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Hak Baker
Hak Baker durchpflügt auf seinem Debüt die gesamte musikalische Bandbreite des Londoner East End und macht seine eigene, fiktive Radiostation (Foto: N. Persaud)

Hak Baker „World’s End FM“: das Album der Woche

Ian Dury und die Specials hätten ihre Freude an ihm: Ähnlich wie der 2000 verstorbene Pionier des britischen Punks und die legendäre Ska-Formation um Terry Hall und Jerry Dammers bespielt auch Hak Baker seine ganz eigene Nische innerhalb der alternativen britischen Musikszene. Nun präsentiert der Songwriter aus dem Londoner East End sein Debüt Hak Baker World’s End FM“: ein Statement popkultureller Vielfalt und ein Ausrufezeichen in gesellschaftlich schwierigen Zeiten.

So mächtig als wäre er der Brahmaputra zur Regenzeit flutet der Mainstream in all seinen Erscheinungsformen derzeit die Musikszene. Beispiele gefällig? Gerne doch: Anfang- bis Mittfünfziger wie die Foo Fighters oder die Queens Of The Stone Age liefern bewährt-risikolosen Stadion-/Stoner-Rock für älter gewordene Erwachsene, Youngster wie Apache 207 bedienen die jüngere Klientel mit einem nach allen Seiten offenen, selbst für Gelegenheitshörer problemlos konsumierbaren Mix von Rap über HipHop bis Eurodance; dazwischen verspielen ehemals famose Gitarrenbands wie Coldplay den letzten Rest an popmusikalischer Relevanz.

Wenn sich aber der Mainstream immer mehr so ausbreitet wie der wasserreichste Strom Asiens, dann gehen die Nischen der Gegenkultur schweren Zeiten entgegen. Doch es gibt sie noch, die kleinen „gallischen Dörfer“ der Popkultur, die gesellschaftlichen Mikrokosmen, die wider den Stachel löken und den Kampf gegen Untergang, Anpassung und Bedeutungslosigkeit aufnehmen.

Eines der aktuell größten dieser Soziotope: das Londoner East End. Wie vital und nonkonformistisch es im noch nicht kaputt gentrifizierten, da seit Urzeiten systematisch vernachlässigten und entsprechend schmuddeligen Hinterhof, von Englands Hauptstadt zugeht, davon kündet derzeit auch Hak Baker. Schon seit Längerem im englischen Underground und mit Kollegen wie Mike Skinner aka The Streets, Indie-Ikone Jamie T oder Pete Doherty, der mental reichlich komplizierten, künstlerisch dafür umso bemerkenswerteren Ausnahmebegabung der britischen Post-Punk-/Indierockszene aktiv, präsentiert der 32-jährige Songwriter aus dem Stadtteil Isle Of Dogs nun sein Debüt.

Dafür erfand Baker nicht nur seinen eigenen fiktiven Radiokanal, den Piratensender „World’s End FM“, sondern auch gleich sein eigenes Genre. Mit seinem G-Folk, einem vogelwilden Potpourri aus Rock, Folk, HipHop, Ska, Reggae, Post-Punk und allem, was es so in den Straßen und Clubs seines Heimatbezirks zu hören gibt, sendet Hak Baker derzeit jedenfalls auf einer ziemlich eigenständigen Frequenz.

Dass der Brite mit jamaikanischen Wurzeln dabei nicht nur als Gute-Laune-Bär unterwegs ist, sondern den Zustand unserer Welt ziemlich präzise in den Fokus nimmt, davon kündet schon der Albumtitel. Den Alltagsrassismus der englischen Gesellschaft thematisiert Hak Baker auf „World’s End FM“ jedenfalls ebenso wie den Brexit- und social-media-Irrsinn oder den amoklaufender Kapitalismus unserer Tage. Ein Manifest der Tristesse wurde dieses 16 Tracks (darunter vier „radio snippets“) starke Programm allerdings nicht eine Sekunde lang. Quirlige Breakbeats, ruppig gegen den Strich gebürstete Gitarren und mal schunkelige, mal schön fette Reggaegrooves sorgen jedenfalls für einen hohen Anteil an Lebensfreude und Widerspenstigkeit. „DOOLALLY“ etwa funktioniert als rassiges von wieselflinken, einander stetig überholender Bass- und Gitarrenriffs, das nachfolgende „Windrush Baby“ segelt mit Flöte und Akustikgitarre-Perkussionfundament luftig tänzelnd im aktuellen Summerwind Of Change, „Bricks In The Wall“ öffnet sich Richtung Brit-Pop und „Run“ kombiniert Akustikgitarre mit einem jazzigen Bläserthema. Trotz des eher dystopischen Grundcharakters von „World’s End FM“ klingt das alles sommerlich beschwingt und kein bisschen hoffnungslos und summiert sich zu einem Soundmix, mit dem Hak Baker auch Fans aus anderen Kulturen und Genres anzieht, von Neo-Soul-Diva Celeste über die irischen Post-Punker Fontaines D.C. bis hin Slowthai, dem aktuellen Überflieger der britischen Rapszene. Und die etwas Älteren unter uns dürfen sich aufs Angenehmste an Vorgänger wie Ian Dury (und das keineswegs nur wegen dessen Cockney-Akzents) oder die Specials erinnert fühlen.

Doch natürlich hat das G-Folk-Universum von Hak Baker auch seine nachdenklichen Seiten, wie im finalen Songtrio „Dying To Live“, „Almost Lost London“ und „The End Of The World“. Und ab und an treffen auch beide Welten zusammen. Dann ringen Verletzbarkeit und Schwermut mit dem Willen zum Überleben und zum „jetzt erst recht“ – man nehme etwa das großartige „Run“, das balladesk beginnt, um sich mit perkussiver Gitarre und prägnanten Bläserparts zu einer unter die Haut gehenden Widerstandshymne emporwindet.

Hak Baker Cover
Hak Baker World’s End FM erscheint bei Hak Attack im Vertrieb von Membran/Bertus und ist erhältlich als CD, LP, Download und Stream (Cover: Qobuz)

 

Bewertung
Hak Baker „World’s End FM“
2023/06
Test-Ergebnis: 4,3
SEHR GUT
Bewertungen
Musik
Klang
Repertoirewert

Gesamt

 

Autor: Christof Hammer

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Seit vielen Jahrzehnten Musikredakteur mit dem Näschen für das Besondere, aber mit dem ausgewiesenen Schwerpunkt Elektro-Pop.