen Apple AirPods Max. Den hatte ich natürlich griffbereit, dazu die Playlist mit der neuen Aufnahme von Alice Sara Ott. Immer wieder darf man staunen, dass Apple faktisch aus dem Stand diesen tollen Kopfhörer entwickeln konnte.
Dass er so gut klingt, so viele Optionen vereint, liegt auch daran, dass im Hintergrund leistungsfähige Prozessoren walten. Hier verbaut Apple eigene Chips, die die komplette Wandlung übernehmen – und eben den Transfer in dreidimensionale Klangbilder. Tipp: Wer das Maximum an Klang will, sollte über den hauseigenen Adapter von Apple für das iPhone nachdenken und die Max per Kabel ansteuern. Kostet nur zehn Euro, umgeht aber das Nadelöhr, den „Bottleneck“ der Bluetooth-Technik.
Jetzt kommt die traurige Botschaft für die Android-Smartphone-Besitzer: Der größte Zauber gelingt – bislang – nur in der Apple-Welt. Es braucht runde fünf Minuten bis zum ersten Einsatz. Alles visualisiert das Display des iPhones. Die AirPods werden in Sekunden erkannt, doch es soll die Kür sein. Der individuelle, eigene Kopf und die Formen der beiden Ohren werden vermessen. Dazu wirft das iPhone die Front-Kamera an, bittet den Besitzer um ein paar Handbewegungen und Blickwinkel – Ping, alle klangwichtigen, biometrischen Daten sind erfasst. Dann haben wir 3D, Spatial, Dolby und eine weitere Zugabe: Ich kann das iPhone oder den Fernsehbildschirm als Klangzentrum definieren – schwenke ich dann den Kopf, bleibt der akustische Fixpunkt unverrückt, ich agiere also wie in einem richtigen Konzertsaal oder Kino, der Fachbegriff lautet „Head Tracking“. Abermals: Alles wäre ohne den leistungsstarken H1-Chip von Apple nicht möglich.
Apple will die Software, aber auch die Menschen und die Technik
Apple hat strategisch eingekauft. So im Sommer 2021 das Klassik-Portal Primephonic. Dahinter stand über Umwege das noch immer aktive Label Pentatone, das wiederum von einem musikbegeisterten Multimillionär aus den USA finanziert wird. Natürlich war Apple an der Software, den Aufnahmen von Primephonic interessiert, noch tiefer aber an dem Know-how der Tontechniker. Die sind nun weltweit unterwegs und fangen für Apples Classic App Aufnahmen in 3D ein. Flankierend dazu haben alle großen Orchester erkannt, dass man gern mit den großen Labels zusammenarbeitet, sich aber am besten auf eigene Beine stellt. Die Berliner, die Wiener Philharmoniker produzieren in Eigenregie 3D-Aufnahmen. Die sind physisch vielleicht auf SACD zu bekommen, ganz sicher aber im Download – und eben nun bei Apple Music Classical. Die Symphoniker aus London spielen mit, das San Francisco Symphony Orchestra und die Metropolitan Opera.
Ganz tief darf Apple dazu in die Backkataloge der Majors greifen. Essenziell und ein Klangtipp bei Classical ist auch der legendäre Wagner-Ring der Decca unter Sir Georg Solti. Wir haben den High-Res-Transfer begeistert besprochen – siehe Rezension. Über die Apple AirPods Max durften wir staunen, welche räumlichen Informationen präsent waren. Dabei hatten die Decca-Tontechniker damals nur zwei Mikrofone zur Front und ein drittes nach hinten für etwas Raumdefinition. Ein Zeittunnel durch mehr als 60 Jahre und zugleich ein Sprung in die Zukunft, was alles durch Rechenpower möglich ist.
Die Folgefrage drängt sich auf: Wenn vieles, nicht alles, errechnet wird – darf man dann noch von einem audiophilen Erlebnis sprechen? Ja, darf man, auf alte Bänder bezogen gibt es einen Zauber, der auf grundehrlichen Werten basiert. Wer es ethisch und hörend ablehnt – kein Problem, der 3D-Effekt kann abgeschaltet werden.
