Die hochgezüchtete, vollverkleidete Yamaha-Rennsemmel schießt in dem Kurvengeschlängel an meinem Wagen vorbei. Es dauert keine drei Sekunden, bis in mir der alte Jagdinstinkt erwacht. Ich gebe beherzt Gas und positioniere mich – Twinscroll-Turbo sei Dank – in Lauerstellung für die nächste Biegung an seinem Auspuff. Und es dauert nicht mal zwei Sekunden, bis der Begrenzer auf dem Beifahrersitz mich mit entschiedenem Protest abrupt einbremst. Willkommen in der Realität! Es hat gut getan, mit meiner Freundin auf der Alb zu wandern, um den positiven Rallye-Stress der letzten drei Tage abperlen zu lassen, damit ich nach der Rückkehr von der Bodensee Klassik von meinem Trip im Volvo P 1800 ES ins Paralleluniversum herunterkomme. Aber was das Fahren betrifft, gibt es wahre Liebe offenbar eher unter Männern.
Wehleidig schwelge ich in den Erinnerungen an einen Volvo, während ich dem Motor mit der Eco-Pro-Taste eine Vollnarkose verpasse. Ich wünsche mir meinen Co-Piloten zurück, der wie ich selbst noch älter als der die letzten drei Tage geteilte Volvo P 1800 ES ist. Er testet bei der Stuttgarter Zeitung Autos, wenn er nicht gerade Sonderbeilagen strickt, heißt Reimund Abel und hat auf teils alpinen 600 Kilometern nie geschwächelt.
Stell dir eine perfekte Welt vor. Eine Welt, in der der Straßenrand nicht mit Luftmessstationen gespickt ist, sondern mit Menschen, die qualmenden, lärmenden Blechkarossen (die auch wirklich noch aus Blech bestehen) voller Verzückung zuwinken.
Eine Welt, in der dein Navi ganz leicht schwäbelt und nicht nur völlig analog den richtigen Weg aus dem Roadbook vorliest, sondern auch noch für angeregte Konversationen zwischen zwei Orientierungspunkten gut ist.
Eine Welt, in der dein Bizeps die Funktion eines gefühllosen Elektromotors in der Lenkung übernimmt. Eine Welt, in der knapp 130 PS so aufregend wie über 300 sein können. Wo du bei 90 einen Geschwindigkeitsrausch bekommst. Und wo Gebrauchsgegenstände nicht nach zehn Jahren achtlos für eine lächerliche Abwrackprämie auf den Schrott wandern, weil irgendeiner die Benutzung verboten hat oder du von der Idee beseelt bist, durch Konsum die Welt zu retten. Das ist die Welt der Bodensee Klassik.
Bei der Oldtimer-Rallye im Dreiländereck trafen sich zum siebten Mal Petrol-Heads aus aller Welt zu einem beschaulichen Kräftemessen, Defilieren und Konversieren. Man ist unter sich, die restliche Welt kommt allenfalls als entrückte Kulisse vor. Du begibst dich für drei Tage in eine Art Parallel-Universum und fühlst dich selbst Tage nach der Rückkehr wie ein Schiffbrüchiger, der auf einer Südseeinsel eine Zeitlang jenseits der Zivilisation mit den Segnungen der Digital-Technik und 360°-Grad-Venetzung verbracht hat. Manche würden dafür ins Kloster gehen.
Mein eigenes vernetztes High-Tech-Auto fühlte sich danach trotz Sportfahrwerk wie ein Raumgleiter an, der auf Magnetschienen über der Straße schwebt – nur nicht wie ein Automobil mit vier Rädern. Die ganzen Töne und Computerstimmen kommen dir mit einem Mal regelrecht surreal vor. Das ist nicht mehr nur ein bisschen Vintage-Lifestyle, mit dem man sich auf der Bodensee Klassik in Szene setzt. Es ist wirklich eine Reise in die Vergangenheit und sollte eigentlich für jeden Autotester gelegentlich Pflicht sein, um seinen inneren Horizont zu eichen.
