de
Anna Ternheim im LowBeats Interview
Die schwedische Singer Songwriterin Anna Ternheim hat viel zu sagen: LowBeats hatte sie im Interview (Foto: Warner)

Interview: Anna Ternheim über Live-Auftritte, Stimmschulung & das Leben

Anna Ternheim ist eine der vielseitigsten und faszinierendsten Liedermacherinnen Schwedens. Ihr aktuelles Album A Space For Lost Time wird am 20. September veröffentlicht und wurde – wie auch das Vorgänger-Album All The Way To Rio von der LowBeats Musikredaktion zum Album der Woche gekürt. Was treibt die Schwedin an? Und was macht ihre Musik so stark? LowBeats Autor Claus Dick hatte die sympathische Musikerin im Interview.

Anna Ternheim A Space For Lost Time Cover
Das aktuelle Album A Space For Lost Time (Cover Amazon)

LB: Hej Anna, was geschah auf Deinem Weg von All The Way To Rio zum neuen Album A Space For Lost Time?

AT: „Das vorherige Album hat ganze vier Jahre lang gedauert, ich fing All The Way To Rio an noch bevor ich dessen Vorgänger For The Young veröffentlichte. Das war ein Biest von einem Album! Aber ich lernte viel dabei. Ich wollte danach anders arbeiten, eher ein geschlossenes Album mit klar strukturierten Songs zu machen, die etwas eingängiger sein sollten als die letzten. Das dauerte nicht so lange. Zudem wurde mir in den letzten vier, fünf Jahren noch ein anderer Aspekt wichtig: nämlich parallel an verschiedenen Projekten arbeiten zu können und einen konstanten Output an Musik zu haben.

LB: Was ist Dir denn daran so wichtig?

AT: „Ich denke, ich brauche Raum für verschiedene Arten von Aufnahmen. Wenn ich zurückblicke, habe ich viel Zeit in die Entstehung von Alben gesteckt, ich möchte aber auch Zeit für Teamworks haben, ein bisschen von allem gleichzeitig tun können – ohne diese langen Zyklen: Du schreibst ein Album, du nimmst es auf, dann spielst du es ein ganzes Jahr lang live und dann schreibst du wieder neue Songs. Die letzten drei Jahre habe ich zudem gleichzeitig getourt. Meine Touren sind nun etwas kürzer, es ist wichtig für mich Pausen zu machen, in denen ich Zeit zum schreiben habe. Das verschafft mir mehr Energie und legt Kreativität stärker in mir frei.“

LB: Wohnst Du denn noch in New York und Stockholm?

AT „Ja…“

LB: Ich frage deshalb, weil bei Deinen Liedern gerne Bilder aus der Natur aufblitzen – beispielsweise von einer Frau, die am Meer in einer Stuga (Ferienhaus) und sehnsuchtsvoll aufs Meer hinausschaut… Wie passt denn Deine – sagen wir – melancholische, ruhige folkige Musik zu solch großen Städten wie New York oder Stockholm?

AT: „N.Y. hat einen beruhigenden Effekt auf mich, das hört sich vielleicht komisch an. Ich bin dort, wenn ich nicht toure. Dort habe ich unendlich viel Zeit alles zu tun, was mir in den Sinn kommt. Dort kann ich gut schreiben. Das Chaos um mich herum, beruhigt mich, vielleicht weil ich keine Verpflichtungen habe. Dort ist ein Ort wo ich schreibe, aufnehme und mein Leben lebe. Anfang des Jahres bin ich nach Brooklyn umgezogen, das ist nochmal ein bisschen heimeliger als Manhattan.“

LB: Aber was ist denn dann mit Songzeilen wie „…leave the city leave the cold…“ oder „leave for the city or leave for the sea…“ (im neuen Song „Lost Times“): Hat die Natur wie bei einigen anderen Musikern keinen Einfluss auf Dein Songwriting…?

