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Nick Cave Iodiot Prayer Cover LP
Nick Cave hat mit "Idiot Prayer" ein sensationelles, der Pandemie entsprechendes Doppel-Album vorgelegt, das es erfreulicher Weise auch auf Vinyl gibt...(Cover: Amazon)

Nick Cave Idiot Prayer – das Album der Woche

Nick Cave blickt mit seinen 63 Jahren auf ein reich entwickeltes musikalisches Lebenswerk zurück, das bis in die Post-Punk-Ära reicht. Bereits seit vielen Jahren frönt der disruptive Geist vehement melodischen Rhythmen und tief schürfenden Texten. Mit diesem Live-Werk krönt der gebürtige Australier nun sein bisheriges Schaffen mit einer fantastischen Live-Einspielung – eine intime, auf Piano und Stimme reduzierte Werkschau, klanglich beeindruckend aufgenommen im altehrwürdigen Londoner „Alexandra Palace“. Nick Cave Idiot Prayer ist unser Album der Woche.

Wenn man vor über einem halben Jahrhundert in einem australischen Kaff namens Warracknabeal unweit von Melbourne inmitten von Feldern und Landwirtschaft aufwuchs, dürften die Erwartungen an das Leben eher überschaubar ausgefallen sein. Ein aufstrebender Staat, ja, in puncto mediale oder musikalische Abwechslung: eher mau. „Skippy das Känguruh“, hüpfte erst 1966 durch das Outback und die damalige Down-Under-Musikszene glänzte nicht unbedingt durch innovativen Output. Später eroberten eingewanderte Helden wie die Bee Gees aber auch AD/DC oder Kylie Minogue den Globus. Immerhin. Grandiose KollegInnen wie Midnight Oil oder Courtney Barnett folgten weitaus später, letztere beeindruckt heute mit großartiger Songwriterkunst (siehe CD der Woche vom 17. März 2020)

Der kleine Nick – Nicholas Edward – Cave genoss eine anglikanische Erziehung, deren Lehren sich vereinfacht ausgedrückt wie ein Religions-Hybrid aus katholischen und evangelischen Wurzeln nähren. Wie groß dieser Genuss war, sei dahingestellt. Kein Wunder aber, dass Cave in seinen Texten und Songs schon früh Tod, Himmel und Hölle, Gott und Religion in Hauptrollen auftreten ließ. Ganze Alben thematisieren zudem den Schrecken sowie eine vermeintliche, imaginäre Süße von Mord und Totschlag, so auf Murder Ballads aus dem Jahr 1996 – übrigens wunderbar zu erleben im Video zu „Henry Lee“, einem zartbitteren Duett mit der britischen Alternative-Rockerin PJ Harvey, die mit Cave seinerzeit auch privat eine kurze Liaison einging.

In seinen frühen Schaffensjahren gründete Cave mit Mick Harvey in Australien die Band The Boys Next Door, zog dann nach England und taufte die Truppe kurzerhand in The Birthday Party um. Es folgten diverse kreative Ausflüge wie 1982 mit der deutschen Formation Die Haut, wenig später in seiner neuen Wahlheimat Berlin, gründete er mit Blixa Bargeld (von der Avantgarde-Band Einstürzende Neubauten), dem Bassisten und Sänger Barry Adamson sowie Mick Harvey The Bad Seeds, Caves künftige Begleitband.

Es folgten hoch kreative Phasen, die Lyrik, aber auch Rollen und Auftritte in Filmen wie „Der Himmel über Berlin“ hoch spülten. Cave durchlebte auch Drogenphasen, Anfang der 90er zog er nach Brasilien um, später an die englische Südküste, nach Brighton and Hove. Am 14. Juli 2015 stürzte in dieser Gegend einer seiner Zwillingssöhne tragisch von einer Klippe in den Tod. Ein einschneidendes Erlebnis, das die Besinnung auf Religion, Leben und Ableben, was-passiert-danach & co. erneut stark fokussierte. Sein Studioalbum The Skeleton Tree spiegelt dies ergreifend wieder. Der Mann ist dennoch nicht verhärmt, auch nicht resigniert, kann sehr tiefgründig aber auch sehr bestimmt sein, ob im Interview oder wenn er am Anfang eines Live-Konzerts Fotografen aus dem Bühnengraben mit den Worten verscheucht: „You professional photographers – your time is over now!“ – so erlebt vom Autor bei einem Konzert in Stuttgart.