Bodensee Klassik als allererste Rallye
Was Oldtimer-Rallyes betrifft, war ich bisher total hin- und hergerissen. Einerseits für einen wie mich Faszination pur, andererseits verband ich bisher immer so etwas wie Eierlauf oder nerdige Gesellschaftsspiele damit. Also schob ich trotz Zugriff auf einen Oldie in der eigenen Familie die Teilnahme bisher von einem Jahr aufs andere. Dann wurde ich aus heiterem Himmel von Volvo Classic gecastet. Werksteams setzen bei Oldtimerrallyes bevorzugt Rennfahrer, Schauspieler oder Journalisten ans Steuer ihrer rollenden Museumsstücke. Insofern musste die Wahl früher oder später auf mich fallen: Ich bin alles in einer Person.
Zwar reichte es seinerzeit nur für Laientheater vor 400 Leuten in der Stadthalle und mit der nach der Teilnahme an einigen Clubsportevents vor 15 Jahren autodidaktisch erworbenen C-Lizenz hab ich bisher offen gestanden nicht viel angefangen. Eigentlich teste ich Autos nur, wenn sie coole Anlagen von B&W, B&O, Burmester oder Harman an Bord haben. Aber einen Volvo P 1800 ES von 1973 auf einer prestigeträchtigen Rallye zu fahren, ohne sich mit dem ollen Transistorradio aufhalten zu müssen, war ein absolutes Highlight, das meine seit vielen Jahrzehnten im Dornröschenschlaf befindlichen Talente weckte.
Die Zeit vor der Bodensee Klassik 2018 überbrückte ich durch gelegentliches Studium der Materie. Den im deutschen Sprachraum als „Schneewittchensarg“ bekannten Klassiker von 1973 schaute ich mir bereits im März auf der diesjährigen Auflage der Stuttgarter Retro Classics genau an. Hat der Volvo P 1800 ES rundum schon Scheibenbremsen? Hat er hinten womöglich noch eine Starrachse? Und vor allem: Hat er schon richtige Sicherheitsgurte? Die Antwort lautete in allen drei Fällen ja. Zudem sah das für Baujahr 73 fortschrittliche Cockpit des Volvo P 1800 ES wirklich cool und sportlich aus. Daraufhin konnte ich den Start am Bregenzer Festspielhaus noch weniger erwarten.
Kaum im Hotel Germania in Bregenz eingetroffen, wurde die Spannung durch ein ganzes Rudel Rallyeautos zusätzlich angeheizt. Doch am meisten interessierte mich mein von Volvo Classic bereitgestellter Volvo P 1800 ES. Schließlich handelte es sich um ein Blinddate, ich kannte “mein” Rallye-Fahrzeug nur von einem Bild aus der Starterliste. (Den Beifahrer hatte ich kurz zuvor immerhin auf einem Kaffee in Stuttgart getroffen). Das Timing des ersten Treffens mit dem Volvo P 1800 ES am nächsten Morgen keine zwei Stunden vorm Start der Rallye steigerte die Spannung zusätzlich.
Blinddate mit einem Volvo P 1800 ES
Schön wie eine Märchen-Prinzessin war der eisblaue, gestreckte Volvo zweifellos. Doch auf den ersten Metern Rangieren auf dem Hof erwies er sich eher als böse Steve-Mutter. Die Kupplung kam so spät, dass ich erst mal dachte, der Gang sei nicht drin und obendrein den Motor aufheulen ließ. Am schlimmsten war die mechanische Lenkung mit dem riesigen Bakelit-Lenkrad, das einem fast im Schoss lag. Gerade beim langsamen Rückwärtsfahren fühlte ich mich wie an einem Sportgerät in der Muckibude.
Alle Schalter waren zudem kryptisch, will sagen, schwedisch beschriftet und die Handbremse, die ich regelmäßig zum Anfahren an der Schräge brauchte, saß wie im Aston Martin DBS links. Zudem konnte mir niemand wirklich sagen, wo ich den Choke finde, was nicht verwunderlich war, weil ich beim Blick unter die Haube feststellte, dass wir in unserem 73er-Schätzchen schon einen Einspritzmotor hatten. Das änderte aber nichts am ruckeligen Kaltlaufverhalten des Volvo P 1800 ES. Und nur einen Kilometer zur Eingewöhnung im Stadtverkehr. Das konnte ja heiter werden.