AT: „Ich kann in der Stadt schreiben – aber ich liebe es in der Natur zu sein, so oft es geht rauszufahren. Von N.Y. ist man nach nur einer Stunde Autofahrt in der tiefen Wildnis. Vielleicht zieht es mich mehr und mehr dorthin. Ich weiß auch nicht wie lange ich noch in N.Y bleiben werde, die Stadt ist so schnell, das kann mich mittlerweile schonmal mehr müde machen als in der Zeit als ich hinkam. Das ist etwas zweischneidig. Ich mag auch die Chance zurück nach Schweden zu gehen, was sich total anders anfühlt. Dort kann ich nach Gotland fahren, wo meine Eltern ein Haus haben und es sehr ruhig ist. Und ich kann Zeit in Stockholm verbringen, das ist auch ein sehr ruhiger Ort für mich.“

Anna Ternheim A Space For Lost Time
(Foto: C.Dunn)

LB: Lass uns in Stockholm bleiben – mit Deinem schwedischen Kollegen Björn Yttling hast Du ja ein paar Songs auf Deinem neuen Album geschrieben. Was war die Motivation und Idee zu diesem Teamwork, was ist anders, wenn Du Songs alleine schreibst?

AT: „Wir schrieben zusammen ein paar Musikstücke, keine Texte, es wäre hart für mich da jemanden zu involvieren. Es brachte eine andere Atmosphäre herein, eine andere Energieform, die ich brauchte, die mich auch überraschen konnten, um Songs weiter zu entwickeln, (schwärmt): er ist ein großartiger Songschreiber, ich liebe seine Melodien, er ist zudem ein sehr erfolgreicher Produzent. Ich denke, wir ergänzen uns ganz gut. Das ging so: Wir trafen uns für ein paar Stunden und schrieben die Basis-Melodienteile. Das nahm ich dann heim zu mir und schrieb die Texte dazu. Was manchmal Monate dauern kann, die Musik geht schneller…“

LB: Der Titel des Albums beinhaltet die Worte „lost time…“ ist das ein Blick zurück in die Vergangenheit, wo man Dinge beklagt, die hätten sein können… oder die man sich gewünscht hätte?

AT: „Der Titel fiel mir am Ende der Aufnahmen ein, ich wusste zuerst gar nicht so recht, was er bedeuten sollte… Du hast diese Zeile im Kopf, die sich gut anfühlt. Ich dachte lange darüber nach – letztendlich ist es für mich die Phase, in der noch alles möglich ist, auch vertane Chancen neu zu ergreifen oder Zeiten, in denen du am Boden warst, wieder gut zu machen, man hat endlos verschiedene Optionen! Du kannst die Zeit jetzt gestalten und sie so gut wie nur möglich nutzen. Den Titel kann man aber auch negativ sehen, wenn man auf verlorene Zeiten oder Fehler guckt und glaubt das nicht mehr ändern zu können. Für mich gibt es aber einen Raum in einem selbst, wo Dinge nie zu spät sind zu ändern und wo du tun kannst was du willst.“

LB: Du meinst, die berühmte zweite oder gar dritte Chance…?

AT: „Ja, ich denke dabei auch, dass sich der Blick auf die Zukunft mit dem Alter ändert. Das ist normal – mit 20 anders als mit 60. Irgendwann endet das Leben und das wird einem mit zunehmenden Alter klarer. Was einem die Zukunft bringen wird, weiß man nie, das ist lediglich eine Gedankenkonstruktion. Ist es denn deshalb nicht prima, einen Platz in dir zu erobern, wo du fühlst ‚verdammt, ich kann wirklich Dinge ändern, und zwar so wie ich es möchte!‘.

LB: Viele Deiner Lieder handeln von persönlichen Beziehungen, psychologischen Themen, zum Beispiel Entfremdung, Traurigkeit. Hast Du keine Lust, Songs über politische oder soziale Themen zu schreiben wie beispielsweise Jackson Browne oder andere, um zum Beispiel eine Bewegung wie „Fridays For Future“ der schwedischen Aktivistin Greta Thunberg zu unterstützen?

AT: „Ich setze mich nicht mit einem Konzept hin, über dies oder jenes zu schreiben. Ich kenne Kollegen, die das tun – und das absolut großartig. Wenn ich versuche, etwas politisches zu schreiben, denke ich, dass es sich komisch anhört… Was ich damit sagen will: vielleicht werde ich das mal schaffen (lacht), „Stars“ auf dem neuen Album geht in die Richtung. Der Grund, warum ich mit dem Schreiben anfing war, Menschen zu verbinden und sie zu bewegen. Aber auch, um Menschen eine zeitlang mitzunehmen an einen Ort in ihrem Inneren. Über Politik spreche ich mit Freunden. Ich würde mich nicht hinsetzen und ein Album über den Klimawandel schreiben. Ich denke, Liebe ist das zentrale, immer währende Thema. Vielleicht kann man ja mit einer Liebesgeschichte die ultimative Widerstands-Story ausdrücken (lacht). Über die Liebe kann es die Musik schaffen, sich mit sich eins zu fühlen und auch seine Beziehungen zu reflektieren. Das ist etwas, das ich schon immer mit meiner Musik ausdrücken wollte.“

Anna Ternheim
(Foto: Warner)

LB: Du sagst, es ist Dir wichtig Menschen zu verbinden – auch bei Live-Aufritten. Wie ist es für Dich solch intime Songs vor Publikum zu spielen?

