Art-Pop-Balladen im Geiste des Jazz: Mit ihrem neunten Studiowerk eröffnet die englische Band Elbow eine Oase der Kontemplation und beglückt musikalische Feingeister mit einem stillen Juwel. Sanftmütiges mit Tiefgang – mit diesem Konzept erobert Elbow „Flying Dream 1“ die Position als Lowbeats Album der Woche.
Wie man den Unterschied zwischen Deutschland und England in Sachen Musikgeschmack erklärt? Vielleicht damit: Die Deutschen lieben Rea Garvey, die Briten Guy Garvey. Dieser Vergleich ist übrigens weder ironisch und schon gar nicht gehässig gemeint. Doch die Zahlen alleine sprechen eine deutliche Sprache. Der löwenzopfmähnige Ex-Reamonn-Frontmann wurde seit 1998 eben schlicht zum Lieblings-Iren der deutschen Musikfans, eroberte mit seinen Soloplatten die Plätze 4, 5, 2, 2 und zuletzt (mit „Hey Basil“) Platz 7 der LP-Hitparade, kann sich über sechsstellige Verkaufszahlen pro Album freuen – und über reichlich TV-Präsenz: kaum eine musikorientiertes Showformat, das ohne seine Mitwirkung über die Bühne geht. In England hingegen: keine einzige Albumplatzierung – nichts, nothing, nada. Und auch in seiner Heimat ist Rea Garvey ein eher unbeschriebenes Blatt.
Genau umgekehrt verhält sich die Sache hingegen bei seinem Namensvetter. Mit seiner Band Elbow verkauft Guy Garvey hierzulande einen Bruchteil dessen, was Kollege Rea an Tonträgern absetzt. Von acht Studioalben seit 2001 landeten drei erst gar nicht in den Charts; die anderen auf den Positionen 86, 50, 94, 22, 19 und zuletzt („Giant Of All Sizes“; 2018) auf 32. Und alle zusammen waren gerade mal zehn Wochen gelistet. In England dagegen: Gold- und Platinauszeichnungen für jedes einzelne Werk, gleich drei Mal Platin gar für den 2008er-Coup „The Seldom Seen Kid“ und aufaddiert insgesamt 280 Wochen Aufenthaltsdauer in der englischen Hitparaden.
Auch mit dem neuen Werk dürfte sich an diesen Verhältnissen kaum etwas ändern. Mehr noch: Elbow “Flying Dream 1“ dürfte auf dem europäischen Festland vielleicht sogar zurückkatapultieren in die Nische der „musician’s musicians“ oder der „Bands für Kenner“ Und lediglich bei einigen Plattenhändlern mit erlesenem Geschmack, Repertoire und Publikum (Grüße an Ratzer Records in Stuttgart, Hot Shot Records in Bremen oder City Music in Berlin) dürfte eine zweistellige Zahl an Alben über den Ladentisch wandern. Zu speziell, zu artifiziell, zu fein gewoben sind die zehn neuen Songs, und Radiopräsenz werden Elbow diesmal eher bei Nischensendern wie Deutschlandfunk Kultur erhalten als auf Hipster-Kanälen wie Flux FM oder EgoFM. Denn auch Freunde angelsächsisch Gitarrenmusik dürften auf dieses Album eher verhalten reagieren. Wer nach zünftigen Stompern für die Indie-Disco sucht (eine Disziplin, die Elbow durchaus auch beherrschen), wird hier jedenfalls vergeblich suchen.
Das mindert die Klasse und den Reiz dieses Albums freilich nicht im Geringsten. Die Qualitäten von „Flying Dream 1“ zu entdecken, erfordert allerdings Muse und Geduld, verlangt nach der Kunst des Zuhörens. Wer die aufzubringen bereit ist, wird ein Werk entdecken, in dem Substanz auf Eleganz trifft und Tiefgang auf Leichtigkeit und in dem Raffinesse ein minimalistisches Gewand bevorzugt, anstatt sich in Opulenz zu suhlen.
Auch diese zehn Songs sind wie viele andere aktuelle Alben das Ergebnis einer Pandemie-bedingten Isolation, eines Rückzugs auf sich selbst und auf das existenziell Wesentliche. Geschrieben hat die Band die Songs sozusagen gemeinsam allein – jeder Bandmitglied arbeitete während diverser Lockdown-Phasen solo für sich aus seinem jeweiligen Heimstudio. „Irgendwann bemerkten wir, dass wir gerade im Begriff waren, ein Album vollkommen jenseits der üblichen kreativen Leitplanken zu machen“, erläutert Guy Garvey das Ergebnis dieses Arbeitsprozesses. „Am Schluss mussten wir nur noch alles aufnehmen und ein paar Gastmusiker integrieren“ – und zwar im bezaubernden Theatre Royal im Seebad Brighton, einem viktorianischen Prachtbau aus dem Jahr 1807. Dort entstand dann unter Produktionsregie von Bandkeyboarder Craig Potter ein so kontemplatives wie konzentriertes Werk in der Tradition großer angelsächsischer Aufnahmen aus dem Genre „Zuhörmusik für Connaisseure“.
