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Tamara Lindeman
Folk war gestern. Auf dem Weg zur ihrem heutigen musikalischen Ausdruck wandelte Tamara Lindeman ihre Weather Station in Richtung komplexe Songgebilde. Es ist unser Album der Woche (Foto: J. Bierk)

The Weather Station Ignorance – das Album der Woche

Mit ihrer Band The Weather Station wagt sich Tamara Lindeman inhaltlich hinaus in die Stürme von gesellschaftlichen Phänomenen oder dem Klimaschutz. Dabei entwirft die Kanadierin musikalisch klug arrangierte, anmutige Songs fernab von eitel Sonnenschein, eher mit herzlichem Mut. Ein musikalisch wie lyrisch starkes Manifest zwischen Pop, Independent und Jazz. Eine Vorhersage und Ansage. Für die Zukunft. Es folgt: der Wetterbericht. Oder anders herum: The Weather Station Ignorance ist unser Album der Woche.

Es scheint, als ob Kanada eine besondere Keimzelle für musikalische Exzellenz in puncto Songwriting innehätte. Leonard Cohen, Bruce Cockburn, Dough Ashdwon, die Cowboy Junkies mit ihrem audiophilen Klasse-Werk „The Trinity Session“, Neil Young oder Gordon Lightfoot. Und schließlich auch Rufus Wainwright (siehe CD der Woche vom 8. Juli 2020) sowie kd Lang, Alanis Morissette oder eine Joni Mitchell stehen dafür.

Tamara Lindeman alias Tamara Hope gibt dabei mit ihrer Weather Station nicht die Kollegin von Sven Plöger oder Claudia Kleinert. Oder doch. Zumindest im übertragenen Sinne. Denn Lindeman und Band legen die Finger lyrisch in gesellschaftliche Wunden wie die Herausforderungen des Klimawandels oder ökonomische Verwerfungen, die auch mit unseren alltäglichen Lebenslügen verwoben sind.

Sie meint damit: Machen wir uns doch nichts vor, wir machen uns was vor. Teilweise zumindest. Wenn wie im Song „Robber“ die Rede davon ist, dass die wahren „Räuber“ uns ja ganz und gar nicht hassen, sondern sich mit unserer Erlaubnis einfach tagtäglich nehmen, was wir ihnen zugestehen, dann hat das eine spezielle Qualität von Erkenntnis. Gesellschaftliche Strukturen erlauben, dass nicht alle gleich oder gerecht davonkommen. Gleichzeitig leisten wir als Bürger und Steuerzahler einen Beitrag, was ein Staat mit unseren „Beiträgen“ oder in unserem Namen in der Welt so anstellt. „Monitor“, „Panorama“ oder „Böhmermann“ lassen grüßen.

Auch bei Tamara Lindeman steht dabei künstlerisch eine alterprobte Sache auf dem Spiel: Geht konstruktive Gesellschafts- oder Systemkritik mit den Mitteln von Musik zwangsläufig einher mit einer gewissen Naivität oder Gefühlsduselei? Sprich: Bringt’s was? Wo verorten sich in diesem Kontext Legenden des aufrührerischen Folk wie Joan Baez, Bob Dylan oder ein Pete Seeger? Oder in neueren Zeiten Bands wie Midnight Oil mit ihrem Frontmann, dem Rechtsanwalt und Abgeordneten Peter Garrett. Nur schön anzuhören, wie damals schon über Ungerechtigkeit, Staatswillkür oder den Vietnamkrieg gesungen wurde. Oder hat das was geändert? Auch hier und heute. Vielleicht unbewusst. Oder, anders gesehen: Wie sähe die Welt aus, wenn diese Songs nicht geschrieben worden wären? Doch damit Schluss mit Textinhalten oder Botschaften, die im Falle von The Weather Station teils sehr gekonnt und subtil formuliert daherkommen, ohne dystopisch zu wirken. Immerhin geht es in ihren Stücken auch um überwältigende und beeindruckende Naturerlebnisse – allerdings nicht verklärend, sondern beobachtend oder Respekt gebietend.

Die Musik von Ignorance

Hut ab vor dem Klang: Der überzeugt durch schöne Durchhör- und Ortbarkeit, feiner Auflösung, stimmigen Klangfarben und Tieftondruck. Klug eingefädelte Arrangements, fein verwoben mit Stilen zwischen Independent-Pop, Singer-Songwriter und Jazz und sogar etwas Disco-Pop à la Abba. Und ja, bei aller Erneuerung, es blitzen immer mal wieder altvertraute Folk-Noten auf. Das ist der Stoff aus dem Tamara Lindemans neue Träume sind. Mit ihrer wandlungsfähigen Stimme, die mal an Joni Mitchell oder Margo Timmins von den Cowboy Junkies oder Tori Amos erinnert, bildet sie mit ihren BandkollegInnen eine prima Liaison. Komponiert hat Tamara diesmal auf dem Keyboard, nicht wie sonst auf der Gitarre.

Und so flirten ungeniert und fiebernd Saxofon und E-Gitarre, beispielsweise im Opener „Robber“, eines der stärksten Stücke auf dem Album. Streicher wallen dramatisch kurz auf, fallen wieder in sich zusammen, um Percussion-Einsprengseln und der Hi-Hat den Weg frei zu machen. Das alles eingebettet in einen minimalistisch-dezenten rockigen Drive.

Die meisten Stücke sind mit „purem Rhythmus“ unterlegt. Getragen von Ben Whiteley am Bass, Philippe Melanson an der Percussion, den Jazzmusikern Brodie West am Saxofon und Ryan Driver an der Flöte – die sollten die Popströmungen von Songs konterkarieren, was ihnen formidabel gelang. Johnny Spence tastete die Keyboards und Christine Bougie bediente die Gitarre. Lindeman selbst spielt Piano, singt und steuert verfremdete Saiten-Töne bei. Co-produziert hat Marcus Paquin (Arcade Fire).

Nach „Robber“ branden die Rhythmuswellen von „Atlantic“ im Uptempo; Tamara phrasiert hier schön, teils scheint eine Laurie Anderson Pate gestanden zu haben. „Parking Lot“ glänzt später beschwingt-optimistisch als Popstückchen, „Separated“ wiederum wiegt etwas schwerer, mit folkigen Keyboards und melancholisch-energischem Stimmtimbre, dazu Streichereinheiten. „Wear“ glänzt samtig, reduziert auf Stimme, Piano und Drums, während „Subdivisions“ das Album als tiefgründige, wohlige Westcoast-Ballade beschließt. Joni Mitchell lässt grüßen.

The_Weather_Station-Cover
The Weather Station Ignorance erscheint bei Fat Possum (Membran) als CD, LP sowie als Stream sowie MP3-Download (Cover: amazon)

Und hier noch ein Videoclip zum Appetitmachen:

Videoclip zu „Robber“:

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The Weather Station
Ignorance
 
2021/02
Test-Ergebnis: 4,4
SEHT GUT
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Musik
Klang
Repertoirewert

Gesamt

 

Autor: Claus Dick

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Musikfachmann seit Jahrzehnten, aber immer auch HiFi-Fan. Er findet zielsicher die best-klingenden Aufnahmen, die besten Remasterings und macht immer gern die Reportagen vor Ort.