AT: „Das ist die einzige Möglichkeit, Leute zu treffen, die meine Musik anhören. Da spüre ich, wie ich mit ihnen sozusagen in Echtzeit verbunden bin. Ich dachte früher niemals daran, meine Musik zu verbreiten. Ich hatte auch nie vor, Künstler zu werden. Mein erstes Album veröffentlichte ich mit 26. bevor ich zur Uni ging und anderen Jobs nachging – aber irgendwie holte mich die Musik immer wieder ein. Live zu spielen, ein Lied gehen zu lassen ist wichtig für mich… Ein Song kann so jedem gehören, und ein eigenes Leben haben, das dann nicht mehr in meinen Händen liegt – jeder kann damit machen, was er mag! Ich weiß nicht, ob das Sinn macht (lächelt). Aber ich höre schon manchmal, dass die Musik manchem in harten Zeiten helfen konnte. Das bedeutet mir sehr viel.“

LB: Was ist der Unterschied zwischen Live-Aufritten vor ein paar Hundert Zuhörern und großen Arenen?

AT: „Die Größe entscheidet nicht darüber, ob eine Show gut oder schlecht ist. Es hat mehr mit den Zuhörern zu tun und ob die Band gut miteinander harmoniert und die Präsenz der Musiker. Man muss aber ein paar Dinge bedenken, wenn man vor vielen Leuten oder draußen spielt. Da darfst du nicht nuscheln (lächelt), du musst sicherstellen, dass du die Menschen im hinteren Bereich erreichst. Einige meiner besten Auftritte hatte ich in kleinen Venues.“

LB: Lass uns über Teamworks reden. Du hast ja nicht nur mit anderen Songs geschrieben, sondern auch mit KollegInnen gespielt, unter anderem mit Anne Brun, First Aid Kit oder Calexico – die Band um Sänger Joe Burns und Drummer John Convertino hat ja neuerdings mit Sam Beam alias Iron & Wine kollaboriert – und alle haben davon profitiert (siehe Album der Woche).

AT: „Ich würde dies gerne ausweiten – ich habe oft mit Musikern zu verschiedenen Anlässen gespielt, wie auf Konzerten oder in TV-Shows. Wenn dich ein Freund bittet, einen Song mit ihm zu spielen, dann ist das immer ein Spaß, und für die Zuhörer oft etwas Neues. Auch mit einem neuen Produzenten kannst du über dich hinaus wachsen. Anne Brun traf ich vor kurzem in einer Radio-Show in Schweden. Ich kenne sie schon sehr lange, bevor wir Alben herausbrachten und Demos in Stockholm austauschten. Als ich ihre Musik zum ersten Mal hörte, war ich völlig weggeblasen, sie war so gut! Wir verabredeten, zusammen live zu spielen, weil wir gegenseitig voneinander profitieren konnten.“

LB: Gehen wir noch etwas weiter zurück, in die musikalische Kindheit. Heather Nova wuchs auf dem Segelboot mit der Plattensammlung ihrer Eltern auf – gab es in deiner Familie auch jemanden mit tollen Alben, die du gerne angehört hast?

AT: „Ich wuchs mit der Plattensammlung meines Vaters auf und war von den LP-Covern fasziniert. Ich nahm sie und verteilte sie auf dem Boden. Damals dachte ich lange Zeit, dass David Bowie eine Frau war! Ich liebte den Soundtrack-Song „Putting Out Fire With Gasoline“ (Anm. d. Red.: vom Film „Cat People“ 1982). Mein Vater nahm mich auch zu einem meiner ersten richtig großen Rockkonzerte mit: zu Europe, bevor sie berühmt wurden. Die Band stammt aus dem Norden von Stockholm und spielte in der lokalen Sportarena. Sänger Joey Tempest rannte auf der Bühne mit engen Lederhosen und langen Haaren herum und schleuderte das Mikrofon umher. Ich war damals sechs Jahre alt und eigentlich durfte ich da gar nicht rein. Ich war total begeistert – das war so groooß! Ja, mein Vater nahm mich auf viele Konzerte mit und er liebt Musik immer noch sehr. Vor einiger Zeit zeltete er sogar auf dem Roskilde Open Air Festival.“

LB: Lass uns zurückgehen zum neuen Album – und Deiner Stimme. Die ist ja logischerweise der Mittelpunkt Deiner Songs. Trainierst du deine Stimme, hat sie sich verändert?