Natürlich wird es spannend bei Aufnahmen der Gegenwart. Alice Sara Ott beispielsweise hat sich bewusst für 3D-Audio entschieden. In ihrem neuen Album spielt sie ein reines Beethoven-Programm, Solostücke, aber auch das erste Klavierkonzert. Das klingt präsent, wie selten eine Klassikaufnahme zuvor. Mal wählt sie mit den Tontechnikern einen filigranen, fast zerbrechlichen Ton, dann wieder eine Wucht, als würden wir selbst an den Tasten sitzen, wenn nicht sogar unter dem Flügel liegen – Beethoven rockt.
Die Preise
Zum Preismodell. Richtig teuer wird es beim Kopfhörer, den AirPods Max – 629 Euro sind viel Geld, aber es gibt den Apple-Faktor von faszinierendem Design, in der Hardware, wie der Software. Tipp: Einfach mal die Websuche anwerfen, so mancher alternative Anbieter listet die großen Apple-Wandler mitunter günstiger auf. Die AirPods Pro in der 2. Generation sind als In-Ear-Hörer geschaffen, deutlich leichter, bei 300 Euro, aber ebenfalls 3D-tauglich. Es geht sogar noch kleiner und preissensibler. Auch die Pro in der 1. Generation und die „normalen“ AirPods (nunmehr in der 3. Generation) sind für 3D-Audio geschaffen. Womit es bei rund 200 Euro wirklich interessant für einen Massenmarkt wird.
In allen Fällen gibt es Apple Music kostenlos für sechs Monate hinzu. Also die Pop-Musik-Sparte. Doch Apple brennt für die Klassik – wer ein Abo für Apple Music unterhält, bekommt den Zugang zu Classical zeitgleich. Wichtig und zwingend: Apple trennt beide Angebote in unterschiedliche Apps. Weil insbesondere in der Klassik mehr Informationen aufgelistet werden, zu den Künstlern, aber auch zu den Datenraten der Auflösung, ebenso die Verbindungen zu verwandten Komponisten der Zeit. Selbst wer keinen Ton Musik hört: Allein diese Informationsfülle übertrifft jedes Klassik-Lexikon.
Oder um ein paar Zahlen zu bemühen: Wir haben bei Apple Music Classical fünf Millionen Titel, untereinander verlinkt zu 50 Millionen Datenpunkten. Das sind über 120 000 Werke, 400 000 Sätze und über 20 000 Komponisten oder Komponistinnen. Die geringste Klangqualität, die einem widerfahren kann, sind 16 Bit, das Kernrepertoire liegt jedoch bei 24 Bit und im Maximum bei 192 Kilohertz. Alles unkomprimiert, es gibt faktisch keinen Verlust gegenüber dem Original aus dem Tonstudio. Wer das Jahresabo bucht, zahlt 109 Euro – die Popsparte eingeschlossen. Wer dazu noch ab und zu Filme sehen und eine Familie einbinden will, kommt auf maximal 31,95 Euro im Monat. Die Tochter lauscht koreanischem Pop, die Gattin schaut die neusten Serien, der Hausherr schweift eben in der Welt der Klassik umher. Ein Rundumsorglospaket will der Weltkonzern damit schnüren – sogar die Spieleplattform Arcade, die Fitness-Programme und mächtige zwei Terabyte an iCloud-Speicher eingeschlossen, für bis zu fünf Personen. Da spürt man, dass Apple einen Markt mit allen Mitteln der modernen Vernetzung erobern will.
Alice Sara Ott im Interview: „Eine Ästhetik, die mich sehr, sehr anspricht.“
Alice Sara Ott hatte sie alle – die großen Orchester der Welt, die besten Dirigenten als Begleiter. In München wurde sie als Tochter einer japanischen Mutter und eines deutschen Vaters geboren. „Meine Mutter musste mich buchstäblich vom Klavier wegzerren“, in jungen Jahren verfielen ihr die Professoren, Musikkritiker und Jurys – sie erklärten sie mehrfach zu einer Preisgewinnerin. 2008 unterzeichnete Alice Sara Ott einen Exklusivvertrag mit der Deutschen Grammophon Gesellschaft. HiFi und High-End sind ihr eine Herzensangelegenheit, trotz der vielen, weltweiten Live-Auftritte. 2016 wurde sie Marken-Botschafterin für Technics. Nun schlägt sie sich mächtig auf die Seite von Apple. Was steckt dahinter? Wir hatten eine wunderbare Begegnung und Zeit für ein Interview.