Von extrem rau über eloquent-lyrisch bis beinahe theatralisch, überbordend und zartbesaitet spannt Cave sein musikalisches Spektrum. Kreiert und gelebt als Solokünstler, aber auch immer wieder im Team mit seinen Weggefährten Bad Seeds. Während Cave mit seiner autobiografischen Art-Doku 20.000 Days On Earth seinen 20.000sten Lebenstag und seine bis dato erlebte Karriere bunt illustrierte, spiegelt sein neues Werk Idiot Prayer mit 22 Dekaden-übergreifenden Stücken die persönliche Essenz seines musikalischen Wirkens wider – inklusive Arbeiten mit den Bad Seeds sowie der Formation Grinderman.

Am 19. Juni 2020 setzte sich Nick Cave vor seinen italienischen, handgefertigten Flügel der norditalienischen Nobelmarke Fazioli und spielte ohne Publikum. Schauplatz war das anmutige Alexandra Palace in London. Dort startete die BBC Mitte der 30er Jahre ihren Sendebetrieb. Zudem hält das vielschichtige Gebäude wunderbare Räume parat, von denen Cave die „West Hall“ auswählte. Beobachter und Zuhörer waren lediglich die engagierten Audio-Macher und das preisgekrönte Filmteam um Robbie Ryan sowie Ehefrau Susie, die als Creative Director fungierte. Am 23. Juli beglückte Cave dann die Musikwelt mit einem Stream des Events. Das cinematografische Ereignis dazu kam jüngst Anfang November in die Kinos, den Trailer dazu gibt’s hier.

Nick Cave Iodiot Prayer Aufnahme
Nick Cave Idiot Prayer wurde im ehrwürdigen Alexandra Palace in London aufgenommen. Der Ort hat Historie: Von hier aus ging die BBC zum ersten Mal auf Sendung…

„Am 19. Juni, als wir von Corona-Beamten mit Maßbändern und Fieberthermometern, maskierten Mitarbeitern und Kameraleuten, nervös guckenden Technikern sowie Eimern voller Desinfektionsgel umgeben waren, schufen wir etwas unglaublich Seltsames und gleichzeitig Schönes“, so Cave. Die ungewissen Zeiten von Corona mit ihren Einschränkungen und der Isolation warfen ihren Schatten auch auf das Prozedere der Aufnahmen. „Dieses Album stammt vom Film. Es ist ein Gebet in die Leere – alleine im ‚Alexandra Palace’ – ein Souvenir eines einzigartigen und prekären Moments der Geschichte. Ich hoffe, es gefällt euch.“

Die Musik von Nick Cave Idiot Prayer

Das Doppelalbum produzierte Nick Cave zusammen mit Dom Monks (u.a. Paul McCartney), der auch für die Aufnahmen in der weitläufigen West Hall des Alexandra Palace und das Mixing verantwortlich zeichnet. Eine Erkenntnis der „Solo“-Songs: Viele Stücke aus der Feder von Cave funktionieren nicht nur im zackigen Rock- und Rhythmus-Gewand mit Band, sondern transzendieren hier intim, reduziert auf seine Tastenarbeit am Flügel und Caves facettenreich-ausdrucksstarke Stimme, die wie edle Mousse au Chocolat mit Zartbitternote die Seele streichelt.

