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Yann Tiersen Tempelhof
Yann Tiersen hat – in bester Tradition von Brian Eno – eine Musik für „Passangers“ aufgenommen, hier im alten Flughafen Tempelhof. Es ist eines von drei außergewöhnlichen Musik-Netzfunden unserer Ausgabe Vol.6

Musik im Netz Vol.6: Peter Gabriel, Jason Moran, Yann Tiersen

Die Covid-Pandemie hat viel bewegt: Auf einmal konnten sich Künstler nur noch im kleinen Umfeld darstellen und nutzten dafür mehr und mehr das World Wide Web als Plattform. Heute hat Covid-19 seinen Schrecken weitgehend verloren, aber das Web als Plattform blieb. LowBeats präsentiert deshalb regelmäßig neben audiophilen und künstlerisch wertvollen Musik-Tipps auf CD oder LP auch spannende, vielfältige Musikthemen, die online auf Musikfreunde warten. Das verspricht gleich ein mehrfaches Musikvergnügen – wie etliche Vorgänger-Geschichten zur Musik im Netz zeigten: Denn diese Highlights gibt’s so meistens nicht auf Tonträger, sondern in dieser Form nur im Netz, es ist fast immer ein Video hinterlegt und das Ganze ist auch noch gratis…

Natürlich bewerten wir diese Angebote mit dem VU-Meter von LowBeats. Bei jedem Tipp vergeben wir folgende Bewertungen: Musik/Bild/Klang/Fit für die Festplatte (im Sinne des Repertoirewerts) sowie eine Gesamtwertung. Also: Ab ins Netz!

Was bietet uns Musik im Netz Vol.6?

Zum Beispiel Peter Gabriel im musikalisch-planetaren Rausch: Der Ex-Genesis-Sänger launchte 2023 monatlich zum Vollmond neue Songs, dazu Live-Auftritte, neue Videos – und das neue Album ist nun auch raus

Oder Jason Moran: Ein provokanter Erneuerer des aktuellen Jazz am Piano: Der klassisch ausgebildete Amerikaner kommt mit einer virtuosen Session in der Hamburger Elbphilharmonie

Und auch noch Yann Tiersen im Piano-Elektro-Fieber: Der französische Piano-Pionier des Stilreichtums von Folk, Chanson bis bretonischer Minimal-Art erobert die akustische Welt der Elektronik

Peter Gabriel
Wollen die uns eigentlich in den Wahnsinn treiben? Nach Roger Waters und seinen zwanghaft wirkenden Remake-Ausflügen von „The Dark Side Of The Moon“, steigen die Rolling Stones aus der Rock-Gruft und servieren den seit Jahren in Selbstzitaten gefangenen Rollator-Rock. Der erstaunlich munter klingt.
Und dann legt uns Ex-Genesis-Sänger, formidabler Solo-Künstler und Nachwuchsförderer mit seinem Kreativ-Camp „Realword“, nun bereits seit Anfang des Jahres jeweils zum Vollmond einen neuen Song vor die Türe. Natürlich haben wir das registriert, mit Spannung angehört – und immer darauf gewartet, dass endlich das im Zuge des Zyklus diffus angekündigte Album komplett erscheinen möge. Das gibt’s jetzt, das opulente Box-Set folgt am 6. April 2024.

Der 73-Jährige hat mit seinem Vollmond-Song-Reigen beinahe eine neue Form der Musikveröffentlichung erfunden: Anstelle auf einen Schlag ein Album an einem Tag rauszuhauen, wirkt Gabriels schlaue Salamitaktik ein bisschen so wie früher die mehrteiligen Comics am Ende der Micky-Maus-Hefte: „Fortsetzung folgt…“ das macht neugierig.

Nun denn: „Was bisher geschah…“: Monatlich postete Peter Gabriel zu seinen Songs persönliche Erklärungen, Anekdoten, Motivationen. Dort und in seinen neuen Songs fokussiert er urmenschliche Themen, wie wollen wir leben, was treibt uns an, was ist eher Verachtens- oder hinterfragenswert, wo driften wir hin, quasi als philosophisch-musikalischer Mahner im Geiste Orwells & Co.

Ein paar seiner neuen YouTube-Videos ziehen einen beinahe magisch in ihren Bann: Technoide High-Tech-Inszenierungen wie zu „Panopticum“ oder zu „The Court“ schwelgen fast in düster-dystopischen Ausmalungen. Das fasziniert und rüttelt am Gemüt. Es gibt dabei teils mehrere Versionen. Smarter, liebevoller und zärtlich kommt das Video zu „Love Can Heal (Bright-Side Mix)“ daher, inszeniert von Aardman Animations mit Zeichnungen von Antony Micallef.