LowBeats: Was mich an Ihrer neusten Aufnahme gewundert hat: Sie spielen an der Seite eines kleinen, niederländischen Orchesters aus Hilversum, mit Karina Canellakis, einer spannenden, aber noch nicht so stark profilierten Dirigentin – dann kommen Sie faktisch als Star hinzu. Ist das ein Paradigmenwechsel auch bei der Deutschen Grammophon?
Ott: Die Anfrage kam von Apple direkt, und dann haben wir das auf der Deutschen Grammophon veröffentlicht. Ich habe mich sehr darüber gefreut, ich habe schon einmal mit Karina zusammengearbeitet.
LowBeats: Wie hören Sie privat Musik? Über Lautsprecher, über Kopfhörer?
Ott: Je nachdem. Meine Surround-Anlage ist zwar OK, aber wenn ich wirklich konzentriert hören will, dann nutze ich die AirPods Max oder die AirPods Pro2.
LowBeats: Gerade haben Sie bei unserem Treffen gesagt, dass Sie auch Pink Floyd hören – und nicht etwa alte Aufnahmen großer Klaviermeister?
Ott: Ich höre das auch. Aber das ist dann mehr in einer Phase, in der ich mich aktiv mit dem Stück befasse. Oder eine Forschung betreibe, weil ich gerade ein Album zusammenstelle. Aber Entspannung bedeutet für mich, dass ich nicht anfange, alles zu analysieren. Das Schlimmste für mich ist, wenn ich zu einem Dinner eingeladen werde und im Hintergrund klassische Musik läuft. Dann schmeckt mir das Essen nicht mehr. Ich mag halt auch andere Musikrichtungen.
LowBeats: Nun sind sie ein ästhetisch agierender Mensch – gibt es eine gemeinsame Ästhetik der Apple-Hardwareprodukte und der Klangästhetik von Apple?
Ott: Interessante Frage – da habe ich noch nie darüber nachgedacht. Aber ich mag beides. Visuell ist das eine Ästhetik, die mich sehr, sehr anspricht. Je cleaner, je klarer, je minimalistischer, desto mehr mag ich das. Und ich finde Spatial Audio extrem spannend. Das war ein Aha-Moment, als ich nach Berlin gefahren bin, um mir im Tonstudio diesen Mix anzuhören. Genau die Sachen, die ich immer machen wollte, waren plötzlich möglich. Das bedeutet auch, dass ich einfach viel mehr Möglichkeiten in Zukunft haben werde. Vor einer Aufnahme kann ich mir schon konkrete Gedanken zum Klang machen. Das finde ich total spannend, weil es die Musik physischer und dreidimensionaler macht.
LowBeats: Ich habe in Ihr neues Album hineingehört, und es fiel mir auf, dass ein Solo-Stück ganz zerbrechlich klingt und ein anderes Beethoven-Stück plötzlich extrem wuchtig und groß erscheint. Der alte Rubinstein hat einmal einen Tontechniker abgekanzelt: Warum stellen Sie mir hier Mikrofone unter den Flügel? Das Publikum sitzt doch woanders …
Ott: Aber ich denke mir, das Publikum würde gern einmal direkt am Flügel sitzen. Ich möchte bei Beethoven auch die Extreme hören. Wenn es ein dreifaches Forte ist, dann muss es auch schmerzen. Das ist doch das Schöne, dass hier die Zuhörer die Möglichkeit haben, das aus nächster Nähe zu erleben. Das hat man im Konzertsaal nicht sehr oft.
LowBeats: Wir danken für Ihre Zeit und Ihre Einschätzungen.
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