Am Start bestand die größte Herausforderung schließlich darin, nicht nur das einminütige Startfenster der vorgegebenen Startzeit genau zu treffen, sondern auch ohne Kavalierstart oder Ruckeln vom Hof zu fahren. Zwar klappte alles, doch Zeit zum Entspannen gab es nicht für uns. Direkt hinter dem Start wartete bereits die erste Wertungsprüfung (WP). Die Vorgabe: 20 Meter in 7 Sekunden und 0,02 Kilometer in 0,15 Min (man beachte die Rechenübung für den Co-Piloten). Wir erledigten die Übung in 7,17 respektive 10,5 Sekunden. 17 Hundertstel Abweichung im ersten Sektor waren vor allem für den Anfang ziemlich gut, 1,5 Sekunden in Abschnitt 2 ziemlich schlecht. Wir kassierten dafür insgesamt 167 Strafpunkte.
Nachdem diese Prüfung ohne peinliche Szenen überstanden war, wurde ich immer gelassener. Ich gewöhnte mich schnell an den Volvo P 1800 ES, ließ mich aber auf den ersten Metern verwinkelter Landstraße von einem im original Motorsport-Trim aufgebretzelten Simca 1000 Rallye 2 überholen. Immerhin hatten mir unsere beiden Jungs vom Service-Team vorm Start noch gesteckt, dass die vorne angeschlagenen Motorhauben für jedes Auto einzeln von Hand nach Maß eingepasst wurden und dass erst kürzlich ein Volvo P 1800 ES bei Bonhams für 92.400 Dollar den Besitzer wechselte.
Nach weiteren zehn Minuten war das Vertrauen in Bremsen und Fahrwerk so hoch, dass wir uns ohne Mühe unsere ursprüngliche Position hinter einem roten BMW 2002 Baur Cabriolet – er hatte eine höhere Startnummer, aber wir waren gleich nach der ersten Wertungsprüfung falsch abgebogen – zurückerobern konnten. Ja, der 2.0-Liter-Vierzylinder geht in einem rund 1100 Kilo leichten Sportwagen wirklich gut.
Das nutzbare Drehzahlband beginnt eigentlich erst bei 2.000 Touren, weil sich der Vierzylinder untenherum kräftig schüttelt und nach vielen Jahrzehnten auch noch zum Ruckeln neigt. Über 4.000 U/min wird er dann auch immer rauer, sodass man aus Respekt vor dem Alter hochschaltet. Zwar liegt die Nenndrehzahl bei 6.000 U/min, doch ein Sportmotor ist der Langhuber nicht. Der Volvo P 1800 ES performt besser, wenn du ihn ziehen statt drehen lässt. Nebenbei übernimmt er bei zügiger Fahrweise noch die Funktion von Massage-Sitzen.
Es dauerte nicht lange, da hatte ich meinen Fahrrhythmus von zwangsbeatmeten PS-Monstern mit Traktionskontrolle, adaptiven Fahrwerken, Multilenker-Leichtbau-Hinterachsen und variablem Allradantrieb auf Hinterradantrieb mit Starrachse rustikal umgestellt.
Auch der Verzicht auf ABS, ESP und Traktionskontrolle fällt, wenig erstaunlich, sehr leicht. Wenn ich Spaß haben will, deaktiviere ich die ganzen Nannies ohnehin so weit wie möglich. Ich fühlte mich pudelwohl. Und was fast noch wichtiger ist: Mein Beifahrer auch.
Reimund kam dank einiger Rallye-Erfahrung gut mit den Chinesen-Zeichen des Roadbooks zurecht. Teilweise konnte er sich sogar ausruhen, denn ich orientierte mich am roten Baur, der sich als Head-up-Display-Ersatz sehr gut bewährte. Alles hätte so schön im Flow bleiben können, wären da nicht immer diese Wertungsprüfungen dazwischen gekommen.