„Wir lieben geduldige, ruhige Alben, die einen ganzheitlichen Charakter haben – Sachen wie die letzten Platten von Talk Talk, John Martyns ‘Sold Air’ und ‘Bless the Weather’ von John Martyn. Oder PJ Harveys ‘Is This Desire’, ‘Chet Baker Sings’, ‘Hats’ von The Blue Nile, Kate Bushs ‘Hounds Of Love’ oder ‘Astral Weeks’ von Van Morrison“, erklärt Guy Garvey die Generallinie von „Flying Dream 1“. „Diese Musik zu komponieren war eine Herausforderung – aber auch eine Art Rettung für uns alle. Wir waren so glücklich, dass unsere Familie und Freunde sicher sind. Von dieser Liebe handelt das Album.”
Die Musik von Flying Dream 1
Von dieser Atmosphäre der Friedfertigkeit, Gelassenheit und eines stillen Optimismus künden schon Songtitel wie „Calm And Happy“ oder „After The Eclipse“ („Nach der Finsternis“). Doch diese Stimmungen skizzieren Elbow fernab jeglicher popmusikalischer Plakativität, sondern designten „Flying Dream 1“ aus der Perspektive einer Indieband als ein im Grunde balladeskes Jazzalbum. Man höre etwa „Calm And Happy“, in dem Schlagzeuger Richard Jupp einen vertrackten Groove klöppelt. Zart streichelt der Besen dazu das Becken und die Hi-Hat zischelt gemütlich. Fortan wird das Instrumentarium einer Gitarrenband immer wieder ergänzt durch Holzbläser, und statt eines E-Basses kommt oftmals ein Kontrabass zum Einsatz. Die melodientragenden Partien in den oft semiorchestralen Arrangements teilen sich dann meist ein Piano und sanfte Akustikgitarren. Und am Mikrofon bevorzugt Guy Garvey oftmals ein chansoneskes, sensibel-ausdrucksstarkes Falsett; kann aber auch rauromantisch klingen und erinnert dabei immer wieder an Peter Gabriel.
Exemplarisch für die thematisch und atmosphärisch sanftmütige und zurückgenommene Gangart von „Flying Dream 1“ steht „Six Words“ an Position 4 im Repertoire des rund 41-minütigen Programms: „I’m falling in love with you“ heißen die sechs zentralen Wörter dieser Komposition, die 5:07 auf einem minimalistisch schönen Pianothema förmlich aus den Lautsprechern schwebt.
Auch in „The Only Road“ geschieht nicht viel mehr, als dass ein Mann mittleren Alters über das Leben, das Universum und den ganzen Rest sinniert. Die Antwort bei Elbow heißt dann aber nicht 42, sondern liegt in einer wunderbaren Erkenntnis, die man von Herzen einem jeden Menschen wünschen würde: Noch nie sei er so sicher gewesen, dort, wo er sich augenblicklich befinde, am exakt richtigen Platz in seinem Leben zu sein, singt Garvey hier – und das genügt vollkommen für viereinhalb tief bewegende Minuten. Zum dritten Highlight eines durchgehend bezaubernd schönen Albums wurde „Come On, Blue“: Hier umwölken große Synthieschleifen eine entrückt vor sich hinträumende Ballade, ehe nach 1:57 ein wunderbarer Break mit einem federnden Rhythmus den Song Richtung Pop öffnet.
Komplettiert wird dieses Album durch weitere, zutiefst in sich ruhenden Pretiosen wie „Come On, Blue“, „Red Sky Baby“ oder dem finalen „What Am I Without You“ die dem Zustand des „zur Ruhe gekommen seins“ einen musikalischen Klang geben. Wofür er denn auf der Welt wäre, wenn nicht dafür, seinen Nachwuchs ins Bett zu bringen, singt Guy Garvey denn auch zum Abschluss dieses Albums. Nun, das ein oder andere mehr gibt es da natürlich schon noch, aber wenn man wählen müsste zwischen den Dingen: Dies wäre die tatsächlich erfüllendste aller Optionen und die Quintessenz der menschlichen Existenz.
Wer derlei Werte, Gedanken und Gefühle teilt, kann Guy Garvey und seiner Band nur danken für ein wunderbar altersweises Werk, dsa man am besten bei einem gut gereiften Single Malt aus der Speyside genießt. Alle anderen sollen derweil ruhig wieder mit dem anderen Garvey glücklich werden.
Mehr von Elbow: