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The War On Drugs
The War On Drugs hat mit seinem 5. Studio-Album ein veritables Werk vorgelegt: "I Don't Live Here Anymore" ist unser Musik-Tipp der Woche (Foto: Warner Music)

The War On Drugs „I Don’t Live Here Anymore“ – das Album der Woche

Kaum ein anderer US-Musiker bespielt die Schnittstelle zwischen Indie-/Alternative-Klängen, Americana und klassisch-zeitgenössischem Rock so schön, so erfolgreich und so glaubwürdig wie Adam Granduciel mit seinem Projekt The War On Drugs. Nächster Beweis nach dem 2018er-Coup „A Deeper Understanding“ ist das fünfte Studiowerk des Projekts: The War On Drugs „I Don’t Live Here Anymore“ ist unser neues Album der Woche.

Seit 2005 sind Adam Granduciel gleich zwei veritable Kunststücke gelungen. Einerseits hat sich der nahe Boston geborene, mittlerweile in Philadelphia ansässige Songwriter, Sänger, Multiinstrumentalist und Produzent mit seinem Projekt The War On Drugs (TWOD) inzwischen vom Geheimtipp zur momentan vielleicht strahlendsten Lichtgestalt des amerikanischen Indierock emporgespielt. Und zweitens: Doch obwohl Granduciel und seine in Livebesetzung meist als Sextett agierende Band in der Heimat mittlerweile 20.000er-Hallen wie den New Yorker Madison Square Garden ausverkauft und mit Werken wie „A Deeper Understanding“ (2018) auch die regulären Billboard-Charts und (beinahe) den Mainstream stürmten, genießen TWOD bei Fans der ersten Stunde nach wie vor höchste Credibility – das eher noch schwierigere Kunststück. Wie glänzend Granduciel & Co. Qualitätsmusik mit Tiefgang und kommerziellen Erfolg unter einen Hut bringen, zeigt nun auch das neue Album „I Don’t Live Here Anymore“.

THe War On Drugs
Mehr als nur eine one-man-Show: Im Studio hält Adam Granduciel (vorne links in der schwarzen Lederjacke) als Chef von The War On Drugs definitiv alle Fäden in der Hand. Doch wenn er sein Projekt in die freie Wildbahn entlässt, steht ein furios aufspielendes Ensemble auf der Bühne, das mittlerweile auch Top-Venues wie den New Yorker Madison Square Garden rockt (Foto: Warner Music)

Dominierte auf dem grandiosen Vorgänger „A  Deeper Understanding“ noch ein furioser Dreiklang aus alternativen Americana-Sounds, dezent wavigen 80er-Jahre-Synthies und Westcoast Music im Geist von Neil Young und Tom Petty, so wirken die zehn neuen Songs vielleicht einen Tick weniger offensiv und nicht ganz so stadion-tauglich – dafür aber noch ausdifferenzierter und reflektierter. Seinen Kosmos voll großer amerikanischer Gesten, Klänge und Themen ergänzt Granduciel hier um bisher eher selten zu hörende Referenzen an Bob Dylan und Bruce Springsteen, experimentiert aber zugleich auch mit einer ungewohnt elektronischen Klangsprache. Beides zusammen sorgt in Verbindung mit der typischen TWOD-Kombination aus weit ausgreifenden Saiten- und Tastensounds für ein Album, das 52:19 eine Fülle an Stimmungen und Gemütszuständen von Melancholie bis Euphorie bespielt – und für jede Menge intensive, detailreich ausgearbeitete und klanglich fein ausgeleuchtete Momente zwischen Folk, Pop und Indie-/Alternative-Rock.

Die Musik von „I Don’t Live Here Anymore“

Sehr zurückgenommen, fast intim und dylanesk startet Granduciel in sein zehn Tracks starkes Set, und obwohl in „Living Proof“ mit Piano, elektrischer und akustischer Gitarre eigentlich alles vorhanden wäre für ein Stück großes Gefühlskino, macht er seinen Sound zunächst ganz klein, setzt auf leise Töne und eine fast lagerfeuerartig andächtige Atmosphäre.

Doch schon mit dem sechseinhalbminütigen, mit vollmundigem Piano, flottem Rhythmus und glitzernden Synthies üppig colorierten „Harmonia’s Dream“ sowie mit dem folgenden„Change“, einer süffigen, eher synthiebetonten Midtempo-Nummer mit ausgeprägtem Songwriter-Charakter, stellen The War On Drugs ihren Sound auf eine cinemascopisch breite Bühne. Von hier aus wäre es dann nicht mehr weit zum Stadion-Rock eines Bruce Springsteen, doch wo der Boss ähnliche Arrangements mit bekannt mächtigem Bizeps und dem Druck seiner E Street Band inszeniert, bleibt dieser Sound bei The War On Drugs ätherischer, luftiger, schlanker. Dass hier nicht ganz so viel Testosteron im Spiel ist wie beim großen Silberrücken des zeitgenössischen American Rock, steht Adam Granduciel und seinen Mannen freilich ganz ausgezeichnet.

Der elektronisch geprägte Mittelteil dieses Albums mit „I Don’t Wanna Wait“ an Position 4 sowie dem folgenden „Victims“ nimmt dann eine Ausnahmestellung im bisherigen TWOD-Oeuvre ein: Minimalistisch, fast im Stil von Phil Collins‘ „In The Air Tonight“ tickt in „I Don’t Wanna Wait“ eine Syn-Drum, gespenstisch flimmern Saiten- und Tastensounds, und Granduciel elektronisch verfremdeter Gesang entführt diesen Song, obwohl eher konventionell in der Synthesizer-dominierten Melodieführung, in dezent psychedelische Sphären – ab 3:30 noch unterstrichen von einer resoluten, ebenfalls verzerrten E-Gitarre. Auch in „Victim“ pluckert die Drum-Machine unnachgiebig und legt unmerklich an Tempo zu, ehe ab 3:20 so bizarr oszillierende wie zugleich scharfkantige elektronische Sounds die Türe aufstoßen hin zu einer bisher so nicht gekannten Klangsprache.

Thematisch drehen TWOD das ganz große Rad. Philosophische Gedanken über die zwiespältige Macht des Zweifelns, über zerborstene Träume und verlorene Hoffnungen und über die Kunst des Weitermachens und Durchhaltens im Angesicht der Verzweiflung machen „I Don’t Live Here Anymore“ quasi zu einem Stück musikalischem Existenzialismus – mit weniger wollten TWOD auch diesmal nicht ihre Zeit verschwenden. „I was lying in my bed, a creature void of form / Been so afraid of everything, I need a chance to be reborn“, gesteht Adam Granduciel etwa im Titelsong und dem definitiven Hit dieses Albums – man höre nur das unwiderstehliche Riff. Die Kollegen der New Yorker Indiepop-Band Lucius ergänzen dieses eindringliche Szenario um das universelle Ringen um Erlösung mit dem an sich eher desillusionierenden Refrain „We’re all just walkin‘ through this darkness on our own“ – der aber durch seine geradezu leuchtenden Backing Vocals zum Licht am Ende des Tunnels wird.

Auch „Old Skin“ und „Wasted“ fahren noch einmal das ganz große Besteck auf: Epische Synthies, glitzernde Gitarren, Glockenspiel und eine Mundharmonika in Neil-Young-Manier beschwören Stadionrock- und Sonnenuntergangsatmosphäre. Und mittendrin: Adam Granduciel, der seine Songs, halb Milieustudien, halb Selbstreflexionen, so intensiv und lebensnah vorträgt, als wären es Novellen von John Steinbeck.

Das balladeske, in seiner ungemein persönlichen Gangart in der Tradition von Springsteen’schen Familienbetrachtungen stehende „Rings Around My Father’s Eyes“ greift dann kurz vor Schluss die nachdenkliche Atmosphäre des Eröffnungssongs „Living Proof“ auf, ehe das finale „Occasional Rain“ akustische und elektrische Gitarren auf’s Schönste miteinander versöhnt: ein besinnlicher, aber optimistischer Ausklang, der die Hoffnung transportiert, dass es sich bei mancherlei Eintrübungen in unser aller Leben und menschlichen Existenz eben nur um unvermeidlichen, gelegentlich auftretenden Regen handelt.

The War On Drugs "I Don't Live Here Anymore" Cover
The War On Drugs „I Don’t Live Here Anymore“ erscheint bei Atlantic im Vertrieb von Warner Music und ist erhältlich als CD, Doppel-LP und Download (Cover: Amazon)

Wenn nichts dazwischen kommt, gastiert das Sextett mit dem neuen Album „I Don’t Live Here Anymore“ im nächsten Jahr auch mal wieder in Deutschland. Geplant sind folgende Termin: 2. April 2022 – Berlin: Verti Music Hall / 7. April 2022 – München: Zenith / 20. April 2022 – Köln: Palladium / 21. April 2022 – Wiesbaden: Schlachthof

The War On Drugs „I Don’t Live Here Anymore“
2021/10
Test-Ergebnis: 4,4
SEHR GUT
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Musik
Klang
Repertoirewert

Gesamt

 

Autor: Christof Hammer

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Seit vielen Jahrzehnten Musikredakteur mit dem Näschen für das Besondere, aber mit dem ausgewiesenen Schwerpunkt Elektro-Pop.