AT: „Das freut mich, dass du das fragst, denn für das neue Album habe ich am meisten an meiner Stimme gearbeitet. Daneben wollte ich, dass die Platte zugänglicher klingt, einladender – die Arrangements wollte ich dabei unbedingt um die Stimme herum gestalten. Wir haben auch verschiedene Mikros ausprobiert, um die Songs besonders klingen zu lassen. Im Vergleich zu meinem ersten Album klingt meine Stimme nun viel ausdrucksstärker. Das kommt, glaube ich, von beiden: vom vielen Singen selbst. Und auf der anderen Seite ist die Stimme ja direkt mit deiner emotionalen Welt verbunden. Zwei Jahre lang zwischen 2011 und 2015 brachte ich keine neuen Songs heraus, das Schreiben fiel mir schwer, ich war blockiert. Das war eine harte Zeit zu singen, weil meine Stimme schwach klang.“

LB: Was war los…?

AT: „Naja, die Sachen, die einem im Leben halt passieren. Dinge werden manchmal kompliziert, und das wirkt sich auch auf die Stimme aus! Das ist das gleiche wie mit dem Klang der Instrumente bei Musikern – an der Art wie jemand spielt, kann man seinen Charakter erkennen, hält sich da jemand zurück oder macht einer auf Perfektionist oder legt er viel Passion ins Spiel. Grundsätzlich ändert sich natürlich die Stimme eines Menschen, wird in der Regel etwas dunkler. Es sagt sehr viel über das Seelenleben aus. Meine Stimme ist mein stärkstes Instrument!“

LB: Damit deine Stimme und die Instrumente über das Album zu Hause beim Hörer authentisch klingt, ist das Aufnahmestudio wichtig – wie war das bei A Space For A Lost Time?

AT: „In Los Angeles (unter anderem in den L.A. Sargent Recorders) verbrachte ich viel Zeit mit Tempo und Keyboards. Ich erkenne mehr und mehr, dass mit dem falschen Tempo ein Song implodieren kann. Es gab deshalb viel Detailarbeit; danach machten wir mit den Drums weiter, dann Gitarre und Stimme. Die Stimme überarbeitete ich separat. Mit dabei waren Eric Johnson als Co-Produzent, er spielt einiges auf dem Album, er ist ein wundervoller Gitarrenspieler. Andreas Dahlbäck bediente die Drums. In Stockholm ging es in Andreas Dahlbäcks Studio.“

LB: Im Herbst steht dann ein anderes, klassisches Teamwork auf dem Programm… mit dem Hamburger Kaiser Quartett…

AT: „Sie coverten einen meiner Songs, die Version mochte ich sehr. Daraus entstand die Idee, etwas zusammen zu unternehmen, was bestimmt Spaß machen würde. Es sah nach einem perfekten Mix aus.“

LB: Der Spaß findet in der Hamburger Elbphilharmonie statt…

AT: „In diesem sehr speziellen Ambiente aufzutreten ist unglaublich. Das Konzert findet am Tag meiner Album-Veröffentlichung am 20. September statt – und zwar nur dort und dann! Ich habe Erfahrungen mit Orchestern gesammelt, letztes Jahr spielte ich mit dem Stockholm Symphony Orchestra. Da liegt so viel Power drin in klassischer Musik! Ich fühle, dass das bestimmte Facetten meiner Songs herausarbeitet, das hat so viel Raum. Ich bin aufgeregt.“

LB: Tack s°a mycket Anna für das Gespräch!

Die Musik von Anna Ternheim:
Anna Ternheim A Space For Lost Time – das Album der Woche
Anna Ternheim All The Way To Rio – CD der KW 48

Autor: Claus Dick

Avatar-Foto
Musikfachmann seit Jahrzehnten, aber immer auch HiFi-Fan. Er findet zielsicher die best-klingenden Aufnahmen, die besten Remasterings und macht immer gern die Reportagen vor Ort.