Alles geschieht ohne Worte, der tiefen, ruhigen Intensität der Songs geschuldet. Caves Gesicht wirkt dabei wie ein Spiegel höchster Konzentration, die eine wunderbare Verbindung zwischen Noten, der Lyrik und dem musikalischen Ausdruck des Ganzen inmitten dieses weit dimensionierten Aufnahmeraums bildet. Schön, dass sich dies auch akustisch sehr beeindruckend und raumgreifend miterleben lässt – zudem mit einer feinen Plastizität, die gleichzeitig dynamische Piano- und Vokalsequenzen angemessen zulässt und sogar fördert. Ein Glücksfall: Dass künstlerischer Anspruch und Tonqualität auf Topniveau liegen.

„Girl In Amber“ (vom Album Skeleton Tree, 2016), im Original elektronisch begleitet und mit Backgroundchören gesegnet, betört hier reduziert beinahe noch mehr.
„Man In The Moon“ (vom Album Grinderman, 2007) entlässt eine unerhört feine Melodielinie in den Raum.

My daddy was an astronaut
That’s what I was often taught
My daddy went away too soon
Now he’s living on the moon

Hang on to me people, we’re going down
Down among the fishes in an absence of sound
It’s the presence of distance and it’s floating in time
It’s lack and it’s longing and it’s not very kind

„Waiting For You“: welche anmutige Ballade, die Akzentuierung und Phrasierung von Cave’s Stimme eindrucksvoll zulässt.
„Euhanasia“ (bislang unveröffentlicht) schaffte es nicht auf das Album Skeleton Tree, es ertönt als sanfte Ballade mit melancholisch-brüchiger Stimme.
„Jubilee Street“ (vom Album Push The Sky Away, 2013), hier ohne die quirlige Bandbegleitung, besitzt dennoch eine gewaltige Dramatik – mit Tasten-Stakkatos und Caves theatralisch aufwallender Stimme.

On Jubilee Street there was a girl named Bee
She had a history, but she had no past
When they shut her down the Russians moved in
I am too scared, I’m too scared to even walk on past

„Far From Me“ (vom Album The Boatman’s Call, 1997) klingt wiederum versöhnlich-dezent.
„Galleon Ship“ (vom Album Ghosteen, 2019), wiegt sich als letztes Stück des Albums auf einer sanft gleitenden, elegischen Rhythmuswelle. Cave drückt am Ende die letzte Klaviertaste, steht auf und geht mit hörbaren Schritten.

If I could sail a galleon ship
A long, lonely rider across the sky
Seek out mysteries while you sleep
And treasures money cannot buy

For you know I see you everywhere
A servant girl, an empress
My galleon ship will fly and fall
Fall and fly and fly and fall deep into your loveliness

And if we rise my love
Before the daylight comes
A thousand galleon ships will sail
Ghostly around the morning sun

For we are not alone, it seems
So many riders in the sky
The winds of longing in their sails
Searching for the other side

And if we rise my love
Oh, my darling, precious one
We’ll stand and watch the galleon ships
Circle around the morning sun

Nick Cave Iodiot Prayer Cover
Nick Cave Idiot Prayer (2CDs, 2LPs, Stream) erscheint bei Bad Seed / Roughtrade / 375 (Cover: Amazon)
Nick Cave Idiot Prayer
2020/11
Test-Ergebnis: 4,8
ÜBERRAGEND
Bewertungen
Musik
Klang
Repertoirewert

Gesamt


Videos

Event Trailer
– Videos zum Album: „Euthanasia“ und „Galleon Ship
– Video zu „Henry Lee“ im Duett mit PJ Harvey – ein Alltime-Klassiker von Nick Cave & The Bad Seeds:

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Weitere Top-Alben von Nick Cave

From Here To Eternity (1984)
Tender Prey (1988)
Let Love In (1994)
The Boatman’s Call (1997)
No More Shall We Part (2001)
Skeleton Tree (2016, LowBeats Album der Woche)
Ghosteen (2019)

Autor: Claus Dick

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Musikfachmann seit Jahrzehnten, aber immer auch HiFi-Fan. Er findet zielsicher die best-klingenden Aufnahmen, die besten Remasterings und macht immer gern die Reportagen vor Ort.