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Auch „Four Kinds of Horses“ oder „i/o“ sind super smoothe, typische Gabriel-Schmuse-Songs – übrigens mit seiner nach wie vor unerhört rauchzarten Stimme…

Bewertungbezieht sich auf beide Videos

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Jason Moran
Man kann es so sagen: Nach einer ganzen Handvoll virtuoser Alben schwingt sich der Pianist aus Texas allmählich in die Sphären von Jazzhelden wie Herbie Hancock oder Thelonious Monk auf. Der 48-Jährige kreiert seinen frischen Stil im Spannungsfeld eigener Kompositionen, Spieltechnik und finessenreicher Improvisationsgabe. Dabei versteht er sich nicht nur als klassisch ausgebildeter Pianist, sondern als Künstler im übergreifenden Sinne, betrachtet Architektur oder Malen als Quelle von musikalischen Ideen.

Drei Stücke umfasst die YouTube-Session. „Winds“ ist ein Stück, das die Zeit in Polen in den Fokus rückt, in der Musiker Jazz nur im Untergrund spielen konnten. „How Much More Terrible Was The Night“ hebt auf den Sturm auf das US-Capitol ab. Den Titel entlieh er einem Buch der afroamerikanischen Autorin Toni Morrison. „Ihre Bücher haben mich während der Pandemie geerdet. Ich musste nach der Wahrheit suchen – und fand sie in ihren Büchern.“ Das Stück „For Love“ beschließt die Session dreiteilige Session würdevoll.

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Die Hamburger Elbphilharmonie scheint für Jason Moran der angemessene, ästhetisch positiv aufgeladene Ort: „Musik spielt man nicht in einem Vakuum, man interagiert mit dem Raum, in dem man sich befindet. Es gibt kein anderes Gebäude wie dieses weltweit. Es fühlt sich sehr besonders an, hier zu spielen.“ Und das hört man.

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Yann Tiersen
Den bretonischen Komponisten und Pianisten kennen wohl viele – leider – nur indirekt: Yann Tiersen schrieb den Soundtrack zum wunderbaren Film „Die fabelhafte Welt der Amelie“. In dieser minimalistisch-mäandernd melodiösen Machart setzt er auch gern andere seiner Stücke um, wenngleich die vergangenen Jahre eher im Zeichen von experimentellen oder gar avantgardistischen Stücken stand.

Sein 21er Album „Kerber“ symbiotisiert jüngst mit dem Nachfolger „11 5 18 2 5 18“ mit einer Art KI aus „modularer Synthese und Sampling“ auf vier CDs. Das Klavier diente dabei laut Tiersen als Vorläufer für die kommende Elektronik-Art. Da schwingt Philip Glass oder Bryan Eno mit und Stücke wie „Lieber Honig“ schwärmen beispielsweise mit schwerelosen Klangbestäubungen, inklusive Techno-Basspumpen. Das erinnert aber auch etwas an seinen Landsmann, den Pianisten Didier Squiban sowie Ludovico Einaudi oder Hania Rani und an Jean-Michel Jarre.

Das Konzertvieo von ARTE zeigt den Bretonen in der Reihe „Passengers“ im ehemaligen Berliner Flughafen Tempelhof unter dem Motto „Music meets architecture“: Coole Nummer, wie der Mann der Tasten und Regler dort in musikalische Wallung gerät und sein Album „Kerber“ fokussiert. Ein berauschend-atmosphärisches Elektro-Event, bei dem ihn seine Frau Emilie teils begleitet.

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Das ist aber nicht alles. Mit seiner musikalischen Muse Emilie alias Quinquis inszeniert Yann noch mehr gemeinsame akustische Welten. Die stellte er im Sommer auf einer Tounee mit seinem Segelboot Ninnog von seinem Zuhause auf der Atlatnikinsel Quessant aus bis hoch zu den Färöer-Inseln vor. Coole Idee, um den  CO2-Ausstoß bei Tournee-Flügen zu reduzieren … (siehe Kurzvideo).

Die Bewertung bezieht sich aber auf das ARTE-Konzert auf „Passengers – unvergessliche Sessions an besonderen Orten, hier im alten Berliner Flughafen Tempelhof

Bewertung
Yann Tiersen „Passangers/Tempelhof“
2023/12
Test-Ergebnis: 4,3
SEHR GUT
Bewertungen
Musik
Klang
BIld
Fit For Festplatte

Gesamt

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Autor: Claus Dick

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Musikfachmann seit Jahrzehnten, aber immer auch HiFi-Fan. Er findet zielsicher die best-klingenden Aufnahmen, die besten Remasterings und macht immer gern die Reportagen vor Ort.