Bevor ich zum ersten Mal den Bugatti Veyron fuhr, hatte ich Respekt vor den 1.001 PS. Vor den Wertungsprüfungen der Bodensee Klassik hatte ich dagegen richtig Bammel. Zwar konnte bei dem Zeitlupensport etwa genauso viel passieren wie bei einem Fernschachturnier.
Aber Blamage ist für einen echten Heißsporn im Zweifel schlimmer als Knochenbrüche. Schließlich saßen wir in einem richtigen Werksauto und vertraten das Team Volvo Classic. Vor allem war mit Pressechef Michael Schweitzer eine bekannte Größe an Bord des Schwesterautos, der vom BILD-Autoexperten Roland Wildberg begleitet wurde. Schweitzer hat mit seinem feuerroten Schweden bereits zahlreiche Top-Platzierungen errungen und dem Vernehmen nach eine Rallye sogar gewonnen.
Die erste Wertungsprüfung hinterm Start am Festspielhaus fühlte sich überraschend einfach an. Sie war auch einfach im Vergleich zu dem, was folgte. Trotzdem verlor ich meine Scheu, die durch Bilder von Peilstäben oder Markierungen am Kotflügel oder breit im Netz diskutierten Abwägungen über die Unterschiede zwischen Lichtschrankenmessung und Druckschlauch geprägt wurde.
Irgendwie hatte ich ein ganz gutes Gefühl. Doch die Ergebnisse würden wir erst am Abend auf der Website von Autobild Klassik erfahren. Unser iPad mit der Chronomaster App von Autobild Klassik – eine Empfehlung von Altmeister Schweitzer, den ich ein paar Tage vor dem Start ausfragte – erwies sich schnell als perfekte Wahl. Für uns war es so wertvoll wie drei Extraleben an der Spieleconsole.
Am Abend schlug die Stunde der Wahrheit. Die Rallyeleitung der vom fünffachen deutschen Meister Peter Göbel organisierten Tour kündigte das Endergebnis der ersten Etappe durch das Allgäu auf der Website an.
Bis dato gab es nur drei Prioritäten: Auto samt Beifahrer in gleicher Verfassung wie vor dem Start abliefern, soviel Spaß wie möglich haben und auf keinen Fall Letzter werden. Allerdings hätte ich auf Punkt 3 im Zweifelsfall keinen Kasten Champagner wetten wollen.
Doch dann kam alles ganz anders. Die erste Tageswertung mit ihren vier Sonderprüfungen warf die Vorsätze gehörig über den Haufen. Als die Sonne über Bregenz unterging, gingen zwei neue Sterne am Rallye-Himmel auf.
Wir waren nicht nur nicht ganz hinten auf der Wertungsliste, wir hatten uns sogar auf einem komfortablen zweistelligen Rang innerhalb des 180 Teilnehmer großen Feldes etabliert. Mit Platz 89 hatten wir meine kühnsten Erwartungen übertroffen – dass Schweitzer auf Platz 47 vor uns lag, war keine Überraschung – und nebenbei einige Werksautos von Opel, Skoda und ZF hinter uns gelassen.
Wäre ich ein normaler Berichterstatter, würdest du jetzt die Floskel lesen: “Was will man mehr?” Bin ich aber nicht. Ich bin ein Adrenalin-Junkie mit 100 Oktan Super Plus in den Adern. Und du kennst auch noch nicht die ganze Geschichte.
Wir fanden uns in der Tabelle nur wenige Plätze hinter einem meiner Helden von einst: Tourenwagenlegende Joachim Winkelhock lag mit seinem Werks-Opel auf Rang 78 in Schlagdistanz. Wer schon mal Wettbewerbe gefahren ist, weiß, wie das wirkt.
Noch zwei Wochen vorher hatte ich einem Freund augenzwinkernd einen Screenshot von der Teamvorstellung von Winkelhocks schnittigen 1969er Opel GT mit dem Kommentar gesimst: Rüsselsheim reagiert, sie schicken Winkelhock;-)
Seite 1 Bodensee Klassik im Volvo: Vorgeschichte, Start, Tag 1
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