Es geschah vor ziemlich genau 40 Jahren: Der Autor dieser Zeilen drückte sich mal wieder an den Schaufenstern von Hannovers angesagtem High-End-Laden die Nase platt. Denn hinter der Scheibe stand ein ganz und gar außergewöhnlicher Lautsprecher: die pyramidenähnliche ESS AMT-1. Ich war zwar erst 16 Jahre alt, wusste aber schon damals, dass die Kombination von 30cm Bass plus Hochtöner äußerst ungewöhnlich ist. Und ich wusste, dass ich sie nicht bezahlen konnte, sie aber doch so gerne hätt….
Der Ladenbesitzer sah meine Zerrissenheit, holte mich herein und nach einem halbstündigen Hör-Diskurs durch den begeisterten Händler wusste ich, dass ich diesen Lautsprecher noch dringlicher haben wollte. In gewisser Weise hat diese halbe Stunde mit dem ESS AMT-1 sogar meine Erwartungshaltung an guten Klang geprägt. Damals hieß das: tiefer, satter, aber etwas wolkiger Bass, dezente Mitten, klare, aber forsche Höhen. Ich hatte schon damals einiges gehört, aber die Überlegenheit des ESS AMT-1 Hochtöners habe ich sofort verstanden. Und offenkundig viele andere auch: Denn dieser Lautsprecher wurde ja auch in Europa zu Hunderten verkauft – allerdings sieht man sie heute kaum noch. Womöglich fristen sie irgendwo ein trauriges Dasein im Keller.
In den Folgejahren experimentierte ich viel mit dem Hochtöner, doch die AMT-1 blieb ein unerfüllter Traum. Womöglich ganz gut so, denn man entwickelt sich ja doch weiter…
Nun, 40 Jahre später, begegnet mir die ESS AMT-1 wieder. Bei hifisound Münster in der Jüdefelderstraße 52. Ich schätze diesen sympathischen Laden seit vielen, vielen Jahren, weil hifisound Chef Raimund Saerbeck eine gute Mischung aus klassischem HiFi und Lautsprecher-Selbstbau lebt. Und in der Selbstbau-Sparte verkauft er schon lange den außergewöhnlichen ESS AMT-1 Hochtöner.
Obwohl schon reichlich in die Jahre gekommen (und obwohl in den letzten Jahren extrem viele, äußerst interessante AMTs auf den Markt kamen), zählt dieser Air Motion Transformer noch immer zu den besten seiner Art. Allein schon der wuchtige Aufbau, der ermöglicht, dass man ihn einfach auf die Box stellen kann; das stattliche Gewicht von 6,5 Kilo stellt sicher, dass er nicht herunterfällt. Aber auch das Dipol-Konzept, das enorme Dynamikverhalten und der hohe Wirkungsgrad (der oberhalb 95 dB angesiedelt werden darf) sowie der tiefe Einsatzpunkt (ab 1.500 Hertz) erheben diesen Hochtöner aus der Masse. Bei hifisound Münster gibt es das gute Stück für 399 Euro; eine Ersatzfolie (für den Ersatz nach Jahren) liegt bei 99 Euro pro Stück.
Aber nicht nur ihn. Saerbeck hat mittlerweile auch den 12 Zoll Tieftöner nebst passender 12 Zoll Passivmembran im Angebot. Man könnte sich also die ESS AMT-1 selbst bauen. Der Bausatz ohne Gehäuse liegt bei 1.200 Euro pro Stück.
Oder das gute Stück gar im Original erstehen. Die ESS AMT-1 ist als Limited Version von ESS Labs Made in USA ebenfalls bei hifisound Münster zu haben. Der Preis: knapp 5.000 Euro pro Paar.
Nun versteht Raimund Saerbeck einfach zu viel von Lautsprechern und nach dem ersten Reinhören befand er, dass der Klang der ESS AMT-1 Limited Edition womöglich dem Klang der 70er Jahre, aber keineswegs modernen Ansprüchen dieser Preisklasse entspricht – unabhängig von den Meriten des Hochtöners.
Denn selbst der klingt in der originalen AMT-1 ganz schön kernig; die Bässe dagegen viel zu weich. Also riskierte Saerbeck einen Blick ins Innere – und war erschüttert. Die Frequenzweiche war zwar – wie im Prospekt verkündet – handverdrahtet, aber auf eine Art und Weise, wie es schlimmer kaum sein kann.
Zudem stellte er fest, dass die AMT-1-Hochtöner der Serienboxen mal so oder mal so gepolt waren – mit zum Teil hässlichen Auswirkungen.
Also wurde Saerbeck aktiv. Zuerst ließ er alle Hochtöner durchmessen, um paarweise für die richtige Polarität zu sorgen. Dann ersetzte er das klapprige Anschlussterminal durch eines, das seinen Namen verdient: mit stabilen Anschlüssen und einem Hochton-Pegelregler. Und dann, das war der größte Schritt, ließ er eine zeitgemäße Frequenzweiche und eine Impedanz-Linearisierung entwickeln.
So klingt die ESS AMT-1
Ist beides eingebaut, klingt die ESS AMT-1 standesgemäß: Man hat die Substanz des 30 cm Basses und die Faszination des außergewöhnlichen Hochtöners, der durch die Impedanz-Linearisierung viel von der Härte in den Mitten verliert. Ebenfalls ein klangverbessernder Vorschlag ist die Anbringung eines Stück Schaumstoffs vor dem Hochtöner; das reduziert Reflektionen an der Schallwandkante.
Aber auch der Tausch der viel zu hochohmigen Spulen auf der Frequenzweiche brachte einiges an Präzision im Bass – der wolkige Tiefton ist ein Manko der ESS AMT-1, seitdem es sie gibt.
Nach den Umbauten mit der Weiche, der Impedanz-Linearisierung, dem Anschlussterminal und Schaumstoff vor dem Hochtöner misst sich die hifisound-Version der AMT-1 auch wirklich gut. Mit Ausnahme kleiner Unregelmäßigkeiten im oberen Bassbereich kann man die ESS als weitgehend ausgewogen bezeichnen:
Ich hatte die Gelegenheit, die so veränderte ESS AMT-1 recht lange zu hören und war am Ende durchaus beeindruckt, wie gut die hifisound-Restaurierung gelungen ist. Hören konnte ich mit und ohne Impedanz-Linearisierung. „Mit“ klingt es sehr viel gefälliger, letztendlich feiner.
Unterm Strich empfand ich den Umbau der originalen ESS AMT-1 Limited Edition zur hifisound-Version als ausgesprochen gelungen. Der satte Bass vermittelt immer noch das Gefühl der relaxten 70er Jahre, hat dabei aber ausreichend Struktur und Präzision, um auch bei modernem Pop oder Techno richtig Spaß zu machen. Die Mitten können bei einer solchen Kombination – sehr großer Bass plus Hochtöner – unmöglich die Qualität einer guten Dreiwege-Konstruktion mit ausgewiesenem Mitteltöner erreichen. Die aufgemöbelte ESS AMT-1 spielt in den Mitten sehr neutral und unaufgeregt, dafür aber im gesamten Bereich oberhalb 1.500 Hertz atemberaubend schnell, offen und dynamisch.
Und weil die ESS AMT-1 im Hochton ein Dipol ist, sind auch die Klangbilder großzügiger, weiter nach hinten ausgebaut. Der Hörtest-Klassiker “Love Over Gold” von den Dire Straights (Album: Love Over Gold), eine Aufnahme mit wunderbar aufpolierten Gitarrensaiten und Xylophon-Klängen kam herrlich fein, dynamisch, die Xylophon-Schläge hatten eine tolle Plastizität. Das machte wirklich viel Spaß.
Wo diese aufgefrischte AMT-1 überhaupt steht? Schwer zu sagen. Die Herkunft und die über 40-jährige klangliche Tradition wiegen schwer. Ich konnte die ESS im Vergleich zu einer fast gleichteuren Premium 701 von Piega hören – fraglos ein hochmoderner Lautsprecher. Doch der war keineswegs in allen Belangen überlegen. In Bezug auf Dynamik, maximaler Pegel, Bass-Tiefgang und plastische Darstellung würden wohl die meisten HiFi-Fans eher die eigenwillige, auf frisch getrimmte und daher auch erfreulich neutrale US-Ikone nehmen.
Fazit ESS AMT-1
hifisound Münster lässt die Faszination ESS AMT-1 wieder auferstehen. Im Laden selbst kann man das Original von ESS Labs erstehen. Wer schlau ist, lässt die High-End-Ikone mit neuer Weiche aufrüsten. Doch es eröffnen sich noch weitere Möglichkeiten, denn es müssten ja eigentlich hunderte dieser außergewöhnlichen Lautsprecher in Kellern oder Wohnzimmern der HiFi-Fans von früher geben. Wegwerfen wäre schade, eine Restaurierung auf hifisound-Niveau dagegen genau die richtige und angemessen würdige Entscheidung.
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